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Wiederholung und Variation
Es gibt nichts Neues unter der Sonne, heißt es. Seit jenem 27. Januar stelle ich mir oft vor, wir wären alle Noten in den Kompositionen eines Meisters – Noten, die unveränderlich, aber in immer anderen Variationen miteinander verbunden sind. Was, wenn der Unbekannte, den ich an jenem Abend traf, nicht verrückt gewesen wäre?
Ich war auf dem Nachhauseweg, in Gedanken noch ganz bei unserem Auftritt. Unser musikalisches Quartett hatte bis spät in die Nacht hinein gespielt. Wir hatten zu dieser Zeit viel zu tun, der Geburtstag Mozarts bescherte uns Auftritt um Auftritt. Der Abend hatte sich jedoch kaum von den anderen unterschieden. Es war uns nicht gelungen, mit den von mir komponierten Mozart-Variationen die vor uns sitzenden kunstbeflissenen Yuppies mitzureißen. Unterkühlt, gelangweilt saßen sie da, applaudierten höflich, als es an der Zeit war, hatten kein Interesse an Zugaben. Schließlich waren wohl alle erleichtert, als es vorbei war.
Es half nichts, sich noch etwas vorzumachen, der Funke wollte nicht überspringen. Aber warum?
Die Nacht war klar, ein eiskalter Wind blies und ich war froh, als ich am Nestroyplatz endlich in die beheizte U-Bahn einsteigen konnte. Die wenigen Fahrgäste im Abteil lasen in ihren Zeitungen oder dämmerten vor sich hin. Ich hätte gerne Musik Musik sein lassen und auch ein kleines Nickerchen gemacht, doch die bohrende Frage nach dem Warum ließ mir keine Ruhe – warum die leeren Gesichter, das Gähnen, die Blicke auf die Uhr, das Tuscheln. War Mozart aus der Mode? Oder unser Spiel so schlecht?
Mir gegenüber nahm ein junger Mann in teuer wirkenden Lederklamotten Platz.
Ein schmächtiger Jüngling, klein, fast schon ein Zwerg, mit übergroßem Kopf, der auf einem dünnen Hals thronte. Bleiche Haut, die Nase groß und breit, die Augen merkwürdig leer, die Lippen voll. Sein Gesicht kam mir bekannt vor. Er musterte mich.
„Ich war in Ihrem Konzert. Ihre Variationen – bemerkenswert, durchaus“, sagte er.
Jetzt erinnerte ich mich. Er hatte in einer der vorderen Reihen gesessen und war mir aufgefallen, weil er praktisch ununterbrochen mit seinen Händen in der Luft herumfuhrwerkte, als wollte er uns dirigieren. Auch jetzt konnte er seine Hände nicht stillhalten. Seine herablassende Art ärgerte mich. Bemerkenswert, durchaus – das klang so ganz und gar nach Mittelmäßigkeit. Dabei fand ich, dass meine Bearbeitungen sich zumindest phasenweise mit den Originalen des verehrten Meisters messen konnten, ihnen vielleicht sogar noch zusätzliche Glanzpunkte verliehen. Da gab es diese harmonischen Finessen und verwegenen Chromatizismen ...
„Danke sehr. Sie sind ein Mozart-Liebhaber?“, rang ich mir ab.
„Ja, kann man so sagen. Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen zu nahe trete, aber Mozarts Musik variieren zu wollen ist so ...“ Er zögerte, suchte nach den passenden Worten, „ ... als wollte man das Einmaleins variieren.“
„Ach ja? Sie scheinen ja ein Mozart-Experte zu sein“, sagte ich und hoffte, er würde den spöttischen Unterton bemerken. Dieser überhebliche Schnösel hatte mir gerade noch gefehlt.
Er hatte es wohl bemerkt und sagte: „Nichts für ungut. Es gab interessante Ansätze. Besonders in Ihrer Bearbeitung der Jupiter-Sinfonie steckt Potenzial. Passen Sie auf.“
Er suchte in seinen Taschen.
„Haben Sie zufällig was zum Schreiben?“
Ich fand einen Filzstift in meiner Jackentasche.
„Kein Papier? Na, macht nichts.“
Er nahm den Stift und begann kurzerhand Noten auf das Abteilfenster zu malen.
„Hier, zum Beispiel diese Stelle.“ Er summte vor sich hin, während er schrieb.
„Sehen Sie? Ab hier wiederholt sich‘s immer. Dabei ist es doch so einfach, etwas Brauchbares daraus zu machen.“
Seine Bewegungen wurden hektischer. Mit fliegender Hand schrieb er Note um Note.
Er murmelte, summte zwischendurch, schrieb weiter.
Fasziniert sah ich ihm zu, während die Noten in meinem Kopf zu Tönen wurden. Der Unbekannte komponierte und zwar genauso, wie ich mir immer gewünscht hatte, es zu können.
Nicht mühsam am Klavier klimpernd, jedem Ton nachlauschend, probierend, verwerfend, zweifelnd, sondern im Schaffensrausch. Da gab es kein Zögern, kein Nachdenken. Die Hand des Mannes – fast schien sie nicht schnell genug, den Strom der Ideen, der in diesem Moment durch sein Hirn fluten musste, auf die Scheibe zu bannen, die sich mehr und mehr mit Noten füllte. Und was für Noten. Das war Musik, so kristallklar und doch unergründlich in ihrer Schönheit, dass sie sich mir in die Seele brannte. Diese Musik kannte ich. So konnte nur einer komponieren. Das Wort eines Dirigenten kam mir in den Sinn: „Beethoven erreicht manchmal den Himmel, aber Mozart, der kommt von dort.“
„Wer ... wer sind Sie?“, stammelte ich.
