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Wiesland

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07.10.2015
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Wiesland

Aus dem Alter waren sie ja raus: von den Ferien erzählen. Aber Frau Keye, das war so eine, die hatte das noch nicht bemerkt, deshalb fragte sie in der Vertretungsstunde genau das: Was habt ihr denn in den Ferien gemacht? Sie schaute Marian an: „Na?“
Er war mit den Eltern auf einem Oldtimertreffen. „In Wiesloch.“ Er nuschelte das. Es klang wie Wiesland.
„Ach was“, sagte die Lehrerin, „in Island!“
Hatte sie Wiesland gesagt? Er zögerte, ob er das richtigstellen musste, dann nickte er nur und sagte: „Hm-m.“
Sie sind mit dem Maybach gefahren.
Ja wie, mit dem Maybach? „Aber doch nicht übers Meer!“
Wovon redete die? Marian merkte, er hatte den Absprung verpasst, bevor er wusste, wo es hinführte. Die Lehrerin half: „Ihr seid mit der Fähre gefahren. Ihr könnt ja das Auto nicht ins Flugzeug nehmen.“
Ein Mädchen kicherte.
Marian schüttelte hölzern den Kopf. Geflogen sind sie nicht. Er hoffte, dass Frau Keye jemand anderes drannahm.
Stattdessen malte sie den Schülern aus, was Marian gesehen habe. Von Vulkanen sprach sie, von Gletschern, vom schwarzen Strand bei Vik. Sie erklärte, was ein Geysir ist und wie er funktioniert. Sie machte sogar eine Tafelskizze.
Marian knetete seinen Radiergummi. Jetzt soll er also in den Ferien in Island gewesen sein. Da musste er durch.
Was sie denn dort angeschaut hätten?
Nach der Darstellung der Lehrerin traute sich Marian zu, einen Geysir gesehen zu haben. Deshalb sagte er: „Den schwarzen Strand also nicht.“ Er versuchte, festen Boden zu gewinnen und erzählte, was zutraf: Wie er auf einem verlassenen Gelände am Lenkrad gesessen hat und richtig selbst gefahren ist. Der Vater hat die Gänge eingestellt und vom Beifahrersitz Kommandos gegeben: Jetzt Gas weg, jetzt Kupplung. Sie sind bei offenem Verdeck gefahren.
„Nicht zu kalt?“, fragte Elle.
„Nee, da hast du so Kappen auf.“ Marian deutete mit den Händen eine Haube an, die den Kopf umschloss.
„Geil.“
Er fühlte sich wieder sicherer.
„Hä, warst du echt in Island?“, quäkte Lia. Sie hatte erst Wiesland verstanden und meinte dunkel, dass ihr das bekannt vorkam. War das nicht ein Stadtteil von Frankfurt?
Marian drehte sich zu ihr um. Er versuchte zu nicken. Er drehte sich wieder nach vorn.
„Als ob,“ flüsterte Jenny, „der und Island!“ Schließlich hatten die Ferien nur eine Woche gedauert.

Lias Mutter schöpfte Nudelsalat. „Soso“, sagte sie. „In Island. Und das glaubst du?“ Sie streifte die Finger an der Serviette ab und wischte über das Smartphone. „Mit der Fähre! Was das schon kostet.“ Sie tippte und wischte, dann hielt sie Lia das Display hin. „Und das ist erst die Hinfahrt. Also wirklich, vergiss es.“
„Eigentlich hat er Wiesland gesagt. Frau Keye meinte, es müsste Island heißen.“
„Wiesland gibt’s nicht,“ sagte der Vater.
„Und wie lang dauert das jetzt?“ Die Mutter tippte mit dem Finger und zählte zusammen. „Nee, wirklich nicht. Drei Tage hin, drei Tage zurück. Das wär ja verrückt.“
„Das machen selbst die nicht“, sagte der Vater.
„Der Marian ist bei den Jungs eigentlich einer von den netten“, sagte Lia.
„Eigentlich.“
„Arme Sau, wenn der das nötig hat“, sagte der Vater.
Selber!, dachte Lia. Sie spießte eine Bratwurst auf und langte quer über den Tisch.
„Vorsicht“, sagte die Mutter, „Senf macht Pickel.“
„Mama. Ich will den essen, nicht auf die Haut schmieren.“

