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Wiederkehr der Verlorenheit

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04.11.2006
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Wiederkehr der Verlorenheit

Ich könnte Walter umbringen und verschwinden lassen, eine bestechend einfache und endgültige Lösung. Warum war ich eigentlich nicht schon früher darauf gekommen? Zur Strafe würde ich sicherlich aus dem Paradies geworfen werden. Mein Einfall war eine Fahrkarte zur Hölle, die todsichere Garantie für einen Tapetenwechsel. Aber war das nicht genau, was ich wollte?

Ich erinnere mich daran, dass mir dieser Gedanke das erste Mal beim morgendlichen Zähneputzen gekommen war. Ein strubbeliges Wesen mit verschlafenen Augen stand mir im Badezimmerspiegel gegenüber und grinste halb zurechnungsfähig. Doch so wie damals mein halbreelles Dasein einen Liter Kaffee erforderte, um im Hier und Jetzt anzukommen, so bedurfte auch mein Mordplan weiterer Nachbearbeitung.

Zum Mord gehörte die Methode. Sie auszubrüten brauchte ich eine ordentliche Dosis Frischluft. Am gründlichsten nachdenken konnte ich immer dann, wenn ich mich bewegte: Joggen, Radfahren, einen Berg hochlaufen, Hauptsache weiterkommen, wechselnde Eindrücke vorbeiziehen lassen und dazu meine Musik hören.
Vielleicht hing Genialität ja mit Schweiß zusammen. Schwitzen als kreativer Prozess, der Katalysator für schwierige Probleme. Super! Die Idee würde irgendwann mal ein prima Einleitungskapitel für meine Memoiren abgeben.
"Im Alter von dreiundzwanzig Jahren fand ich heraus, wie sehr ich das klebrige Gefühl, den Salzgeschmack der eigenen Haut und vor allem den Geruch nach körperlicher Aktivität liebte."
Ein kleines, schmutziges Geheimnis, das ich irgendwann der Welt offenbaren würde. Durchgeknallt, oder?
Manchmal musste ich mich letzter Zeit über mich selbst wundern. Wo kamen alle diese seltsamen Gedanken her? Altersschwachsinn lag bei mir in der Familie. Aber ich werfe schon wieder alles durcheinander. Besser sollte ich dort beginnen, wo das Drama seinen Anfang hatte, nämlich in den Sommersemesterferien vor einem guten Jahr.

Meine erste Begegnung mit Albin von Trollingen begann wie eine Szene aus dem falschen Film: "Schweigen der Lämmer", zwanzig Jahre danach. Das Klischee war schlichtweg perfekt.
Ein vom Studentenservice vermitteltes Drittsemesterküken steht vor einer riesigen Villa und kramt unsicher einen Zettel heraus. Ich sehe nach, ob die Adresse in der Oberstadt tatsächlich stimmt. Danach sperre ich mein Fahrrad an einen gefängnisartigen Eisenzaun, zupfe mir die vom Fahrtwind verblasene Frisur zurecht und klingele.
Jodie Foster ist sichtlich gealtert, sieht mittlerweile richtig fies aus und hat sich in eine drachenartige Haushälterin verwandelt. Sie öffnet die Tür. Mit knappen Worten bittet sie mich ins Haus und lässt mich erst einmal eine Viertelstunde warten: auf den Herrn und Meister.
Während ich darüber grüble, ob sie von der weißen zur schwarzen Seite gewechselt hat, taucht der unverkennbare Herr des Hauses auf.
Anthony Hopkins ist etwas faltiger und grauer geworden, wirkt aber irgendwie freundlich und schüttelt mir kurz die Hand. Dann geleitet er mich persönlich in ein Arbeitszimmer.
"Kommunikationswissenschaften? Dann gehe ich mal davon aus, dass Sie des Lesens und Schreibens mächtig sind." Während er spricht, lächelt er, als sei es der Höhepunkt seines Tages, meine Leber in Rotweinsauce mit Thymian anzubraten.
Der Psychothriller flacht minutenschnell zu ödem Büroalltag ab. Meine Aufgabe besteht darin, mich durch schwarzweiße Reste der Trollingerschen Familiengeschichte zu scannen und zu kleben.
Siebzig Jahre Realsatire: Jagdszenen, Hochzeitsbilder, schneidige junge Männer in Uniform; teils unbekannte Soldaten, oder akkurat beschriftete Aufnahmen mit Namen, Kampfverband, Ort und Datum. In weiteren Kartons dann nahtlos Wirtschaftswunder, chemische Werke, hohe Kamine und verrußte Fabriken.
Der Clan besitzt Geld in Mengen, die mir unbegreiflich bleiben. Und die Villa in der Oberstadt scheint Zentrum all dieses Reichtums zu sein. Antiquitäten, Bilder, Porzellan. Wo bin ich nur hier hingeraten?
Aber irgendwie macht mir das Herumwühlen in fotografierten Absonderlichkeiten Spaß. Und offenbar erledige ich meinen Job gut, denn es gibt die Woche drauf weitere Büroarbeit für mich. Bis über die Semesterferien hinaus findet sich immer wieder ein Anlass, mich in die Villa zu locken. So lange, bis ich irgendwann Inventar geworden bin.

So hatte also alles angefangen. Als der letzte Karton geleert und keine Bilder mehr zu archivieren waren, bestand meine Aufgabe darin, dem alten Herrn Gesellschaft bei seinen Teestunden zu leisten.
Von da ab fuhr ich in die Villa, nur um zwei Stunden zwanglos zu plaudern. Eine angenehme Arbeit und ein Nebenverdienst, den ich alte Planerin schon bis zum Zeitpunkt meiner Abschlussprüfungen hochgerechnet hatte. Doch es sollte anders kommen.

Elena hatte wie üblich Tee und Gebäck hereingebracht. Der alte Mann legte sein Buch zur Seite und lächelte mich an. Es war sein unausgesprochenes "Kindchen, schön, dass du wieder da bist".
Die mittelalterliche Standuhr schlug dreimal. Das hölzerne Ungetüm in der Ecke diktierte den Takt des Hauses. Albin von Trollingen brauchte Regelmäßigkeit um sich herum. Da ich ebenfalls ein Bestandteil seiner Routine war, hatte er mich mit viel Geduld und Nachdruck zur Pünktlichkeit erzogen. Ich musste um Punkt drei Uhr im Salon erscheinen, so lange, bis fünf Schläge meinen Rausschmiss verkündeten. Dann war es an der Zeit, hinunter in mein miefiges Studentenwohnheim zu radeln.

"Was gibt es Neues von meinem Sohn?", fragte mich Herr von Trollingen, unmittelbar nachdem er mir kräftig die Hand gedrückt hatte.
"Er ist immer noch in Harare", antwortete ich. Die Neuigkeiten wollten fein dosiert sein, sie mussten für eine Woche lang reichen. "Es geht ihm gut. Und er will unbedingt eine Weile für 'Brot für die Welt' arbeiten."
"Ich habe ihm einen Brief geschrieben", sprach der alte Mann, während er mit spitzen Fingern die Teetasse hielt. "Wollen Sie wissen, was drin steht?"
Ich nickte. Genau so stellte ich mir meinen eigenen Großvater vor: Lockiges graues Haar, große gütige Augen, feine Manieren. Und vor allem Freundlichkeit und Geduld, unendlich viel Geduld.
Doch es blieb bei der Vorstellung, denn die Realität war auf einem Soldatenfriedhof in der Normandie verscharrt worden.

"Ich habe ihm klar gemacht, dass er endlich zurückkommen soll. Verantwortung übernehmen, eine Stelle in meinem Betrieb antreten."
Ich schluckte. Ob er mir den Brief geben würde, um ihn weiterzuleiten? In jedem Fall kochten sich hier Schwierigkeiten zusammen.
"Walter, hier in Ihrer Nähe? Meinen Sie, dass das gut geht?"
Ein Anflug von Traurigkeit huschte über das Gesicht des alten Herrn. Ich kannte diesen Blick allzu gut. Er sammelte sich die rechten Worte zusammen. Gleich würde etwas Bedeutungsvolles folgen.
"Jeder muss sich irgendwann einmal seiner Familiengeschichte stellen, Kindchen. Das gilt auch für Walter. Er kann nicht immer vor seiner Verantwortung davon laufen. Jeder hat seinen Platz im Leben, an den er hingehört", sprach er und deutete mit dem Zeigefinger auf mich. Ich nickte, und nahm mir vor, das als Hausaufgabe mitzunehmen.

