- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
Wiederkehr der Verlorenheit
Ich könnte Walter umbringen und verschwinden lassen, eine bestechend einfache und endgültige Lösung. Warum war ich eigentlich nicht schon früher darauf gekommen? Zur Strafe würde ich sicherlich aus dem Paradies geworfen werden. Mein Einfall war eine Fahrkarte zur Hölle, die todsichere Garantie für einen Tapetenwechsel. Aber war das nicht genau, was ich wollte?
Ich erinnere mich daran, dass mir dieser Gedanke das erste Mal beim morgendlichen Zähneputzen gekommen war. Ein strubbeliges Wesen mit verschlafenen Augen stand mir im Badezimmerspiegel gegenüber und grinste halb zurechnungsfähig. Doch so wie damals mein halbreelles Dasein einen Liter Kaffee erforderte, um im Hier und Jetzt anzukommen, so bedurfte auch mein Mordplan weiterer Nachbearbeitung.
Zum Mord gehörte die Methode. Sie auszubrüten brauchte ich eine ordentliche Dosis Frischluft. Am gründlichsten nachdenken konnte ich immer dann, wenn ich mich bewegte: Joggen, Radfahren, einen Berg hochlaufen, Hauptsache weiterkommen, wechselnde Eindrücke vorbeiziehen lassen und dazu meine Musik hören.
Vielleicht hing Genialität ja mit Schweiß zusammen. Schwitzen als kreativer Prozess, der Katalysator für schwierige Probleme. Super! Die Idee würde irgendwann mal ein prima Einleitungskapitel für meine Memoiren abgeben.
"Im Alter von dreiundzwanzig Jahren fand ich heraus, wie sehr ich das klebrige Gefühl, den Salzgeschmack der eigenen Haut und vor allem den Geruch nach körperlicher Aktivität liebte."
Ein kleines, schmutziges Geheimnis, das ich irgendwann der Welt offenbaren würde. Durchgeknallt, oder?
Manchmal musste ich mich letzter Zeit über mich selbst wundern. Wo kamen alle diese seltsamen Gedanken her? Altersschwachsinn lag bei mir in der Familie. Aber ich werfe schon wieder alles durcheinander. Besser sollte ich dort beginnen, wo das Drama seinen Anfang hatte, nämlich in den Sommersemesterferien vor einem guten Jahr.
Meine erste Begegnung mit Albin von Trollingen begann wie eine Szene aus dem falschen Film: "Schweigen der Lämmer", zwanzig Jahre danach. Das Klischee war schlichtweg perfekt.
Ein vom Studentenservice vermitteltes Drittsemesterküken steht vor einer riesigen Villa und kramt unsicher einen Zettel heraus. Ich sehe nach, ob die Adresse in der Oberstadt tatsächlich stimmt. Danach sperre ich mein Fahrrad an einen gefängnisartigen Eisenzaun, zupfe mir die vom Fahrtwind verblasene Frisur zurecht und klingele.
Jodie Foster ist sichtlich gealtert, sieht mittlerweile richtig fies aus und hat sich in eine drachenartige Haushälterin verwandelt. Sie öffnet die Tür. Mit knappen Worten bittet sie mich ins Haus und lässt mich erst einmal eine Viertelstunde warten: auf den Herrn und Meister.
Während ich darüber grüble, ob sie von der weißen zur schwarzen Seite gewechselt hat, taucht der unverkennbare Herr des Hauses auf.
Anthony Hopkins ist etwas faltiger und grauer geworden, wirkt aber irgendwie freundlich und schüttelt mir kurz die Hand. Dann geleitet er mich persönlich in ein Arbeitszimmer.
"Kommunikationswissenschaften? Dann gehe ich mal davon aus, dass Sie des Lesens und Schreibens mächtig sind." Während er spricht, lächelt er, als sei es der Höhepunkt seines Tages, meine Leber in Rotweinsauce mit Thymian anzubraten.
Der Psychothriller flacht minutenschnell zu ödem Büroalltag ab. Meine Aufgabe besteht darin, mich durch schwarzweiße Reste der Trollingerschen Familiengeschichte zu scannen und zu kleben.