Sie saßen an der Hafenmauer: Max, Jenny, Elle, Lia. Nur Marian fehlte.
Max schaute auf sein Handy. „Der kommt auch nicht“, sagte er.
Jenny triumphierte: „Hab ich’s gesagt? Als ob der sich Keinohrhasen antun würde.“
„Aber du!“
Die Sonne stand tief über dem Wasser. Der See blendete. Zwischen Leuchtturm und Löwe schipperte die Hohentwiel ein.
„Typisch Marian“, sagte Elle. „Der übt doch lieber Trompete. Hat er sicher nicht dabei gehabt, in Island.“
„Hey“, sagte Max, „ich würd fast wetten: doch.“
Lia stand ruppig auf. „Los jetzt“, sagte sie. Sie warf den Rucksack über die Schulter und ging voraus.
„Schlechte Laune, oder?“, grummelte Max. Er nahm seine Tasche und stolperte hinterher.
„Der verzapft doch eh Scheiß“, sagte Elle. „An den Nordpol für ein Oldtimertreffen.“
„Mit dem Schiff“, sagt Max. „Das dauert drei Wochen.“
„Quatsch“, sagte Lia scharf, „drei Tage.“ Max fasste Elle am Arm und hielt an. Auch Lia blieb stehen. „Is so“, sagte sie. „Drei Tage hin, drei Tage dort, drei Tage zurück. Passt perfekt.“ Jetzt, wo ihr klar war, dass das mit Island nicht stimmen konnte, war es wenig reizvoll, Marian hochzunehmen.
„Woher willst du denn das wissen?“
„So halt.“ Die Gesichter der drei, wenn sie erzählen würde, dass ihre Mutter das recherchiert hat.
Elle stieß Max mit dem Fuß an. „Ej, die war dabei.“
Jenny grinste: „Na, nicht rot werden!“
„So, ja?“, sagte Elle. Er beugte sich zu Lia hin und schmatzte einen Kuss in die Luft.
Sie trat ihm mit Kraft auf den Fuß, drehte sich um und ging.
„Ej, du Knallcharge. Einen an der Waffel?“ Elle legte die Hände an den Mund: „Lia ist verknallt in Marian!“ Er rieb sich am Hosenbein den Abdruck vom Schuh. „Lockenschaf“, grummelte er.
„Lia, bleib doch!“, rief Jenny.
Lia drehte sich um. Sie stützte sich auf die Oberschenkel und holte aus dem Bauch heraus Kraft. „Fick dich doch fester“, brüllte sie.
Jenny drehte sich um, zeigte mit beiden Händen auf sich und formte ein entgeistertes Gesicht. „What?“, sagte sie.
Elle schob die Unterlippe vor und wiegte den Kopf. „Respekt“, sagte er. „Krasse Show.“
„Mädels, fasst euch“, sagte Max. „Wenn ihr noch lange rumsteht, verpassen wir die Werbung.“

Dabei war die Sache offenbar schon nach dem Wochenende durch. Marian rüstete sich für weitere Fragen, informierte sich über Reykjavik, über den Gulfoss, über Thingvellir und den Grabenbruch, aber das war unnötig, es interessierte sich niemand dafür.
Wenn schon, dann bekam es jetzt Lia ab. Island-Lia hörte man eine zeitlang. Wenn sie morgens fehlte, sagte Elle: „Die ist in Island“. Er schaute sich grinsend im Klassenzimmer um. Damit erfand er einen neuen Standard, aber auch der nutzte sich ab.