Seine Worte verfolgten mich die halbe Woche. Sie schlichen sich morgens vor dem Badezimmerspiegel in mein Bewusstsein oder überfielen mich abends vor dem Einschlafen. Der "rechte Platz im Leben". Ich musste mir etwas einfallen lassen. Er wollte also den Sohn in seiner Nähe haben. Dieser alte Dickkopf. Walter, Walter und wieder Walter!
Ich versuchte mir vorzustellen, wie es dem Sohn des Patriarchen nun gehen mochte. Wie er dasaß, den Kopf mit den blonden Locken in die Hände gestützt, den zerknüllten Brief des Vaters auf den Boden geworfen. Er hatte große gütige Augen, eines der wenigen Merkmale, die er mit seinem Vater gemeinsam hatte. Aber in allen anderen Aspekten war er ein so anderer Mensch … Dass ich überhaupt Anteil an seinem Leben hatte, war das Werk eines boshaften Schicksals. Ich hatte es damals nicht darauf angelegt, mit einem verzogenen Großindustriellensöhnchen zu tun zu bekommen. Letztendlich habe ich mir wieder einmal alles selbst durch mein eigenes loses Mundwerk eingebrockt.

Es passierte ziemlich zu Anfang des Semesters. Damals war ich gerade von der Bildchen-ins-Album-Klebe-Tusse zur Simulantin für gepflegte Unterhaltung aufgestiegen und es fiel mir noch schwer, mich für unsere regelmäßige Plauderei bezahlen zu lassen. Es muss im letzten Herbst gewesen sein. Ich erinnere mich an vergessene Handschuhe, im Fahrtwind eiskalt durchgefrorene Finger und das Schlagen der Standuhr. Elena hatte Tee gebracht, als Albin von Trollingen eine Fotografie aus der Brusttasche zog und mir gab. Darauf war ein kleiner Junge zu sehen.
"Kindchen, das ist mein Sohn. Es wird Zeit, dass Sie ihn kennenlernen."
Ich nahm das Bild und murmelte sinngemäß:
"Das ist aber ein süßer Junge."
Dabei fiel mir auf, dass das Foto nicht aktuell war und dass wohl auch Trollinger etwas zu alt wäre für einen so kleinen Sohn, doch noch bevor ich den Gedanken weiterspinnen konnte, gab er die Antwort:
"Walter starb, bevor er acht wurde. Virale Meningitis."
Mir fiel die Kinnlade herunter. Jedenfalls begriff ich nichts und stammelte nur ein abwesendes:
"Herr von Trollingen, das tut mir Leid."
Er hob die Schultern. "Das ist nun gute zwanzig Jahre her", ergänzte er. "Die Zeit lässt einen über alles hinwegkommen. In einer Woche wäre sein Dreißigster. Stellen sie sich einfach vor, was heute aus ihm geworden wäre!"
"Auf dem Internat mit Ach und Krach das Abitur geschafft, danach ein BWL-Studium abgebrochen", antwortete ich. Es war mir einfach so herausgerutscht. Ich hatte ausgeplaudert, was ich mir gedacht hatte, ich Idiotin. Die Augen des alten Mannes weiteten sich, wanderten in die Ferne, gingen durch mich durch, blickten an einen Ort, der jenseits dieser Welt lag. Irgendwie musste ich etwas Schlimmes angestellt haben.
"Woher wissen sie das?", fragte von Trollingen. Immer noch sah er mich an, als wäre ich durchsichtig. Der Klang seiner Stimme ließ mir einen kalten Schauer den Rücken hinunterlaufen. Ich hob die Schultern und antwortete wahrheitsgemäß: "Keine Ahnung. Ich hab' es mir nur so vorgestellt … einfach so. Zwei meiner Freunde studieren BWL."

Das war er also gewesen, der Anfang vom Ende. Die Fortsetzung folgte am Dienstag die Woche danach. Ich hatte die Episode mit der Fotografie längst vergessen, als mich Albin von Trollingen gleich zu Anfang unseres Treffens überfiel:
"Kindchen, ich möchte Sie etwas bitten: Dass Sie sich eine Geschichte ausdenken. Sie soll mit einem achtjährigen Jungen beginnen."
Leider hatte er mir damals nicht gesagt, wie sie enden sollte.

Jeden Dienstagnachmittag war ich von nun an Walters Ersatzmami. Von der Gesellschafterin war ich zur Märchenerzählerin befördert worden. Eine Übung, die einfach war, solange ich die wilde Kindheit meiner beiden Cousins kopieren konnte. Walter wurde ein schwer erziehbares Kind. Und er zog Katastrophen an. Ich ließ ihn nachts aus dem Bett fallen und sich den Arm brechen. In der Autotüre des väterlichen Oldtimers klemmte er sich die Hand ein. Und er zündete das Gartenhäuschen an. Einfach so. Nachdem Elena seiner nicht mehr recht Herr wurde, beschlossen wir, ihn in ein nobles Internat zu stecken.

Die Lösung begeisterte mich zunächst, denn seinen Vater bekam er nur noch selten zu sehen, in den Ferien zum Beispiel. Ich hatte mir von Walters Rausschmiss aus dem Elternhaus erhofft, mein Geschichtenerzählerleben einfacher zu machen. Doch weit gefehlt, denn Herr von Trollingen liebte es, seine knappe Freizeit ausschließlich zusammen mit seinem Sohn an exklusiven Orten zu verbringen: Lago Maggiore, St. Moritz, später Davos und Südfrankreich.

Recherche, Ortsnamen, Ambiente. Mein Dienstagsjob begann auch während der Woche in Arbeit auszuarten. Ich verbrachte Stunden im Internet, um mir in der Villa keine sachlichen Schnitzer zu leisten. Doch der alte Herr ließ sich nicht lumpen und verstand es, mich bei Laune zu halten. In den Semesterferien bestand er Monate im Voraus darauf, dass ich mir zwei Wochen frei halten müsse. Doch anstelle der versprochenen Recherche-Tour auf das Ostpreussische Landgut der Familie, fuhren wir an den Lago Maggiore. Und an die Cote d'Azur, einfach so. Zur Belohnung für mich und zur Erinnerung an eine Vergangenheit, die aus meinem Kopf stammte.

Diese Reise mit ihm war das Schlimmste. Ihre Intensität machte mich fertig. Ich musste stundenlang kleine Anekdoten von mir geben. Es war nicht das Erzählen an sich, das mir schwer fiel. Mittlerweile hatte ich Übung bekommen, kleine Beobachtungen und Details aufzusammeln, Material, das ich aus dem Tagebau meiner Umgebung zusammenraffen und unmittelbar auftischen konnte. Die Frau mit den hochhackigen Schuhen, deren rechter Fuß beim Gehen ganz leicht nach innen knickte. Ihre Tochter, das Mädchen mit den großen Ohrringen, wurde Walters beste Freundin. Alles das ging leicht von der Hand. Ein schlicht gekochtes Ragout aus Versatzstücken meiner nächsten Umgebung. Ohne tieferen Sinn und ohne Perspektive.
Aber der Horror war die Folgerichtigkeit. Walter hatte mittlerweile einen Charakter entwickelt, Wesensarten, denen er in groben Zügen treu bleiben musste. Und er war ein Junge. Was anfangs einfach gewesen war, wurde kompliziert, sobald er in die Pubertät kam. Ich konnte nicht in die Mottenkiste meiner eigenen Kleinmädchenträume greifen. Es artete aus und fing an, mich unter Stress zu setzen.

Aber ich hielt das Spiel länger durch, als ich zu Anfang gedacht hatte. Sich auf mittlerem Niveau durchmogeln zu lernen, war eine Nebenwirkung des Studiums. Ja, eigentlich ging das alles erstaunlich gut, bis Walter mich selbst eines Tages altersmäßig überrundet hatte. Von da an musste ich eine Welt beschreiben, die nicht die meine war. Noch nicht.
Es war so anstrengend, wie 1000 Höhenmeter den Berg hochzujoggen, aber ich hielt durch. Anstatt das Handtuch zu schmeißen, ließ ich Walter vor seinem Vater fliehen und sein Studium abbrechen. Er rebellierte gegen die Autorität des wortgewaltigen Patriarchen. Ein Ausweg mit Nebenwirkungen, wie sich bald zeigen sollte.
Albin von Trollingen trug schwer am Verhalten seines imaginären Sohns. So sehr, dass ich ein schlechtes Gewissen bekam, wenn ich beim Erzählen in seine traurigen Augen schauen musste. Ich hatte angefangen, den alten Mann zu mögen. Alle seine Schrulligkeiten machten ihn irgendwie sympathisch. Jedenfalls fand ich ihn so nett, dass ich ihn nicht leiden sehen konnte. Ein Privatdetektiv konnte Walter schließlich in Afrika aufspüren. Und ihm die Botschaft mitgeben: "Komm nach Hause, mein Sohn!" Ob er dem Ruf folgen würde, blieb zunächst offen und beschäftigte uns mehrere Wochen.