„Nicht wahr, so ist’s besser“, lachte er und sein Gesicht strahlte. „Wer ich bin? Ist nicht wichtig.“
„Hören Sie, wollen Sie nicht mal bei uns vorbeikommen, wenn wir proben? Vielleicht können wir was von Ihnen einstudieren?“
„Warum nicht?“
Ich suchte erneut in meinen Taschen, fand nichts und schob ihm meinen Fahrschein hinüber.
„Wenn Sie mir Ihre Adresse und Telefonnummer notieren würden? Ich melde mich.“
„Na schön.“ Er schrieb und gab mir Schein und Stift zurück.
Dieser Namenszug. Das konnte nur ein Witz sein. Aber die Musik. Und das Gesicht. Jetzt wusste ich, weshalb es mir so bekannt vorkam.
„Ein merkwürdiger Scherz“, sagte ich. „Falls Sie es noch nicht wissen, Mozart ist tot. Und das schon ziemlich lange.“
„Der Tod ist nur eine Tür. Eine Tür zu einem anderen Leben.“
Ich sagte nichts und stöhnte innerlich auf. Das musste ich erst mal verdauen. Jetzt kam er mir also mit diesem stereotypen Reinkarnationsgerede. Ich hätte es wissen müssen. Ein verrückter Spinner. Außerdem hätte Mozart sicher Originelleres gesagt. Andererseits, die Grenzen zwischen Genie und Wahnsinn waren bekanntlich fließend. Da gab es diese göttliche Musik.
„Ihren Fahrschein bitte.“
Ich schreckte auf. Vor mir stand ein Kontrolleur und fixierte mich.
Benommen reichte ich ihm meinen Fahrschein.
„Was, bitte, ist das?“ Sein harscher Tonfall wirkte provozierend.
„Ein Fahrschein?“, rutschte es aus mir heraus.
Der Mann schüttelte den Kopf.
„Negativ. Das ist ein bekritzeltes Stück Papier.“
Ich weiß nicht, was in dem Moment über mich kam. Schließlich tat der Mann nur seine Arbeit, wie wir alle, aber ich musste mich irgendwie abreagieren, zuviel war in den letzten Minuten auf mich eingestürmt, also sagte ich:
„Was Sie dort auf dem Fahrschein sehen, ist kein Gekritzel, wie Sie es nennen. Es ist ein Autogramm von Mozart. Verstehen Sie? Von Mozart.“
„Sie Witzbold, damit kommen Sie nicht durch.“ Er zerknüllte den Schein.
„Aber sehen Sie doch. Da.“
Der Blick des Kontrolleurs folgte meinem Zeigefinger. Der Jüngling saß in seiner Ecke und machte sich ganz klein, kleiner, als er ohnehin schon war.
„Waren Sie das?“, fragte der Kontrolleur gefährlich leise. Aber er meinte nicht den Unbekannten. Hatte er ihn überhaupt bemerkt? Ich wurde mir plötzlich des Filzstiftes in meiner Hand bewusst.
„Was meinen Sie?“
„Die beschmierte Fensterscheibe da.“
„Das war auch ...“
„Mozart.“ Er nickte verständnisvoll und ich fand allmählich Gefallen an der Posse.
„Ja doch, ja. Es ist sein neuestes Werk. Da sitzt er doch.“
„Haben Sie das gemacht?“
Der junge Mann schüttelte energisch den Kopf und deutete auf mich.
„Der Typ da hat plötzlich seinen Stift genommen und wie ein Verrückter die Scheibe bemalt.“
„Ihren Fahrschein!“
Während ich ihn verdattert anstarrte, reichte er dem Mann sein Ticket. Der Schaffner brummte etwas, dann wandte er sich wieder mir zu.
„Okay. Ich werde Ihnen sagen, was wir tun. Wir werden an der nächsten Station zusammen aussteigen, zur Aufnahme Ihrer Personalien. Sie dürfen mit einer Anzeige wegen Vandalismus rechnen.“
Dürfen. Der Mann hatte tatsächlich „dürfen“ gesagt. Und Mozarts angebliche Reinkarnation? Die zuckte mit den Schultern, als wollte sie sagen, so ist das Leben. Meine Proteste nutzten nichts. Minuten später stand ich auf dem Bahnsteig. Das große Genie grinste mir zu, als der Zug den Bahnhof verließ. Da fuhr er hin, der geniale Komponist, mitsamt seinem nicht im Köchelverzeichnis stehenden Werk. Verrückt oder nicht – ich bewunderte ihn. Aber ich fühlte auch noch etwas anderes – Neid, ja zu meiner eigenen Überraschung mehr als das. Ich fühlte Hass. Reinen glühenden Hass. Hatte seinerzeit Salieri so empfunden, als er Mozarts Musik hörte? Ich wusste nun, der Funke, der nicht überspringen wollte, er hatte meinen Noten gefehlt, würde meinen Noten immer fehlen, jener göttliche Funke, den man Genie nennt. Mit meinen Kompositionen würde ich nie auch nur in die Nähe des Himmels kommen.