Die warmen Tage gingen, der Herbst wurde dichter, der Winter kam. Im Januar beim Schlittschuhlaufen sah Marian, wie Elle Lia festhielt, an sich drückte, und wie sie ihm entwischte. Es wurde wieder wärmer. Auch Marian legte jetzt manchmal den Mädchen den Arm um die Schultern, vielleicht streifte er ihnen mit der Hand auch flüchtig durch die Haare. Sie hatten den Tag über am See gelegen und waren das erste Mal im Jahr bis zu den Knien ins Wasser gegangen. Jetzt packte Marian seine Sachen. Er musste los, Trompetenstunde. Er kniete auf dem Boden und stopfte die Jacke in den Rucksack. Lia streckte die bloßen Füße aus und angelte mit den Zehen nach den Tragriemen. Marian griff zu, hielt den Fuß fest und und kitzelte die Sohle. Lia kreischte, suchte an Jenny Halt, strampelte sich frei, zog fest die Beine an und flüsterte in Jennys Ohr.
„Hey“, sagte Jenny laut, „Lia sagt, du sollst sie nicht so schräg anbaggern.“ Lia schlug ihr mit der flachen Hand gegen die Schulter und grinste.
„Mach ich doch gar nicht“, sagte Marian befangen.

Aber dann beflügelte ihn, was damit im Raum stand. Er trat in die Pedale, vom See hoch nach Hause ging es steil bergauf und die Beine flogen ohne Mühe. Er stellte das Fahrrad in der Garage ab, stieß die Haustür auf, lief auf Strümpfen in die Wohnung und schwang, eingehängt an Türpfosten und Klinke, den Oberkörper ins Wohnzimmer. „Hallo“, rief er.
Die Mutter saß am Tisch und sortierte die Post. Marian ließ den Türpfosten los und ging einen Schritt vor. Die Mutter schob den Kopf näher an die Papiere heran.
„Ich bin da“, sagte er.
„M-hm“, machte die Mutter. Sie riss einen Brief auf.
Marian hielt die Klinke fest. „Mama, ich bin wieder da.“
Er stand aufrecht. Sie schaute ihn nicht an.

„Wir möchten mit dir reden“, sagte die Mutter abends am Esstisch.
Marian setzte sich auf. „Ja?“
„Jetzt essen wir.“
„Was ist denn los?“
„Nein, danach sprechen wir. Iss erst.“
Marian schob sich die Gabel in den Mund. Er biss auf einen Klumpen Soßenpulver, der sich salzig-säuerlich auf der Zunge löste. Er legte das Besteck quer über den Teller und stützte das Kinn auf die Fäuste.
„So“, sagte der Vater schließlich. Er nahm die Serviette vom Kragen, faltete sie zusammen und legte die Hand darauf. „Es hat sehr gut geschmeckt.“ Er nickte der Mutter zu.
„Hast du nichts zu sagen?“, fragte sie.
Marian kniff die Augen zusammen und machte ein fragendes Gesicht.
„Dein Vater war gestern auf dem Elternabend.“
Das klang vage bedrohlich.
Der Herr Roll, sagte der Vater, habe gesagt, es kümmere ihn an sich nicht, wenn Marian Märchen erzähle. Aber wenn seine Tochter sich deswegen nicht mehr in die Schule traue, dann müsse etwas geschehen.
„Was soll ich denn gesagt haben?“, fragte Marian.
Lia, habe der Herr Roll gesagt, sitze manchmal heulend im Zimmer und wolle gar nicht rauskommen.
„Was bitte soll ich denn gesagt haben?“
„Das fragen wir dich.“
„Die schwänzt doch einfach.“
„Hermann. Sag’s ihm.“
Der Vater holte Luft. „Wir seien mit dem Oldtimer in Island gewesen.“ Er seufzte das mehr, als dass er es sagte.
„Also?“, fragte die Mutter.
„Nein -“, Marian wehrte mit den Händen ab.
„Du hast das nicht gesagt?“
Marian stellte sich vor, wie sie da alle saßen, die Eltern, Stuhlkreis, und sein Vater als einziger im Anzug, als einziger mit grauen Haaren, und dann hebt Lias Vater den Arm und bringt die Island-Story.
„Dann lügt der Herr Roll also?“ Die Mutter neigte den Kopf vor und zeigte ein dünnes Lächeln. „Oder lügt vielleicht dein Vater?“
Marian schaute auf den Teller. „Ich hab das nicht gesagt, mit Island.“
„Und warum traut sich dann die Lia nicht in die Schule?“
„Weiß ich doch nicht.“
„Also lügt der Herr Roll?“
„Weiß ich nicht“, sagte Marian.
„Gut“, sagte die Mutter, „dann rufe ich ihn an und sage ihm, dass er gelogen hat.“ Sie stützte die Hände auf den Tisch, um anzudeuten, dass sie sich erhob.
„Nein!“, sagte Marian.
Die Mutter ließ sich in den Stuhl sinken. Sie wartete.
„Nur weil mal irgendein Idiot Island-Lia gesagt hat.“
„Ah -“, sagte der Vater. Er schaute die Mutter an, hob die Brauen und den Zeigefinger.
„Das ist ein halbes Jahr her“, sagte Marian.
„Mit dem Maybach in Island!“, sagte die Mutter. „So dumm muss man erst mal sein.“
„Mit dem Schiff.“
„Ah - !“ Der Vater hob den Finger.
„Die Frau Keye hat mich falsch verstanden.“
„So!“, sagte die Mutter. „Die Frau Keye. Jetzt ist es die Frau Keye.“
„Salamitaktik“, sagte der Vater.
„Würdelos“, sagte die Mutter.
Marian sprang auf. Der Tisch wackelte. „Ihr wollt das doch so“, schrie er, „ist euch doch egal, was gewesen ist. Bitte: ich bin schuld, schuld, schuld, ich hab’s verbockt, böse, ganz böse!“
„Schrei doch noch lauter,“ flüsterte die Mutter.
„Natürlich bin ich schuld, dass die verfickte Lia zu Hause sitzt und heult. Dass die einen beschissenen Liebeskummer hat mit ihrem Elle oder wen die grad geil findet!“
Der Vater legte nacheinander beide Handkanten auf den Tisch, als würde er eine Strecke abmessen. „Wer schreit, ist im Unrecht“, sagte er sachlich.
Die Mutter sprach ganz leise. „Schrei lauter“, sagte sie.
„Du bist doch hier das Arschloch!“, brüllte Marian.