Siebzig Jahre Realsatire: Jagdszenen, Hochzeitsbilder, schneidige junge Männer in Uniform; teils unbekannte Soldaten, oder akkurat beschriftete Aufnahmen mit Namen, Kampfverband, Ort und Datum. In weiteren Kartons dann nahtlos Wirtschaftswunder, chemische Werke, hohe Kamine und verrußte Fabriken.
Der Clan besitzt Geld in Mengen, die mir unbegreiflich bleiben. Und die Villa in der Oberstadt scheint Zentrum all dieses Reichtums zu sein. Antiquitäten, Bilder, Porzellan. Wo bin ich nur hier hingeraten?
Aber irgendwie macht mir das Herumwühlen in fotografierten Absonderlichkeiten Spaß. Und offenbar erledige ich meinen Job gut, denn es gibt die Woche drauf weitere Büroarbeit für mich. Bis über die Semesterferien hinaus findet sich immer wieder ein Anlass, mich in die Villa zu locken. So lange, bis ich irgendwann Inventar geworden bin.
So hatte also alles angefangen. Als der letzte Karton geleert und keine Bilder mehr zu archivieren waren, bestand meine Aufgabe darin, dem alten Herrn Gesellschaft bei seinen Teestunden zu leisten.
Von da ab fuhr ich in die Villa, nur um zwei Stunden zwanglos zu plaudern. Eine angenehme Arbeit und ein Nebenverdienst, den ich alte Planerin schon bis zum Zeitpunkt meiner Abschlussprüfungen hochgerechnet hatte. Doch es sollte anders kommen.
Elena hatte wie üblich Tee und Gebäck hereingebracht. Der alte Mann legte sein Buch zur Seite und lächelte mich an. Es war sein unausgesprochenes "Kindchen, schön, dass du wieder da bist".
Die mittelalterliche Standuhr schlug dreimal. Das hölzerne Ungetüm in der Ecke diktierte den Takt des Hauses. Albin von Trollingen brauchte Regelmäßigkeit um sich herum. Da ich ebenfalls ein Bestandteil seiner Routine war, hatte er mich mit viel Geduld und Nachdruck zur Pünktlichkeit erzogen. Ich musste um Punkt drei Uhr im Salon erscheinen, so lange, bis fünf Schläge meinen Rausschmiss verkündeten. Dann war es an der Zeit, hinunter in mein miefiges Studentenwohnheim zu radeln.
"Was gibt es Neues von meinem Sohn?", fragte mich Herr von Trollingen, unmittelbar nachdem er mir kräftig die Hand gedrückt hatte.
"Er ist immer noch in Harare", antwortete ich. Die Neuigkeiten wollten fein dosiert sein, sie mussten für eine Woche lang reichen. "Es geht ihm gut. Und er will unbedingt eine Weile für 'Brot für die Welt' arbeiten."
"Ich habe ihm einen Brief geschrieben", sprach der alte Mann, während er mit spitzen Fingern die Teetasse hielt. "Wollen Sie wissen, was drin steht?"
Ich nickte. Genau so stellte ich mir meinen eigenen Großvater vor: Lockiges graues Haar, große gütige Augen, feine Manieren. Und vor allem Freundlichkeit und Geduld, unendlich viel Geduld.
Doch es blieb bei der Vorstellung, denn die Realität war auf einem Soldatenfriedhof in der Normandie verscharrt worden.
"Ich habe ihm klar gemacht, dass er endlich zurückkommen soll. Verantwortung übernehmen, eine Stelle in meinem Betrieb antreten."
Ich schluckte. Ob er mir den Brief geben würde, um ihn weiterzuleiten? In jedem Fall kochten sich hier Schwierigkeiten zusammen.
"Walter, hier in Ihrer Nähe? Meinen Sie, dass das gut geht?"
Ein Anflug von Traurigkeit huschte über das Gesicht des alten Herrn. Ich kannte diesen Blick allzu gut. Er sammelte sich die rechten Worte zusammen. Gleich würde etwas Bedeutungsvolles folgen.
"Jeder muss sich irgendwann einmal seiner Familiengeschichte stellen, Kindchen. Das gilt auch für Walter. Er kann nicht immer vor seiner Verantwortung davon laufen. Jeder hat seinen Platz im Leben, an den er hingehört", sprach er und deutete mit dem Zeigefinger auf mich. Ich nickte, und nahm mir vor, das als Hausaufgabe mitzunehmen.