Dann erreichte unser Spiel schließlich die nächste Eskalationsstufe: Von Trollingen hatte mir den Brief in die Hand gedrückt. Sieben akribisch handbeschriebene Seiten, geschliffene Kalligraphie des enttäuschten Vaters. Das war eine neue Qualität, der berühmte Tropfen ins randvolle Fass eben.
Nun musste etwas passieren.

Ich strampelte von der Uni zum Wohnheim, nahm nicht den kürzesten Weg, sondern baute einige Hügel ein, um warm zu werden und die Puzzlestücke in meinem Kopf zu ordnen. Entscheidungen waren nicht meine Stärke. Selbst körperliche Aktivität half da nur manchmal. Selbstmord? Nein, das konnte ich Großvater Albin nicht antun. Der arme Mann würde unendliche Schuldgefühle entwickeln und sich für den Tod seines Sohnes verantwortlich fühlen. Oder doch? Der verlorene Sohn kommt heim und hat einen furchtbaren Streit mit seinem Vater. Er erschleicht sich den Schlüssel zum Waffenschrank und bläst sich in einem unbeobachteten Moment die Rübe weg. Lieber ein Ende mit dem väterlichen Jagdgewehr, als ein Schrecken ohne Ende? Nein, das ging nicht.

Im Gewühl meiner Gefühle versuchte ich zu verstehen, wonach ich eigentlich suchte. Ein Abschluss musste her, ein Ende. Und zwar eines, mit dem alle leben konnten. Und schließlich hatte ich die zündende Idee: Es musste mir gelingen, den Kreis zu schließen. Der Schlüssel war das achtjährige Kind, der "echte" Walter, so wie ich ihn auf der Fotografie gesehen hatte.

Des Dramas letzter Akt; die Standuhr hatte dreimal geschlagen. Elena hatte die Kekse abgestellt und sich diskret zurückgezogen. Es war Zeit für meinen letzten Auftritt.
"Ist mein Sohn angekommen?", fragte mich der alte Mann, wobei seine Frage müde klang, als sei er es mittlerweile Leid, sie Woche um Woche wieder zu stellen.
"Ja", antwortete ich, "er ist auf dem Heimweg, allerdings nicht freiwillig."
"War ich zu streng mit ihm?"
Die Ringe unter den Augen des alten Mannes schienen dunkler zu sein als sonst und seine Stimme kam mir schleppend vor.
"Das weiß ich nicht. Jedenfalls müssen Sie nun sehr tapfer sein."
Zwei müde Augen trafen mich, drangen durch mich hindurch, sprachen ein lautloses, resignierendes: "Dann ist es also so weit."
Ich nickte. "Afrikanische Trypanosomiase, Schlafkrankheit", fuhr ich fort, an meine Freundin Wikipedia denkend, "Sie wissen, was das bedeutet?"
"Nein, aber das werden Sie mir sicher die nächsten Wochen haarklein erzählen."
Ich nickte und dachte dabei unwillkürlich an den ungepflegt wirkenden Medizinstudenten vom Zimmer nebenan in meinem Wohnheim. Zum Schrecken des Endes würde also gehören, mich mit ihm auf Geruchsdistanz zu unterhalten und mir erklären zu lassen, wie das genau funktioniert, wenn das Nervensystem zerfällt und nur noch eine geistig umnachtete, sabbernde Hülle übrig bleibt. Ein erwachsener Körper mit den geistigen Fähigkeiten eines Achtjährigen.
"Dann werde ich wohl meinen Sohn endgültig verlieren", fügte der alte Mann traurig hinzu, um mit seinen Augen zu den meinen zurückzukehren. "Aber habe ich denn nicht im Laufe der Zeit eine Tochter hinzugewonnen?"
Ich schluckte. Eine Tochter? Was war hier zum Teufel schon wieder schief gegangen?

 

Hallo auch!

Ich muss sagen, dass mir die Geschichte überraschend gut gefällt! Der erste Satz hätte mich beinahe abgeschreckt, ich argwöhnte eine betrogene Ehefrau oder Geliebte, eben das übliche mordlüsterne Pack :-), welches sich hier gelegentlich versammelt. Doch je tiefer ich eintauchte in die KG, desto mehr nahm ihre Idee mich gefangen und ich las freudig weiter bis zum Ende.
Das allerdings hat mich etwas ratlos zurückgelassen, es streut ein bisschen zuviel Zucker in feinst abgestimmte, wunderbar quietschesaure Limonade.

Mir gefällt dein Umgang mit der Sprache, wie du ungewohnte wendungen suchst und findest, wie der Witz zwischendurch aufblitzt ohne alles ins Lächerliche zu zerren.
Ein bisschen "Wer hat Angst vor Virginia Woolf", nur auf leichteren Füßen. Sehr schön!
Textktram:

Doch so wie damals mein halbreelles Dasein einen halben Liter Kaffee erforderte,
Bisschen umständlich und zweimal "halb"

Sie auszubrüten war das beste Mittel eine ordentliche Dosis Frischluft.
Bisschen holprig, stolprig.

Am gründlichsten nachdenken konnte ich immer dann,
Ist das jetzt nicht mehr so?

Hauptsache nicht stehen bleiben, wechselnde Eindrücke vorbeiziehen lassen und dazu meine Musik hören.
Führt in die Irre, weil man das "nicht" auch auf den folgenden Satzteil überträgt.

Viertelstunde warten: Auf den Herrn und Meister.
auf

Doch, es sollte anders kommen.
ohne Komma


Jedenfalls begriff ich Nichts und stammelte
nichts

mich mit ihm aus Geruchsdistanz zu unterhalten
auf

 

Hallo Nikita,

das ging ja rasend ... vielen Dank für Deine Anmerkungen, sind zu 90% eingearbeitet.

Tja, meine Problemstellen sind eigentlich immer Titel und Ende ... wobei sich in obigem Beispiel der Zucker meiner Meinung nach in Grenzen hält und bewusst am Ende dorthin gestreut wird, wo er nicht hingehört ...

Mit der Geschichte selbst geht eine jahrelange Überarbeitungshistorie zu Ende, ich hatte irgendwie das Gefühl sie einfach nicht länger Abhängen zu können, ohne komplett daran zu verzweifeln. Danke für Deine aufmunternden Worte.

Lieben Gruß,

AE

 

allo AE,

deine story ist spannend zu lesen. du hast es geschafft, mich als leser mitzunehmen, indem du mit der beantwortung einer offenen frage automatisch ein paar weitere fragen präsentieren konntest.

schade, dass die feinarbeit noch nicht abgeschlossen ist, z.B.

Ich erinnere mich daran, dass mir dieser Gedanke das erste Mal beim morgendlichen Zähneputzen gekommen war.
- und ob die zeitenfolge stimmt, bin ich mir nicht ganz sicher.

Manchmal musste ich mich in letzter Zeit über mich selbst wundern. Woher kamen alle diese seltsamen Gedanken her?

Aber ansonsten hat mir die geschichte wirklich gut gefallen!

ernst

 

Hallo Monty,

herzlichen Dank für deine lobenden Worte. Schön, dass Du die Scheherazade Anspielung entdeckt hast ... war tatsächlich eine der Urintentionen, als ich mit dieser Geschichte angefangen habe ... und sie dann ihr Eigenleben entwickelt hat.



Hallo Ernst Clemens,

schön dass es Dich auch noch hier gibt ... ist ja fast wie in alten Zeiten *romantisch-an-früher-zurückschnifz* Danke für deine aufmunternden Worte und die beiden Kleinigkeiten.


LG,

AE

 

Hallo Alter Ego,

sie ist noch nicht perfekt, aber ich möchte sie dennoch in die Empfehlungen geben. Tolle Geschichte!

Spannend geschrieben, überraschende Momente enthaltend und immer wieder taucht ganz wuchtig diese intensive Beziehung zwischen den beiden Personen auf.
Das Thema ist wunderbar gelungen mit viel Tiefe und Nachhall. Und deswegen die Empfehlung.

Unfertig empfinde ich noch folgendes:

Mit dem Titel bin ich irgendwie nicht d'accord. Hab aber im Moment nichts Zündendes. Melde mich, falls mich ein Blitz trifft. Mir fiele nur ein Titelklau ein, nämlich "Wahlverwandtschaften".

Sodann empfinde ich die Übergänge unrund. Bis die Geschichte sich nur noch um die Protagonistin und den Herrn dreht, kommt es mir so vor als hättest du die Geschichte zweimal neu begonnen. Vielleicht gelingt dir ein besseres Verweben.