Es war kein Spaß, am Morgen in die Schule zu gehen. Marian machte ein hartes Gesicht und ging an Lia vorbei auf seinen Platz. Er stützte den Kopf auf die Fäuste. Elle setzte sich neben ihn, schlug ihm schwer auf die Schulter und schüttelte den Kopf. „Schräge Nummer“, sagte er. „Da wirst du uns was erklären müssen.“ Marian drehte sich zur Seite. Er stand auf und setzte sich an einen freien Tisch. „Marian, wie war’s eigentlich in Island?“, rief einer. „Ich fass es echt nicht“, flüsterte Jenny.

Nach Schulschluss kniete Lia neben ihrem Rad, das Schloss klemmte. Marian hatte gehofft, sie sei schon weg. Als er kam, stand sie auf. Sie hielt das Schloss in der Hand.
„Hör mal“, sagte sie, „kann ich wissen, dass der zu deinem Vater rennt? Der Vollidiot. Was geht den das an. Ich hass den eh. Glaub mir, das wird der bereuen.“
„Warum hast du dir das ausgedacht, mit Island?“ Sie sagte das ohne Vorwurf.
„Weiß nicht.“ Er schüttelte den Kopf und fand keine Worte für eine Erklärung. Das passte nicht mehr, das war zu spät.
„Schau mal —“, sagte Lia. Sie ging auf Marian zu und legte ihm die Hand an die Schulter.
Über den beiden ging ein Fenster auf. Zwei Jungsstimmen blökten: „Lia ist verknallt in Marian.“ — „Island, Island!“
Lias Hand zuckte zurück. Einen Moment stand sie reglos, dann holte sie aus und schlug Marian ins Gesicht. „Für deine Lügerei!“ Sie riss das Fahrrad an sich und fuhr davon.
Marian hob den Kopf. Am offenen Fenster oben war niemand zu sehen.

Düstere Tage. Zuhause ging Marian seinen Eltern aus dem Weg. Sie riefen ihn nicht zum Essen, von sich aus ging er nicht. Er übte Trompete und die Mutter kam nicht, um zu sagen, dass sie Kopfweh habe. Später, wenn die Eltern am Fernseher saßen, machte er sich in der Küche Knäckebrot und zog kalte Würstchen aus dem Glas.
Und Lia kam nicht in die Schule. Besser so.