Seine Worte verfolgten mich die halbe Woche. Sie schlichen sich morgens vor dem Badezimmerspiegel in mein Bewusstsein oder überfielen mich abends vor dem Einschlafen. Der "rechte Platz im Leben". Ich musste mir etwas einfallen lassen. Er wollte also den Sohn in seiner Nähe haben. Dieser alte Dickkopf. Walter, Walter und wieder Walter!
Ich versuchte mir vorzustellen, wie es dem Sohn des Patriarchen nun gehen mochte. Wie er dasaß, den Kopf mit den blonden Locken in die Hände gestützt, den zerknüllten Brief des Vaters auf den Boden geworfen. Er hatte große gütige Augen, eines der wenigen Merkmale, die er mit seinem Vater gemeinsam hatte. Aber in allen anderen Aspekten war er ein so anderer Mensch … Dass ich überhaupt Anteil an seinem Leben hatte, war das Werk eines boshaften Schicksals. Ich hatte es damals nicht darauf angelegt, mit einem verzogenen Großindustriellensöhnchen zu tun zu bekommen. Letztendlich habe ich mir wieder einmal alles selbst durch mein eigenes loses Mundwerk eingebrockt.
Es passierte ziemlich zu Anfang des Semesters. Damals war ich gerade von der Bildchen-ins-Album-Klebe-Tusse zur Simulantin für gepflegte Unterhaltung aufgestiegen und es fiel mir noch schwer, mich für unsere regelmäßige Plauderei bezahlen zu lassen. Es muss im letzten Herbst gewesen sein. Ich erinnere mich an vergessene Handschuhe, im Fahrtwind eiskalt durchgefrorene Finger und das Schlagen der Standuhr. Elena hatte Tee gebracht, als Albin von Trollingen eine Fotografie aus der Brusttasche zog und mir gab. Darauf war ein kleiner Junge zu sehen.
"Kindchen, das ist mein Sohn. Es wird Zeit, dass Sie ihn kennenlernen."
Ich nahm das Bild und murmelte sinngemäß:
"Das ist aber ein süßer Junge."
Dabei fiel mir auf, dass das Foto nicht aktuell war und dass wohl auch Trollinger etwas zu alt wäre für einen so kleinen Sohn, doch noch bevor ich den Gedanken weiterspinnen konnte, gab er die Antwort:
"Walter starb, bevor er acht wurde. Virale Meningitis."
Mir fiel die Kinnlade herunter. Jedenfalls begriff ich nichts und stammelte nur ein abwesendes:
"Herr von Trollingen, das tut mir Leid."
Er hob die Schultern. "Das ist nun gute zwanzig Jahre her", ergänzte er. "Die Zeit lässt einen über alles hinwegkommen. In einer Woche wäre sein Dreißigster. Stellen sie sich einfach vor, was heute aus ihm geworden wäre!"
"Auf dem Internat mit Ach und Krach das Abitur geschafft, danach ein BWL-Studium abgebrochen", antwortete ich. Es war mir einfach so herausgerutscht. Ich hatte ausgeplaudert, was ich mir gedacht hatte, ich Idiotin. Die Augen des alten Mannes weiteten sich, wanderten in die Ferne, gingen durch mich durch, blickten an einen Ort, der jenseits dieser Welt lag. Irgendwie musste ich etwas Schlimmes angestellt haben.
"Woher wissen sie das?", fragte von Trollingen. Immer noch sah er mich an, als wäre ich durchsichtig. Der Klang seiner Stimme ließ mir einen kalten Schauer den Rücken hinunterlaufen. Ich hob die Schultern und antwortete wahrheitsgemäß: "Keine Ahnung. Ich hab' es mir nur so vorgestellt … einfach so. Zwei meiner Freunde studieren BWL."
Das war er also gewesen, der Anfang vom Ende. Die Fortsetzung folgte am Dienstag die Woche danach. Ich hatte die Episode mit der Fotografie längst vergessen, als mich Albin von Trollingen gleich zu Anfang unseres Treffens überfiel:
"Kindchen, ich möchte Sie etwas bitten: Dass Sie sich eine Geschichte ausdenken. Sie soll mit einem achtjährigen Jungen beginnen."
Leider hatte er mir damals nicht gesagt, wie sie enden sollte.