Unlogisch erscheint mir, dass man gemeinsame Reisen macht. Das ist zu nah dran , zu intim, oder anders gesagt, es kommt zu selbstverständlich und unerwartet, dabei ist es ja etwas Ungewöhnliches. Das sollte vielleicht besser eingebettet werden.

Dann schreibst du am Ende zweimal nur "der alte Mann". Vorher hatte er noch einen achtenswerten Namen, jetzt wird er so namenlos austauschbar und beliebig. Das gefällt mir deswegen nicht, weil deine Protagonistin doch gerade in der ganzen Zeit mehr Herz für ihn entwickeln konnte. Würde sie da einfach nur vom alten Mann reden?


Das Ende ist mir zu abrupt. Grad der letzte Satz klingt so als hättest du die ganze Geschichte auf diese Pointe hin gearbeitet. Das wirkt für unpassend, weil der Gehalt der Geschichte garantiert nicht in der Überraschung deiner Protagonistin a Ende der Geschichte zu finden ist. Ich würde den letzten Satz auf jeden Fall streichen. Vielleicht sogar auch den davor. Vielleicht schluckt sie nur? Und den Rest denkt sich der Leser selbst?

Ok, das war's mit meinen Anmerkungen. Ich bin mir sicher, dass die Geschichte, solltest du keinen der Punkte erledigen, trotzdem noch faszinierend gut gelungen ist.

Lieben Gruß
lakita

P.S. willkommen zurück ! :)

 
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Schön, dich wieder mal zu lesen, AlterEgo,

und du tischst einen tiefgehenden, interessanten Plot auf. Trotzdem erst mal trockene Textarbeit:

Danach sperre ich mein Fahrrad an einen gefängnisartigen Eisenzaun, zupfe mir die vom Fahrtwind verblasene Frisur zu Recht und klingele.
... Frisur zurecht und ...


Anthony Hopkins ist etwas faltiger und grauer geworden aber wirkt irgendwie freundlich und schüttelt mir kurz die Hand.
geworden, aber

"Kommunikationswissenschaften? Dann gehe ich mal davon aus, dass sie des Lesens und Schreibens mächtig sind", während er spricht, lächelt er als sei es der Höhepunkt seines Tages, meine Leber in Rotweinsauce mit Thymian anzubraten.
... mächtig sind." Während er spricht, lächelt er, als sei
Siebzig Jahre Realsatire: Jagdszenen, Hochzeitsbilder, schneidige junge Männer in Uniform, teils unbekannte Soldaten, oder akkurat beschriftete Aufnahmen mit Namen, Kampfverband, Ort und Datum.
... in Uniform; teils unbekannte Soldaten oder akkurat ...
Der Klan besitzt Geld in Mengen, die mir unbegreiflich bleiben.
Clan
Wo bin ich nur hier hingeraten? Auf den Gipfel der Spießigkeit, scheint es mir.

In dem Text tauchen öfters solche rhetorischen Fragen auf, die auch noch spießig Antwort geben. Diese Fragen inklusive Antworten würde ich restlos streichen. Das dekradiert den Leser, der das selber schon merkt, wie sich die Prota fühlt.


Es passierte ziemlich zu Anfang des Semesters. Damals war ich gerade von der Bildchen-ins-Album-Klebe-Tusse zur Simulatin für gepflegte Unterhaltung aufgestiegen und es fiel mir noch schwer, mich für unsere regelmäßige Plauderei bezahlen zu lassen.
Die Tussi mißfällt mir in dem übrigen Jargon der Erzählerin.

Drauf war ein kleiner Junge zu sehen.

Ist das Absicht mit dem drauf statt darauf? Habe ich weiter oben auch schon mal gesehen und als Umgangssprache gewertet. Hier aber finde ich, paßt es nicht.

Mittlerweile hatte ich Übung bekommen kleine Beobachtungen und Details aufzusammeln, Material, das ich aus dem Tagebau meiner Umgebung zusammenraffen und unmittelbar auftischen konnte.
... bekommen, kleine Beobachtungen ...

Ihre Tochter, das Mädchen mit den großen Ohrringen wurde Walters beste Freundin.
Ohrringen, wurde

Aber der Horror war die Folgerichtigkeit. Walter hatte mittlerweile einen Charakter entwickelt, Wesensarten denen er in groben Zügen treu bleiben musste.
Wesensarten, denen er

Es war so anstrengend, wie 1000 Höhenmeter den Berg hochjoggen, aber ich hielt durch.
1. hochzujoggen
2. fände ich ein emotionales Vergleichbild besser als das mit dem Sport


Albin von Trollingen trug schwer am Verhalten seines virtuellen Sohns.
imaginären statt virtuellen


Ich schluckte. Eine Tochter? Was war hier zum Teufel schon wieder schief gegangen?
Das würde ich streichen. Das Ende wäre viel souveräner.


Manchmal hatte ich mit der Idendität der Sprache der Protagonistin zu kämpfen. Diese schien mir die KG durch nicht ganz homogen zu sein und das schmälert den Gesamteindruck erheblich, lies dahingehend den Text doch mal durch und frage dich, wo es passt und wo nicht.

Elena kam mir auch nicht stringent beschrieben vor: Anfangs war sie ein Drachen und dann hat sie immer nur dezent den Tee gebracht. Ein Drachen sollte auch mal fauchen ;)

Der Titel: Zuviel Abstraktion für meinen Geschmack. Wie wäre es mit sowas wie: Im falschen Leben oder Kann der nie loslassen? oder Worte hauchen Leben ein oder Worte täuschen Leben vor oder Ich könnte Walter umbringen?

Von diesen Kritikpunkten abgesehen ist die Idee zur Geschichte wirklich zu loben. Aber ich habe fast das Gefühl, du hast da schon zu lange dran rumgeschrieben. Wie auch lakita schrieb, ist sie noch nicht ganz rund. Ich bin noch am hirnen, wieso ich das auch so empfinde.

Trotz alledem eine sehr gute Arbeit, die aber noch mehr glänzen könnte, wenn man sie polieren würde.

Liebe Grüße
bernadette

 

Hallo AlterEgo!

Nach längerer Zeit eine Geschichte hier, bei der ich irgendwann vergessen habe, dass ich lese - Toll!
Auf Kleinigkeiten wie "auf ein Internat stecken" (in) gehe ich nicht weiter ein, bin mir sicher, die wirst du mit der Zeit ausbügeln und Grobes fällt mir nicht auf, bzw. außer einer Sache, die man auch unter 'Geschmacksfrage' einordnen kann: Der Schluss. Er lässt zwar offen, wie es weitergeht, ist aber dennoch ziemlich eindeutig und weist in Richtung happy-end. Was ja nicht verboten ist, ist mir nur sprachlich ein zu klarer Hinweis: "Tochter gewonnen".
An sich jedoch sehr gern gelesen und ich gratuliere zur verdienten Empfehlung!

Gruß
Kasimir

 
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Hallo AlterEgo!

Also ich finde die Geschichte jetzt nicht so berauschend, weder vom Stil noch vom Inhalt her, es wird ein Spannungsmoment aufgebaut, das dann überhaupt nicht eingelöst wird, es wird so getan, als ob es ein Thriller wird, und dann ist es doch nur eine rührselige Geschichte um einen alten, einsamen Herrn. Der Plot wird durch die komplizierten Rückblenden interessanter gemacht, als er eigentlich ist, über weite Strecken wird nur zusammengefasst erzählt, dargestellt wird wenig.