Aber dann saß sie mit einem Mal auf der Mauer gegenüber der Musikschule. Marian kam aus der Tür, und genau gegenüber saß Lia und schlenkerte mit den Beinen, schlug die Fersen gegen den Putz. Sie machte ein Zeichen: Komm.
„Wenn’s sein muss“, sagte er.
Sie fuhren mit den Rädern, Lia voraus. Marian ließ sich führen, einfach so, als müsste es so sein, sie voraus, er hinterher, als könnte das immer so weitergehen, und er brauchte nicht zu wissen, wohin.
Lia ließ das Fahrrad ins Gras fallen und ging auf die Wehrmauer zu, auf den Durchlass zum See, die Treppe. Sie schaute sich nicht um, ob Marian ihr folgte. Hier konnte man sitzen, auf den warmen Steinen und davon träumen, man säße am Meer. Die Stufen reichten ins Wasser, zum Grund sah man nicht.
Lia hatte die Arme um die Beine geschlungen. Sie stützte das Kinn auf die Knie.
„Also“, sagt sie, „ich will dir was sagen.“
Marian ärgerte sich, wie ihm das Herz klopfte.
„Also“, sagte Lia, „mein Papa.“ Sie holte Luft. Sie nahm den Rucksack ab und legte ihn vor sich hin. „Mein Papa ist gar nicht mein Vater. Ich hab das rausgefunden. Ich kenn den gar nicht, meinen Vater. Meine Mama hat den verlassen. Ich hab keine Ahnung, wo der ist. Haiti oder so.“ Aus der vorderen Rucksacktasche zog sie ein Foto. „Kuck“, sagte sie.
Marian nahm das Bild in die Hand. Lias Mutter saß im Blümchenkleid auf dem Sofa, ein Mann hatte den Arm um sie geschlungen. Die Farben auf dem Foto waren verblasst.
„Der?“, fragte Marian. „Du siehst überhaupt nicht so aus.“
„Doch“, sagte sie. „Das gibt’s.“ Sie zog das Haargummi ab, beugte den Kopf zur Seite, und schüttelte die Haare auf. Die Spitzen strichen Marian über den Nacken. „Schau, die Locken. Die hat sonst keiner von uns.“ Lia drehte Marian das Gesicht zu. „Ich werd im Sommer brauner als alle andern.“ Sie schnippte das Haarband über den Daumen. Sie schaute auf den See. „Das weiß niemand außer dir.“ Sie schnippte mit dem Haarband. „Das weiß nicht mal mein Papa.“ Sie lehnte sich an Marian, zeigte auf das Bild. „Benoit“, sagte sie. Ihr Gewicht drückte sich an seine Schulter. „Also“, sagte sie, „jetzt hast du was gegen mich in der Hand. Meine Mama wird mich zerfleischen.“
„Quatsch“, sagte er.
Er hätte gerne etwas gefragt, hätte wissen mögen, wie das gemeint war, dass sie ihm das sagte, ausgerechnet ihm, was das bedeutete. Ganz so, wie er es sich wünschte, fielen ihm die Worte nicht ein. „Warum erzählst du mir das?“, fragte er schließlich.
„Weiß nicht“, sagte sie. „Wiedergutmachung?“
Sie saßen nebeneinander. Lia schnippte mit dem Haarband. Jedes Mal spürte Marian den Ruck an der Schulter.

 

moin, moin @erdbeerschorsch, (hab ich eigentlich mal erwähnt, wie süß ich diesen Nick finde! Kontrastprogramm oder ist der Name Programm, die Frage stellt sich mir immer wieder)

Was für ein schöner Ausflug in die Kindheit, haben wir eventuell im selben Klassenzimmer gesessen?
Ich hatte durchweg meinen Spaß, kann jetzt eigentlich auch nur lächeln und Dankeschön für das Lesevergnügen sagen - leicht, locker, gut eingefangen. Ich hab ein paar Zitate rausgesucht, um vielleicht doch noch etwas Minimalkonstruktives beizutragen. Wobei, ist Lob nicht auch konstruktiv?

Aber Frau Keye, das war so eine, die hatte das noch nicht bemerkt, deshalb fragte sie in der Vertretungsstunde genau das: Was habt ihr denn in den Ferien gemacht?
Die frage ist doch echt der Klassiker, da könnte man ganze Bücher mit füllen, super.