Jeden Dienstagnachmittag war ich von nun an Walters Ersatzmami. Von der Gesellschafterin war ich zur Märchenerzählerin befördert worden. Eine Übung, die einfach war, solange ich die wilde Kindheit meiner beiden Cousins kopieren konnte. Walter wurde ein schwer erziehbares Kind. Und er zog Katastrophen an. Ich ließ ihn nachts aus dem Bett fallen und sich den Arm brechen. In der Autotüre des väterlichen Oldtimers klemmte er sich die Hand ein. Und er zündete das Gartenhäuschen an. Einfach so. Nachdem Elena seiner nicht mehr recht Herr wurde, beschlossen wir, ihn in ein nobles Internat zu stecken.
Die Lösung begeisterte mich zunächst, denn seinen Vater bekam er nur noch selten zu sehen, in den Ferien zum Beispiel. Ich hatte mir von Walters Rausschmiss aus dem Elternhaus erhofft, mein Geschichtenerzählerleben einfacher zu machen. Doch weit gefehlt, denn Herr von Trollingen liebte es, seine knappe Freizeit ausschließlich zusammen mit seinem Sohn an exklusiven Orten zu verbringen: Lago Maggiore, St. Moritz, später Davos und Südfrankreich.
Recherche, Ortsnamen, Ambiente. Mein Dienstagsjob begann auch während der Woche in Arbeit auszuarten. Ich verbrachte Stunden im Internet, um mir in der Villa keine sachlichen Schnitzer zu leisten. Doch der alte Herr ließ sich nicht lumpen und verstand es, mich bei Laune zu halten. In den Semesterferien bestand er Monate im Voraus darauf, dass ich mir zwei Wochen frei halten müsse. Doch anstelle der versprochenen Recherche-Tour auf das Ostpreussische Landgut der Familie, fuhren wir an den Lago Maggiore. Und an die Cote d'Azur, einfach so. Zur Belohnung für mich und zur Erinnerung an eine Vergangenheit, die aus meinem Kopf stammte.
Diese Reise mit ihm war das Schlimmste. Ihre Intensität machte mich fertig. Ich musste stundenlang kleine Anekdoten von mir geben. Es war nicht das Erzählen an sich, das mir schwer fiel. Mittlerweile hatte ich Übung bekommen, kleine Beobachtungen und Details aufzusammeln, Material, das ich aus dem Tagebau meiner Umgebung zusammenraffen und unmittelbar auftischen konnte. Die Frau mit den hochhackigen Schuhen, deren rechter Fuß beim Gehen ganz leicht nach innen knickte. Ihre Tochter, das Mädchen mit den großen Ohrringen, wurde Walters beste Freundin. Alles das ging leicht von der Hand. Ein schlicht gekochtes Ragout aus Versatzstücken meiner nächsten Umgebung. Ohne tieferen Sinn und ohne Perspektive.
Aber der Horror war die Folgerichtigkeit. Walter hatte mittlerweile einen Charakter entwickelt, Wesensarten, denen er in groben Zügen treu bleiben musste. Und er war ein Junge. Was anfangs einfach gewesen war, wurde kompliziert, sobald er in die Pubertät kam. Ich konnte nicht in die Mottenkiste meiner eigenen Kleinmädchenträume greifen. Es artete aus und fing an, mich unter Stress zu setzen.
Aber ich hielt das Spiel länger durch, als ich zu Anfang gedacht hatte. Sich auf mittlerem Niveau durchmogeln zu lernen, war eine Nebenwirkung des Studiums. Ja, eigentlich ging das alles erstaunlich gut, bis Walter mich selbst eines Tages altersmäßig überrundet hatte. Von da an musste ich eine Welt beschreiben, die nicht die meine war. Noch nicht.
Es war so anstrengend, wie 1000 Höhenmeter den Berg hochzujoggen, aber ich hielt durch. Anstatt das Handtuch zu schmeißen, ließ ich Walter vor seinem Vater fliehen und sein Studium abbrechen. Er rebellierte gegen die Autorität des wortgewaltigen Patriarchen. Ein Ausweg mit Nebenwirkungen, wie sich bald zeigen sollte.