Ich könnte Walter umbringen und verschwinden lassen, eine bestechend einfache und endgültige Lösung. Warum war ich eigentlich nicht schon früher darauf gekommen? Zur Strafe würde ich sicherlich aus dem Paradies geworfen werden. Mein Einfall war eine Fahrkarte zur Hölle, die todsichere Garantie für einen Tapetenwechsel. Aber war das nicht genau, was ich wollte?
Ich mag das nicht, wenn ich als Leser auf eine falsche Fährte gelockt werde, außer in einem Krimi. "Fahrkarte zur Hölle" find ich sehr übertrieben, wenn ich mir die restliche, doch eher harmlose Geschichte ansehe. In diesem ersten Absatz wird eine Geschichte vorbereitet, die dann gar nicht kommt.
Ein strubbeliges Wesen mit verschlafenen Augen stand mir im Badezimmerspiegel gegenüber
dann müssten da tatsächlich ZWEI Leute im Spiegel zu sehen sein
"Im Alter von dreiundzwanzig Jahren fand ich heraus, wie sehr ich das klebrige Gefühl, den Salzgeschmack der eigenen Haut und vor allem den Geruch nach körperlicher Aktivität liebte."
Ein kleines, schmutziges Geheimnis, das ich irgendwann der Welt offenbaren würde. Durchgeknallt, oder?
Nicht wirklich, das ist nicht das, was ich mir unter einem "schmutzigen Geheimnis" vorstelle, Stellen wie diese sollen die Geschichte interessanter machen, als sie eigentlich ist.
zupfe mir die vom Fahrtwind verblasene Frisur zu Recht
zurecht
Anthony Hopkins ist etwas faltiger und grauer geworden aber wirkt irgendwie freundlich
Komma und Satzstellung: geworden, wirkt aber irgendwie ...
Dann geleitet er mich persönlich in ein Arbeitszimmer
wie auch anders - "persönlich" streichen, den Vergleich zum "Schweigen der Lämmer" seh ich nicht ganz ein, denn es gibt absolut keine Parallelen, es werden zumindest keine angeführt. Es soll halt mit aller Macht die thrillerartige Stimmung aufrecht erhalten bleiben.
Dann gehe ich mal davon aus, dass sie des Lesens und Schreibens mächtig sind", während er spricht, lächelt er als sei es der Höhepunkt seines Tages,
groß: Sie, Komma: lächelt er, als sei ...
der Trollingerschen Familiengeschichte zu scannen und kleben
zu kleben
Es war sein in unausgesprochenes "Kindchen, schön, dass du wieder da bist".
"in" gehört weg, oder?
Was gibt es neues von meinem Sohn?",
groß: Neues
sie mussten für eine Woche lang zu reichen
"zu" weg
Er kann nicht immer vor seiner Verantwortung davon laufen
zusammen: davonlaufen
und deute mit dem Zeigefinger auf mich.
deutete
Er hatte große gütige Augen, eine der wenigen Gemeinsamkeiten, die er von seinem Vater mitbekommen hatte
er hat keine Gemeinsamkeiten mitbekommen, sondern körperliche Merkmale
war ich gerade von der Bildchen-ins-Album-Klebe-Tusse zur Simulatin für gepflegte Unterhaltung aufgestiegen
Simulantin
Stellen sie sich einfach vor
groß: Sie
"Auf dem Internat mit ach und Krach das Abitur geschafft, danach ein BWL Studium abgebrochen
groß: Ach, mit Bindestrich: BWL-Studium
"Woher wissen sie das?",
groß: Sie
ließ mir einen kalten Schauer den Rücken herunter laufen
zusammen und falsche Richtung: hinunterlaufen
Eine Übung die einfach war
Komma: Übung, die ...
ihn auf ein nobles Internat zu stecken.
in ein nobles Internat
Ich hatte mir von Walters Rausschmiss aus dem Elternhaus erhofft, mein Geschichtenerzählerleben einfacher zu machen
Was? Geschichtenerzählerleben? besser: mein Leben als Geschichtenerzähler
Zur Belohung für mic
Belohnung
Wesensarten denen er in groben Zügen treu bleiben musste
Komma: Wesensarten, denen
Albin von Trollingen trug schwer am Verhalten seines virtuellen Sohns
fiktiven Sohns, der lebt ja nicht im Internet
so wie ich ihn auf der Fotographie gesehen hatte
Fotografie
sprachen ein lautloses, resignierendes "dann ist es also so weit.
würde ich mit Doppelpunkt machen: resignierendes: "Dann ist es ...
mich mit ihm auf Geruchsdistanz zu unterhalten und erklären zu lassen
da fehlt was: und mir erklären zu
Ich schluckte. Eine Tochter? Was war hier zum Teufel schon wieder schief gegangen?
Am Ende wird noch mal dieses unnötige Spannungsmoment eingeführt, und da wirkt es schön langsam so, als ob die Protagonistin doof wäre.

Gruß
Andrea

 

Hey AE,

schön, dass du dich wied blicken lässt.
Deine Geschichte habe ich mir ausgedruckt und ganz in Ruhe zu Gemüte geführt. Wie stets gefällt mir die Sprache, mit welcher du den Leser auf die Reise schickst. Und auf was für eine Reise: Keinen Moment wurde es mir langweilig beim Lesen und ich ahnte auch nicht, wie es weiter gehen würde. Fand es besonders stark, dass du es so lange herausgezögert hast, bis man wusste, was es eigentlich mit der Eingangszeile auf sich hat.
Was mir nicht gefallen hat, ist der Schluss. das habe ich, fürchte ich, schon häufiger mal bei deinen Kgs moniert. In meinen Augen wird das dem prachtvollen Aufrollen der geschichte nicht gerecht. Zu abrupt und zugleich seltsam kraftlos. Wenn abrupt, dann mit Posaune. Aber die vermochte ich hier nicht zu hren.

Dennoch: sehr gerne gelesen, hast mich gut unterhalten :)

sprach er und deute mit dem Zeigefinger auf mich

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo AlterEgo,

du hast eine beneidenswert gute Idee zu einer feinen Geschichte verarbeitet, flüssig geschrieben und über weite Strecken sehr unterhaltsam.

Zwei Kritikpunkte habe ich dennoch anzubringen.

1. Der Einstieg

Den Einstieg - genauer gesagt: die ersten drei Absätze - dienen hauptsächlich dazu, mich als Leser zunächst auf eine falsche Fährte zu locken. Deshalb sind sie meiner Meinung nach entbehrlich, weil sie bei mir eher Misstrauen erweckten und es dadurch schwerer wurde, mich auf die eigentliche Geschichte einzulassen. Du könntest genauso gut beginnen mit:

Meine erste Begegnung mit Albin von Trollingen begann wie eine Szene aus dem falschen Film:

2. Das Ende

"Dann werde ich wohl meinen Sohn endgültig verlieren", fügte der alte Mann traurig hinzu, um mit seinen Augen zu den meinen zurückzukehren. "Aber habe ich denn nicht im Laufe der Zeit eine Tochter hinzugewonnen?"
Ich schluckte. Eine Tochter? Was war hier zum Teufel schon wieder schief gegangen?

Das wirkt auf mich wie ein uninspirierter Ausstieg und wird dem Zauber der guten Grundidee nicht gerecht, weil es so ein wenig platt daher kommt. Da hätte dir wirklich etwas Subtileres einfallen können.

Für das "Dazwischen" finde ich die Empfehlung absolut gerechtfertigt. Den Ein- und Ausstieg aber könntest du meines Erachtens auf jeden Fall noch optimieren.

Rick

 

@all

Hallo Ihr Lieben,

entschuldigt bitte erst mal die elend lange Reaktionszeit und die Tatsache, dass ich mehrfach angemerkte Punkte vorab hier herausziehe, bevor jeder einzelne Eurer Kommentare seine Würdigung erfährt.

Das Verwirrspiel am Anfang:

Es ist das ein Element, auf das ich ungern verzichten würde. Die Protagonistin trifft die bewusste Entscheidung, das Geschöpf, das sie geschaffen hat, aus der Welt zu schaffen. Darum dreht sich die ganze Geschichte und nicht um die Einsamkeit eines alten Mannes.

Das Ende:

Mit Euren wiederkehrenden Einwänden trefft Ihr ins schawrze und auf den Punkt, dass in der Umfanreichen Bearbeitungshistorie diese Stelle schon mehrfach unter dem Messer war, mit begrenztem Erfolg offenbar.

Wie alle anderen tiefergehenden Anmerkungen eurerseits, werde ich mir diesen Punkt in Ruhe zu Gemüte führen müssen, nur soviel vorab:

Es wurde bewusst die Klammer zum Anfang der Geschichte geschlossen, wo der "Mord" an Walter ja der Ausweg aus dem Leben der Märchenproduzentin sein sollte. Was am Ende auf den ersten Blick rührselig daherzukommen scheint, ist der Fehlschlag, sich so aus der Affäre ziehen zu können.

@ lakita

Du triffst mal wieder wie in guten alten Zeiten mit Deinen Anmerkungen feinfühlig Zielsicher ins Schwarze. Mit "Wahlverwandschaften" bin ich als Titelvorschlag wegen der peinlichen Nähe zu dem Weimarer Genie nicht einverstanden, was aber nicht bedeutet, dass ich mit meinem Titel restlos glücklich bin ...

Mit der Intimität der Reisen hast Du völlig Recht, hier ist noch etwas Feinschliff nötig, als Element der Verwobenheit der beiden Protagonisten und als letztendlicher Trennungsgrund möchte ich sie aber ungern herausoperieren ...

Danke jedenfalls für Deine warmen Worte und die überraschende Empfehlung.

@bernadette

Dir an erster Stelle ganz lieben Dank für die ergiebige Textarbeit. Du hast völlig Recht, die Geschichte trage ich seit Ewigkeiten mit mir herum und es hat mich einiges an Überwindung gekostet, sie als "fertig" zu veröffentlichen. Deine berechtigten EInwände bezüglich Politur werde ich versuchen in nächster Zeit zu beherzigen.