„Ach was“, sagte die Lehrerin, „in Island!“
Hatte sie Wiesland gesagt? Er zögerte, ob er das richtigstellen musste, dann nickte er nur und sagte:
Und schon ist es passiert. Da grüble ich immer Wochenlang über einen möglichen Konflikt, hab jetzt was dazugelernt, es geht auch einfach!

„Das machen selbst die nicht“, sagte der Vater.
„Der Marian ist bei den Jungs eigentlich einer von den netten“, sagte Lia.
„Eigentlich.“
„Arme Sau, wenn der das nötig hat“, sagte der Vater.
Selber!, dachte Lia. Sie spießte eine Bratwurst auf und langte quer über den Tisch.
„Vorsicht“, sagte die Mutter, „Senf macht Pickel.“
„Mama. Ich will den essen, nicht auf die Haut schmieren.“
Hier weiß ich, bin ich schon mehrfach hängen geblieben. Wer spricht da? Ein Umbruch zuviel?

„Lockenschaf“, grummelte er.
Was für ein süßes Schimpfwort, der kommt eindeutig aus gutem Hause ...

„Dann lügt der Herr Roll also?“ Die Mutter neigte den Kopf vor und zeigte ein dünnes Lächeln. „Oder lügt vielleicht dein Vater?“
Auch so ein Klassiker aus Kindertagen. Die Erwachsenen haben natürlich recht und das geht ganz einfach zu beweisen ... Als Kind hast Du da keine Chance, die Worte werden einfach passend gedreht und schwups, bist du Schuld ...

Sie saßen nebeneinander. Lia schnippte mit dem Haarband. Jedes Mal spürte Marian den Ruck an der Schulter.
Zwischendurch war es mir ein wenig zuviel kindliches Jugendempfinden, das liegt aber eindeutig an meiner unromantischen Veranlagung. Aber hier, im Schlusssatz, da hast Du für mich perfekt den Wandel vom kindlichen "Lockenschaf" zum "nicht uninteressiert" gezeigt. Ich glaube, ich werd mal schauen, ob Du noch mehr Jugendgeschichten im "Angebot" hast, da hab ich zur Zeit eindeutig eine Bildungslücke, aber dagegen kann man ja etwas tun ...

Wünsche eine schöne Weihanchtszeit
witch

 

Hi @greenwitch,

es freut mich natürlich, dass sich hier unter der Geschichte doch noch ein bisschen was tut. Auf der anderen Seite ist es auch bequem, wenn sich nicht so viel tut, weil ich doch gerne auch zurück kommentieren würde, wenigstens den Leuten, die in der Challenge vertreten sind, und gar nicht weiß, wann ich das machen soll. Aber zumindest weiß ich, dass ich die Kommentatoren keine drei Wochen mehr auf Antwort warten lassen möchte, und über die geruuuhsamen Feiertage wird das ja sicher auch nicht passieren müssen.
Vielen Dank in jedem Fall für den schönen Kommentar!

-- "Hier weiß ich, bin ich schon mehrfach hängen geblieben. Wer spricht da? Ein Umbruch zuviel?"
- Nein, Lia darf das nicht sagen, die Einschränkung würde ihr nicht stehen. Oder meinst du den zweiten Umbruch, dass der zu viele sei und der Vater das sagt? Das ginge. Ich hab's mir so mir gedacht, dass man (erster Schritt ) zwischen Lia und Vater halbautomatisch die Mutter einsetzen würde, und das (zweiter Schritt) es an sich auch egal ist, wer von den Eltern das sagt. Insofern fand ich, ich könnte versuchen, mir einmal "sagte xy" zu sparen.

Schön dass du vorbeigeschaut hast! Ich komme bei dir bestimmt auch vorbei ... früher oder später!