Albin von Trollingen trug schwer am Verhalten seines imaginären Sohns. So sehr, dass ich ein schlechtes Gewissen bekam, wenn ich beim Erzählen in seine traurigen Augen schauen musste. Ich hatte angefangen, den alten Mann zu mögen. Alle seine Schrulligkeiten machten ihn irgendwie sympathisch. Jedenfalls fand ich ihn so nett, dass ich ihn nicht leiden sehen konnte. Ein Privatdetektiv konnte Walter schließlich in Afrika aufspüren. Und ihm die Botschaft mitgeben: "Komm nach Hause, mein Sohn!" Ob er dem Ruf folgen würde, blieb zunächst offen und beschäftigte uns mehrere Wochen.
Dann erreichte unser Spiel schließlich die nächste Eskalationsstufe: Von Trollingen hatte mir den Brief in die Hand gedrückt. Sieben akribisch handbeschriebene Seiten, geschliffene Kalligraphie des enttäuschten Vaters. Das war eine neue Qualität, der berühmte Tropfen ins randvolle Fass eben.
Nun musste etwas passieren.
Ich strampelte von der Uni zum Wohnheim, nahm nicht den kürzesten Weg, sondern baute einige Hügel ein, um warm zu werden und die Puzzlestücke in meinem Kopf zu ordnen. Entscheidungen waren nicht meine Stärke. Selbst körperliche Aktivität half da nur manchmal. Selbstmord? Nein, das konnte ich Großvater Albin nicht antun. Der arme Mann würde unendliche Schuldgefühle entwickeln und sich für den Tod seines Sohnes verantwortlich fühlen. Oder doch? Der verlorene Sohn kommt heim und hat einen furchtbaren Streit mit seinem Vater. Er erschleicht sich den Schlüssel zum Waffenschrank und bläst sich in einem unbeobachteten Moment die Rübe weg. Lieber ein Ende mit dem väterlichen Jagdgewehr, als ein Schrecken ohne Ende? Nein, das ging nicht.
Im Gewühl meiner Gefühle versuchte ich zu verstehen, wonach ich eigentlich suchte. Ein Abschluss musste her, ein Ende. Und zwar eines, mit dem alle leben konnten. Und schließlich hatte ich die zündende Idee: Es musste mir gelingen, den Kreis zu schließen. Der Schlüssel war das achtjährige Kind, der "echte" Walter, so wie ich ihn auf der Fotografie gesehen hatte.
Des Dramas letzter Akt; die Standuhr hatte dreimal geschlagen. Elena hatte die Kekse abgestellt und sich diskret zurückgezogen. Es war Zeit für meinen letzten Auftritt.
"Ist mein Sohn angekommen?", fragte mich der alte Mann, wobei seine Frage müde klang, als sei er es mittlerweile Leid, sie Woche um Woche wieder zu stellen.
"Ja", antwortete ich, "er ist auf dem Heimweg, allerdings nicht freiwillig."
"War ich zu streng mit ihm?"
Die Ringe unter den Augen des alten Mannes schienen dunkler zu sein als sonst und seine Stimme kam mir schleppend vor.
"Das weiß ich nicht. Jedenfalls müssen Sie nun sehr tapfer sein."
Zwei müde Augen trafen mich, drangen durch mich hindurch, sprachen ein lautloses, resignierendes: "Dann ist es also so weit."
Ich nickte. "Afrikanische Trypanosomiase, Schlafkrankheit", fuhr ich fort, an meine Freundin Wikipedia denkend, "Sie wissen, was das bedeutet?"
"Nein, aber das werden Sie mir sicher die nächsten Wochen haarklein erzählen."
Ich nickte und dachte dabei unwillkürlich an den ungepflegt wirkenden Medizinstudenten vom Zimmer nebenan in meinem Wohnheim. Zum Schrecken des Endes würde also gehören, mich mit ihm auf Geruchsdistanz zu unterhalten und mir erklären zu lassen, wie das genau funktioniert, wenn das Nervensystem zerfällt und nur noch eine geistig umnachtete, sabbernde Hülle übrig bleibt. Ein erwachsener Körper mit den geistigen Fähigkeiten eines Achtjährigen.
"Dann werde ich wohl meinen Sohn endgültig verlieren", fügte der alte Mann traurig hinzu, um mit seinen Augen zu den meinen zurückzukehren. "Aber habe ich denn nicht im Laufe der Zeit eine Tochter hinzugewonnen?"
Ich schluckte. Eine Tochter? Was war hier zum Teufel schon wieder schief gegangen?