Die Hauptschwierigkeit/Übung war für mich, aus der Perspektive einer Protagonistin zu schreiben und ich denke Dein Kommentar geht etwas in die Richtung, dass an einigen Stellen durchschimmert, dass mir das nicht so 100% gelungen ist.

Danke dennoch auch Dir für die lieben Worte.

@Kasimir

Hallo Kasimir,

auch Dir danke für Deine lobenden Worte.

@Andrea H.

Hallo Andrea,

erst einmal ganz lieben Dank dafür, dass Du Dir trotz inhaltlicher Reserviertheit die Mühe gemacht hast, derartig viele meiner Schlampereien aufzuspüren. Ich stehe in Deiner Schuld.

Was Deine Anmerkungen betrifft, so sind sie zielsicher, auch wenn ich Dir versichern kann, dass meine eigentliche Intention bei der Geschichte nicht in der Schaffung einer Thriller-Atmosphäre lag.

Was den nichtlinearen Aufbau betrifft, so habe ich hier die Konsequenz vor allem aus lakitas Anmerkungen bezüglich Spannung in meinen früheren Geschichten gezogen ... des einen Freud ist des anderen Leid ...

Es ist schade, dass über Aufbau und Struktur der inhaltliche Ken der GEschichte offenbar bei DIr nicht ankam. Dennoch auch Dir ganz lieben Dank für die andere Sicht der Dinge und Deine Anmerkungen.

@weltenläufer

ist ja super, damit ist die alte Garde ja fast komplett ... Danke für Deine warmen Worte.

Jaja, der Schluss. Bei soviel gleichlautender Unzufriedenheit muss ich mir das wohl tatsächlich etwas anderes einfallen lassen.

@Rick

ok. nun sehe ich es endgültig ein, an dem Ende muss noch etwas anderes passieren.

Was den Einstieg betrifft, so scheinst Du zu der Hälfte von Lesern zu gehören, die es übel nehmen, wenn die Dinge zunächst ganz anders aussehen ... der kleine Kunstgriff, den ich mir als nett auch beim zweiten, genaueren Lesen vorgestellt hatte, scheint tatsächlich allergische Reaktionen auszulösen, ist aber ein Element, das mir (s.o.) schwer fiele, zu opfern.

Danke dür Dein Lob des Mttelteils.

Euch allen nochmal ganz herzlichen Dank für die zahlreichen Anmerkungen und das warme Wieder-Willkommen.

LG,

AE

 

Hallo AlterEgo!

Die Geschichte an sich gefällt mir recht gut, die Idee mit dem Alten, der sich für seinen toten Sohn ein Leben schreiben läßt, hat etwas und die Pointe finde ich schön makaber.
Was mir nicht gefällt, sind anfangs die Vergleiche mit Schauspielern. Ich will mir nicht das Bild eines Schauspielers ins Gedächtnis rufen müssen, um zu wissen, wie ich mir die Haushälterin oder den Alten vorstellen soll. Da machst Du es Dir meiner Meinung nach zu einfach. ;) Und: Es kommt offenbar auch nicht die Stimmung auf, die Du gern erzielt hättest, denn wenn Du schreibst »Der Psychothriller flacht minutenschnell zu ödem Büroalltag ab«, frage ich mich, welchen Psychothriller Du meinst. Mit treffenden, bildhaften Beschreibungen wäre das sicher ganz anders. Daß Du das kannst, zeigst Du später, z.B. hier:

Die mittelalterliche Standuhr schlug dreimal. Das hölzerne Ungetüm in der Ecke diktierte den Takt des Hauses.
Das finde ich sehr gelungen, um die Atmosphäre zu verdeutlichen. :)

Ein anderer Punkt ist, daß ich irgendwie immer einen männlichen Protagonisten lese. Obwohl ich es beim zweiten Lesen und Schreiben der untenstehenden Liste bereits wußte, hatte ich wieder einen Studenten statt einer Studentin vor Augen. Ich mußte sogar einige Stellen in der Liste nachträglich korrigieren, weil ich immer wieder »er« schrieb, wenn ich »sie« meinte (falls ich welche übersehen habe, sorry!). Meinen Verdacht, woran das liegt, findest Du ebendort.

Nach dem Lesen der anderen Kommentare wundere ich mich nun, daß so viele das Ende kritisieren. Ich fand das wirklich schön makaber, daß er sie als Tochter »adoptieren« will, nachdem sie dachte, sie könne diese Dienstagsitzungen nun beenden.
Mir fällt dazu ein Punkt ein, den ich in der Liste angeführt habe, nämlich daß die Bemerkung, sie täte sich schwer, Geld von ihm anzunehmen, so frei im Raum steht. Du könntest das verbinden und das Ende in zwei, drei Sätzen dahingehend ausbauen, daß sie eine Woche später auch noch Erbin der ganzen Millionen ist. Das kannst Du wahlweise als Happy-End stehen oder die Protagonistin in Schuldgefühlen ersticken lassen.

So, jetzt noch die Kleinigkeiten, die aber nur so viel sind, weil mir die Geschichte insgesamt gut gefällt und mir deshalb die Zeit wert war: ;)

»Ich könnte Walter umbringen und verschwinden lassen, eine bestechend einfache und endgültige Lösung. Warum war ich eigentlich nicht schon früher darauf gekommen? Zur Strafe würde ich sicherlich aus dem Paradies geworfen werden. Mein Einfall war eine Fahrkarte zur Hölle, die todsichere Garantie für einen Tapetenwechsel. Aber war das nicht genau, was ich wollte?«
– meiner Meinung nach: Warum bin ich eigentlich nicht schon früher darauf gekommen? Zur Strafe werde ich sicherlich aus dem Paradies geworfen. Mein Einfall ist eine Fahrkarte … Aber ist das nicht genau, was ich wollte?
Um die Wiederholung des ist zu vermeiden, könntest Du im letzten Satz auch »Aber wollte ich nicht genau das?« oder »Aber entspricht das nicht genau dem, …« schreiben.

»Ich erinnere mich daran, dass mir dieser Gedanke das erste Mal beim morgendlichen Zähneputzen gekommen war«
– statt dem »dass« fände ich »wie« hier wesentlich passender, Du beschreibst anschließend ja auch das Wie.

»Ein strubbeliges Wesen mit verschlafenen Augen stand mir im Badezimmerspiegel gegenüber und grinste halb zurechnungsfähig.«
– »stand mir im Badezimmerspiegel gegenüber« klingt komisch, und da sie gerade mit Zähneputzen beschäftigt war, stand sie wohl auch vor keinem Spiegel, in dem sie sich als ganzes gesehen hat; das Bild, sie stünde im Badezimmerspiegel, ist also falsch.
Vorschlag: Ein strubbeliges Wesen mit verschlafenen Augen grinste halb zurechnungsfähig aus dem Badezimmerspiegel.

»Doch so wie damals mein halbreelles Dasein einen Liter Kaffee erforderte, um im Hier und Jetzt anzukommen, so bedurfte auch mein Mordplan weiterer Nachbearbeitung.
– Doch so, wie damals … anzukommen, so bedarf
Mit dem Satz wirkt die Sache mit dem Badezimmerspiegel abgeschnitten, und so weiß ich auch nicht, warum Du diesen Rückblick mit dem Spiegel erzählst, da er zu nichts Neuem führt. Und was der Kaffee nun mit der erforderlichen Nachbearbeitung des Mordplans zu tun hat, erschließt sich mir auch nicht, ich sehe da keine Parallelen. So, wie ich in der Früh einen Liter Kaffee brauche, muß ich heute die restliche Arbeit erledigen. Das eine hat mit dem anderen ja nichts zu tun, auf welche Gemeinsamkeit bezieht sich das »so«?