Besten Gruß
erdbeerschorsch

 

„Vorsicht“, sagte die Mutter, „Senf macht Pickel.“
„Mama. Ich will den essen, nicht auf die Haut schmieren.“

„Seit der ersten urkundlichen Erwähnung Wieslochs im Jahr 801 ist einiges geschehen und die Stadt hat sich zu einer attraktiven und lebendigen Kommune entwickelt ...“ beginnt die Webseite der Stadt Wiesloch*, und wenn es nach mir ginge, würde und wüchse das Mittelzentrum zu einem modernen Seldwyla** – zusammengesetzt aus der mittelhochdeutschen „saelde“ (= Glück/Wonne/Segen) und der „wil(e)“ (= Weile“ i. S. einer/s Zeitdauer/-raums) mitsamt des allemännlichen „wyl“ = villa, ville/Weiler für die Endsilbe, kurz, was den Ort ergibt, an dem das Glück eine Zeitlang wohnt, denn als halbtaube Nuss kan und will ich gar nicht alles verstehen und erkläre mich solidarisch mit Frau Keye und Marian,

lieber schorsch,

Von Vulkanen sprach sie, von Gletschern, vom schwarzen Strand bei Vik. Sie erklärte, was ein Geysir ist und wie er funktioniert. Sie machte sogar eine Tafelskizze.
...
Nach der Darstellung der Lehrerin traute sich Marian zu, einen Geysir gesehen zu haben.
Und wenn nicht, so nehme er eine kleine Schifffahrt auf dem nördlichen Mittelrhein in kauf und tuckere nach Andernach, nicht um zwo Schritt vor und drei zurück zu hüpfen und zu prozessieren, sondern um den deutschesten aller deutschen Geysire zu bewundern – und wo es nur einen gibt (m. W.) ist es leicht, als superlativ daherzukommen.

Und als Alibi, nochmals vorbeigeschaut zu haben - es kann doch nicht angehen, dass dieses bezaubernde Stück Jugendliteratur weniger Beiträge hervorlockt als meine gottlose Lästerei!, schreib mir mal hierzu die Lautschrift auf (oder beser, lass es die Mutter tun. Die schafft es ja)

„M-hm“, machte die Mutter. Sie riss einen Brief auf.

Tschüss & schöne Tage diese Tage nur noch Übertage,wo gerade Untertagebau abgebaut wurde ...

Het windje Dante Friedchen

* https://www.wiesloch.de/pb/,Lde/Home/Ueber+Wiesloch.html
** Soweit ich mich erinnere, tauchen in der Novellensammlung Gottfried Kellers nur zwo junge Leute auf, nämlich Romeo und Julia auf dem Dorf ...

 

Hi @Friedrichard,

mit oder ohne Vorwand sehe ich dich hier gern aufschlagen. Ob ich mit den Beiträgen noch aufhole und gar deine Gerichtssitzung noch einhole, können wir den dort Beklagten fragen, der müsste es eigentlich wissen. Oder wir warten ab. Wenn es aber nicht so kommt, müsste ich das schon alleine mir und meiner Trägheit zuschreiben, denn ich habe den Faden ja zwischendurch selbst ein bisschen verwaisen und verwahrlosen lassen.

Wie dem auch sei, gibt es hier noch eine Antwort auf deine Forderung, die da war:
-- "schreib mir mal hierzu die Lautschrift auf (...)
„M-hm“, machte die Mutter. Sie riss einen Brief auf."
- Die Mutter hat mir zutragen lassen, dass sie es so versuchen würde: [m'ʔhm̩]. Ich weiß aber nicht, ob es stimmt.

Besten Gruß
erdbeerschorsch

 

Mensch erdbeerschorsch,

was für eine wunderbare Geschichte.
Das meine ich ganz ehrlich, für mich hast du hier voll ins Schwarze getroffen, oder besser ins Rosarote, in die Jugendzeit. Ich mag, wie sich der Konflikt aufschaukelt, welche Wendungen er zieht, welche Konsequenzen folgen und vor allem mag ich, wie du die Geschichte enden lässt. Das mag ich besonders, denn so entlässt sie mit einem verklärten Lächeln und zeigt das Wirrwarr dieses Lebensabschnittes am besten auf: Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Hier in der anderen Reihenfolge, und wunderbar sensibel erzählt.
Sooo viel habe ich von dir ja noch nicht gelesen, aber das ist definitiv meine Lieblingssgeschichte von dir.
Kleine Kritik möchte ich am Personal üben. Da wird es bei zu vielen Gestalten dann manchmal etwas unübersichtlich. Aber okay, das vergeht dann mit dem Lesen. Aber auch, weil das Ensemble ab Mitte ja auch weniger wird (also im Fokus steht)
Großartig ist die Szene am Tisch. Sehr gut eingefangen. und auch die Reaktion Marians. Diese Hilflosigkeit, das Gefühl des Nicht-verstand-Werdens gepaart/ genährt durch das Unvermögen, sich klar auszudrücken. Echt gut.
#
Kleinvieh