»Sie auszubrüten brauchte ich eine ordentliche Dosis Frischluft.«
– auszubrüten, brauche

»Am gründlichsten nachdenken konnte ich immer dann, wenn ich mich bewegte: Joggen, Radfahren, einen Berg hochlaufen, Hauptsache weiterkommen, wechselnde Eindrücke vorbeiziehen lassen und dazu meine Musik hören.«
– nachdenken kann ich immer dann
– ich würde joggen und radfahren als Verben betrachten

»Vielleicht hing Genialität ja mit Schweiß zusammen. Schwitzen als kreativer Prozess, der Katalysator für schwierige Probleme.«
– Vielleicht hängt
– nach »zusammen« würde ich ein Fragezeichen machen.
– Das ist eine der Stellen, die mich eher an einen männlichen Protagonisten denken ließen; und obwohl ich es beim zweiten Lesen ja schon wußte, wirkte es wieder so. Auch die Stelle mit dem Badezimmerspiegel klingt mehr nach einem männlichen Protagonisten

»Super! Die Idee würde irgendwann mal ein prima Einleitungskapitel für meine Memoiren abgeben.
"Im Alter von dreiundzwanzig Jahren fand ich heraus, wie sehr ich das klebrige Gefühl, den Salzgeschmack der eigenen Haut und vor allem den Geruch nach körperlicher Aktivität liebte."
Ein kleines, schmutziges Geheimnis, das ich irgendwann der Welt offenbaren würde. Durchgeknallt, oder?«
– Die Idee wird oder könnte
– Wie sehr sie von ihrer eigenen Idee begeistert ist, merkt man auch noch, wenn Du das »Super!« und das »Durchgeknallt, oder?« rausnimmst. Das Selbstlob ist da wirklich etwas zu dick aufgetragen. ;-)

»Manchmal musste ich mich letzter Zeit über mich selbst wundern.«
– Manchmal muss ich mich in letzter Zeit

»Wo kamen alle diese seltsamen Gedanken her?«
– Wo kommen
– aus »alle« würde ich »all« machen

»Altersschwachsinn lag bei mir in der Familie.«
– liegt
– würde ich streichen, paßt irgendwie nicht so recht dazu, wenn sie sich gerade noch für so genial gehalten hat.

»Besser sollte ich dort beginnen, wo das Drama seinen Anfang hatte, nämlich in den Sommersemesterferien vor einem guten Jahr.«
– reicht nicht auch »nämlich letztes Jahr im Sommer«? Daß sie studiert, wird gleich danach durch das Studentenservice klar.

Abgesehen von den Tips würde ich den Absatz aber so beenden:
… Super! Die Idee könnte irgendwann ein prima Einleitungskapitel für meine Memoiren abgeben. Aber ich werfe schon wieder alles durcheinander. (Danach weiter mit »Meine erste Begegnung«.)

»Meine erste Begegnung mit Albin von Trollingen begann wie eine Szene aus dem falschen Film: "Schweigen der Lämmer", zwanzig Jahre danach. Das Klischee war schlichtweg perfekt.
Ein vom Studentenservice vermitteltes Drittsemesterküken steht vor einer riesigen Villa und kramt unsicher einen Zettel heraus. Ich sehe nach, ob die Adresse in der Oberstadt tatsächlich stimmt.«
– Warum die wechselnde Perspektive (mit gleichzeitigem Zeitenwechsel)? Und würde sich eine Studentin selbst als »Drittsemesterküken« bezeichnen?

»Danach sperre ich mein Fahrrad an einen gefängnisartigen Eisenzaun,«
– Ein Fahrrad sperrt man ab: sperre ich mein Fahrrad an einem gefängnisartigen Eisenzaun ab – was ich mir allerdings nicht ganz vorstellen kann, an einem Gefängniszaun kann man bestimmt kein Fahrrad absperren. Beschreibe den Zaun lieber, statt einen Vergleich zu ziehen.

»Dann geleitet er mich persönlich in ein Arbeitszimmer.«
– »persönlich« würde ich streichen und dem ein ein s voranstellen (sein Arbeitszimmer)

»Während er spricht, lächelt er, als sei es der Höhepunkt seines Tages, meine Leber in Rotweinsauce mit Thymian anzubraten.«
– Was fange ich mit diesem Vergleich bloß an? Schmeckt Menschenleber besonders gut in Rotweinsauce mit Thymian, wenn der dazugehörige Mensch lesen und schreiben konnte? :susp:

»mich durch schwarzweiße Reste der Trollingerschen Familiengeschichte zu scannen«
– entweder groß und mit Apostroph, »Trollinger’schen«, oder klein und zusammen: »trollingerschen«

»teils unbekannte Soldaten, oder akkurat beschriftete Aufnahmen mit Namen, Kampfverband, Ort und Datum.«
– »teils« kannst Du streichen und den Beistrich nach »Soldaten« wegnehmen

»chemische Werke, hohe Kamine und verrußte Fabriken.«
– Ich nehme an, zum Zeitpunkt des Fotografierens waren die Fabriken noch neu und daher noch nicht verrußt. Stattdessen eine alternative Beschreibung, wie z.B. »Fabriken aus Ziegelstein«

»Wo bin ich nur hier hingeraten?«
– andersrum: Wo bin ich hier nur hingeraten?

»denn es gibt die Woche drauf weitere Büroarbeit für mich.«
– darauf

»findet sich immer wieder ein Anlass, mich in die Villa zu locken. So lange, bis ich irgendwann Inventar geworden bin.«
– Eine seltsame Zeitenkollision, die durch den Wechsel in die Gegenwart zustandekommt, den ich oben (beim Perspektivwechsel) schon kritisiert habe.

»Von da ab fuhr ich in die Villa, nur um zwei Stunden zwanglos zu plaudern.«
– statt »fuhr« würde ich »kam« nehmen, sie fährt ja nicht direkt bis in die Villa.

»Dann war es an der Zeit, hinunter in mein miefiges Studentenwohnheim zu radeln.«
– hm, den miefigen Geruch hätte ich eher der Villa zugeschrieben; vielleicht fällt Dir da ein anderes Adjektiv ein, vielleicht eins, das einen Gegensatz zur zuletzt besprochenen Pünktlichkeit und Ordnung ausdrückt?

»sie mussten für eine Woche lang reichen.«
– »lang« kannst Du streichen

»Genau so stellte ich mir meinen eigenen Großvater vor: Lockiges graues Haar, große gütige Augen, feine Manieren. Und vor allem Freundlichkeit und Geduld, unendlich viel Geduld.
Doch es blieb bei der Vorstellung, denn die Realität war auf einem Soldatenfriedhof in der Normandie verscharrt worden.«
– Im Hinblick auf das Ende eine interessante Feststellung!

»Er kann nicht immer vor seiner Verantwortung davon laufen.«
– zusammen: davonlaufen

»Jeder hat seinen Platz im Leben, an den er hingehört"«
– entweder »an den er gehört« oder »wo er hingehört«

»Ich nickte, und nahm mir vor«
– keinen Beistrich nach »nickte«

»Er hatte große gütige Augen, eines der wenigen Merkmale, die er mit seinem Vater gemeinsam hatte. Aber in allen anderen Aspekten war er ein so anderer Mensch …«
– Da Du mit dem ersten Satz bereits sagst, daß die beiden nicht allzu viel gemeinsam hatten, paßt das »Aber« nicht, da es kein Widerspruch ist. Ein Widerspruch ist allerdings, daß Du im ersten Satz andeutest, daß es auch noch andere Merkmale gab; wenn es auch nur wenige waren, kann er nicht zugleich in allen anderen Aspekten ein so anderer Mensch sein.

»Es passierte ziemlich zu Anfang des Semesters. Damals war ich gerade von der Bildchen-ins-Album-Klebe-Tusse zur Simulantin für gepflegte Unterhaltung aufgestiegen und es fiel mir noch schwer, mich für unsere regelmäßige Plauderei bezahlen zu lassen. Es muss im letzten Herbst gewesen sein.«
– Würde ich kürzen. Etwa, daß es ihr schwer fiel, sich bezahlen zu lassen, solltest Du entweder begründen oder streichen; so ist es in den Raum geworfen und bleibt als Fragezeichen an Decke hängen. Ich kenne niemanden, dem es schwer fällt, sich für seine Arbeit bezahlen zu lassen, und sie hat den Alten ja nicht privat kennengelernt, sondern die Stelle als Job angenommen.
Und da Du vorher schon von den Sommersemesterferien gesprochen hast, genügt hier eine der Angaben, entweder der Anfang des Semesters oder der letzte Herbst.

»Ich nahm das Bild und murmelte sinngemäß:
"Das ist aber ein süßer Junge."«
– »sinngemäß« würde ich streichen

»Dabei fiel mir auf, dass das Foto nicht aktuell war und dass wohl auch Trollinger etwas zu alt wäre für einen so kleinen Sohn,«
– »nicht aktuell« würde ich durch »nicht neu«, »veraltet« oder vielleicht durch »bereits zu vergilben begann« ersetzen

»Jedenfalls begriff ich nichts und stammelte nur ein abwesendes:
"Herr von Trollingen, das tut mir Leid."«
– entweder: stammelte nur ein abwesendes „Herr von Trollingen, das tut mir leid“.
oder: stammelte nur abwesend: „Herr … leid.“

»In einer Woche wäre sein Dreißigster. Stellen sie sich einfach vor, was heute aus ihm geworden wäre!"«
– entweder »sein dreißigster« oder »sein Dreißiger«
– Stellen Sie

»"Woher wissen sie das?"«
Sie

»Ich hab' es mir nur so vorgestellt … einfach so. Zwei meiner Freunde studieren BWL."«
– hab ohne Apostroph
– hier würde ich BWL ausschreiben, Abkürzungen sollte man in Geschichten möglichst vermeiden.

»Die Fortsetzung folgte am Dienstag die Woche danach.«
– würde entweder »am Dienstag« oder »die Woche« streichen

»als mich Albin von Trollingen gleich zu Anfang unseres Treffens überfiel:«
Anfang kommt hier schon zum vierten Mal vor, mit einem »anfangs« insgesamt sechs Mal, während Du den »Beginn« nur in Form zweier »beginnen« verwendest. Hier könntest Du also zur Abwechslung »gleich am Beginn unseres Treffens« schreiben.

»"Kindchen, ich möchte Sie etwas bitten: Dass Sie sich eine Geschichte ausdenken.«
– kein vollständiger Satz nach dem Doppelpunkt, daher klein weiter

»Von der Gesellschafterin war ich zur Märchenerzählerin befördert worden.«
– Wenn Du Dich vorher, wo Du schreibst, daß sie sich schwer tat, die Bezahlung anzunehmen, gegen meinen Tip, die Stelle zu streichen, entschieden hast, könntest Du das Thema hier vielleicht noch einmal aufnehmen.

»Mein Dienstagsjob begann auch während der Woche in Arbeit auszuarten.«
– Dienstag ist auch »während der Woche«

»In den Semesterferien bestand er Monate im Voraus darauf, dass ich mir zwei Wochen frei halten müsse.«
– So ist das etwas schief, ich würde das umstellen: Er bestand Monate im Voraus darauf, dass ich mir in den Semesterferien zwei Wochen freihalten müsse.

»Doch anstelle der versprochenen Recherche-Tour auf das Ostpreussische Landgut der Familie,«
– das ostpreußische Landgut

»Mittlerweile hatte ich Übung bekommen, kleine Beobachtungen und Details aufzusammeln,«
– statt »bekommen« fände ich »darin« schöner

»Was anfangs einfach gewesen war, […]
Aber ich hielt das Spiel länger durch, als ich zu Anfang gedacht hatte.«
– »anfangs« könntest Du durch »ursprünglich« ersetzen und »zu Anfang« ist ersatzlos entbehrlich

»Es war so anstrengend, wie 1000 Höhenmeter den Berg hochzujoggen,«
– tausend

»Dann erreichte unser Spiel schließlich die nächste Eskalationsstufe:«
– »Dann« und »schließlich« – eins davon genügt, und da Du später schreibst »Und schließlich hatte ich die zündende Idee«, wäre ich hier für das »dann«. Oder ganz ohne: Unser Spiel erreichte die nächste Eskalationsstufe.

»Entscheidungen waren nicht meine Stärke. Selbst körperliche Aktivität half da nur manchmal.«
– Ich finde, das ist ein Widerspruch zu der Feststellung am Anfang, daß Genialität vom Schwitzen kommen müsse. Wenn körperliche Aktivität nur manchmal hilft, ist die Schlußfolgerung nicht logisch.

»Und schließlich hatte ich die zündende Idee:«
– das »Und« würde ich streichen

»Des Dramas letzter Akt; die Standuhr hatte dreimal geschlagen. Elena hatte die Kekse abgestellt und sich diskret zurückgezogen. Es war Zeit für meinen letzten Auftritt.«
– »Des Dramas letzter Akt« und »Zeit für meinen letzten Auftritt« sagt auch ziemlich dasselbe aus, eins davon ist daher entbehrlich.
Davon abgesehen: Sollte nicht die in Gegenwart geschriebene Einleitung hier einsetzen? Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, müßtest Du eigenltich hier wieder in die Gegenwart wechseln, z.B.: Wieder ist Dienstag; die Standuhr schlägt dreimal, Elena stellt die Kekse diskret ab und zieht sich selbst diskret zurück. Es ist Zeit für meinen letzten Auftritt.

»"Ist mein Sohn angekommen?", fragte mich der alte Mann, wobei seine Frage müde klang, als sei er es mittlerweile Leid, sie Woche um Woche wieder zu stellen.«
– Vorschlag: … angekommen?“ Die Stimme des alten Mannes klingt müde, als sei er es mittlerweile leid, …

»"Ja", antwortete ich, "er ist auf dem Heimweg, allerdings nicht freiwillig."«
– antworte

»Die Ringe unter den Augen des alten Mannes schienen dunkler zu sein als sonst und seine Stimme kam mir schleppend vor.«
– scheinen, kommt

»Zwei müde Augen trafen mich, drangen durch mich hindurch, sprachen ein lautloses, resignierendes: "Dann ist es also so weit."«
– treffen, dringen
– Wiederholung »müde« und »Augen«, Vorschlag: Ein vom Schicksal gezeichneter Blick trifft mich, dringt durch mich hindurch, spricht ein lautloses, resignierendes „Dann ist es also soweit«.

»Ich nickte. "Afrikanische Trypanosomiase, Schlafkrankheit", fuhr ich fort, an meine Freundin Wikipedia denkend,«
– nicke, fahre
– schöner fände ich »und denke an meine Freundin Wikipedia«

»Ich nickte und dachte dabei unwillkürlich an den ungepflegt wirkenden Medizinstudenten vom Zimmer nebenan in meinem Wohnheim.«
– Könnte sie nicht statt diesem oder dem vorigen Nicken »Ja« sagen? Auch das Denken an … wiederholt sich, selbst wenn Du es einmal als denkend und einmal als dachte/denke verwendest. Der Kollege könnte ihr auch in den Kopf schießen. :D

»Zum Schrecken des Endes würde also gehören,«
– gehört also

»fügte der alte Mann traurig hinzu,«
– fügt

»Ich schluckte. Eine Tochter? Was war hier zum Teufel schon wieder schief gegangen?«
– schlucke, ist


Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Susi,

danke für die superausführliche Betrachtung. Dem Thema Zeiten muss ich mich nochmals in Ruhe widmen. Den Schluss ins Präsens zu verlagern hat etwas, zugegeben.

Was den anderen großen angemerkten Punkt betrifft, so wundert mich dass zuvor noch niemand anderer darüber gestolpert ist: Für mich bestand das Hauptexperiment dieser Geschichte darin, mich in die Rolle einer weiblichen Erzählerin hineinzuversetzen. Dass dies alles andere als leicht und im Endergebnis nicht überall überzeugend ist, gehört zu den Erfahrungen und Lernerlebnissen aus diesem Projekt.

Tja und der vielkritisierte Filmanfang ... offenbar ist die Entwicklung des Themas aus der Phrase "aus dem falschen FIlm" heraus nicht unbedingt geglückt. Was ich erreichen wollte, war ei stimmungsbild, wie man es aus dem Kino kennt, wenn alles losgeht mit düsterer Musik und ein paar Bildern von Figuren, die man noch nicht kennt. "Schweigen der Lämmer" ist die Unbehaglichkeit, die die Heldin überfällt, als sie das erste Mal eine Welt betritt, die so gar nicht die ihre ist ...

Nachdem sowieso noch eine größere Überarbeitung ansteht, ist das vielleicht auch einer der Punkte, die auf der Schlchtbank landen werden.

Was mich auch freut, dass Du darauf gekommen bist, was ich mit dem Ende sagen wollte: Ausbruchversuch gescheitert.


Ganz lieben Dank nochmals,

AE

 

Hallo AlterEgo,

Die Geschichte hat mir Spass gemacht zu lesen.

Kleinigkeiten

seiner Routine war, hatte er mich mit viel Geduld und Nachdruck zur Pünktlichkeit erzogen. Ich musste um Punkt drei Uhr im Salon erscheinen, so lange, bis fünf Schläge meinen Rausschmiss verkündeten.

Das Mit dem Rausschmiss hat mich verwirrt. Ich habe gedach der Prot ist gekündigt worden. Erst ein paar Zeilen später habe ich gerafft, dass die Prot 2 Stunden Gesellschafterin sein musste.

als Albin von Trollingen eine Fotografie aus der Brusttasche zog und mir gab. Darauf war ein kleiner Junge zu sehen.
"Kindchen, das ist mein Sohn. Es wird Zeit, dass Sie ihn kennenlernen."
Ähm ... auch hier habe ich mich gefragt, warum die Prot den Sohn noch nicht kennt, da hier

Meine Aufgabe besteht darin, mich durch schwarzweiße Reste der Trollingerschen Familiengeschichte zu scannen und zu kleben.

doch bereits erzählt wurde welche Aufgaben die Prot zuerst erfüllte, bevor sie die Gesellschafterin wurde.

Das Ende finde ich auch ein wenig uninspiriert. ;)

LG
GD

 

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