„Ej“, Elle stieß Max mit dem Fuß an, „die war dabei.
Sieht schrecklich aus, aber es ist auch so nicht möglich. Als künstlerischer Griff klar, ist alles erlaubt. Hier bremst es aber aus
Mit der Sohle rieb er sich den Abdruck vom Schuh. „
mit der Sohle einen Abdruck wegreiben? :susp:
Lia schlug ihr mit der flachen Hand ohne Kraft gegen die Schulter und grinste.
der Satz leiert. Zu lang, wenigstens ohne Kraft raus
„Mach ich doch gar nicht“, sagte Marian befangen.
nötig, das befangen? Sehr erklärend, wirkt doch besser indirekt
„Nein, danach sprechen wir. Iss erst.“
Krasse Stelle. puh
„Schau mal —“, sagte Lia. Sie ging auf Marian zu und legte ihm die Hand an die Schulter.
Über den beiden ging ein Fenster auf. Zwei Jungsstimmen blökten: „Lia ist verknallt in Marian.“ — „Island, Island!“
sieht und schön aus mit den beiden –
der zweite doch eh unnötig?
machte er sich in der Küche Knäckebrot und zog kalte Würstchen aus dem Glas.
wunderbarer Satz, der so bildhaft gut alles aussagt.

sehr, sehr gerne gelesen
dir einen prächtigen Start ins neue Jahr

grüßlichst
weltenläufer

 

Hi @weltenläufer,

ich muss ganz schnell mein schlechtes Gewissen ausdrücken, dass ich mich hier gerade ziemlich rar mache (nicht zuletzt auf der vielzitierten Geben-Seite) und danke dir eilig für den schönen Kommentar. Ich mache eigentlich auch gerade was ganz anderes, bin auch sofort wieder weg, möchte aber doch vorher noch eine Stelle ändern:

-- "mit der Sohle einen Abdruck wegreiben? :susp:"
- Ich hab's: der wischt sich den Abdruck am Hosenbein ab. Ob das der Weisheit letzter Schluss ist, wird sich vielleicht nicht sofort zeigen, aber zumindest macht es mal Sinn.

Und dies: "Ej", Elle usw., das glätte ich auch gleich noch ein bisschen.

Soweit mal für jetzt ...

Herzlichen Dank und
besten Gruß
erdbeerschorsch

 

Hallo @erdbeerschorsch,

ich weiß gar nicht, woran es lag, aber ich hab deine Geschichte, nachdem du sie eingestellt hast, vermutlich so um die zehn Mal angefangen zu lesen und bin nie über den ersten Absatz hinausgekommen. Hatte wohl 'nen Knoten im Kopf.

Der hat sich jetzt aber zum Glück gelöst, ja, zum Glück. Ich finde die Ausgangslage super komisch und absurd und skurill, diese Lüge, die ja eigentlich gar keine sein sollte. Hat mich an eine Lüge aus meiner Kindergartenzeit erinnert, über die ich mich heute noch wundere, da gab's ein Buch mit einer Abbildung der Tupolew, und irgendwie kam dann eins zum anderen und ... na, ich hab behauptet, dass ich auf dem Weg zum Kindergarten gesehen hätte, wie sie die gebaut hätten :shy: Was vollkommen plemplem war, aber man kaufte es mir ab, und so lief ich dann den Rest des Tages zwar mit geschwollener Brust, aber vor allem mit einer dicken Portion Herzklopfen herum, in ständiger Erwartung, dass irgendwer meine Lüge aufdecken würde. Was laber ich denn hier ... Zurück zur Geschichte.

Aber was kann ich denn zu der groß sagen, außer, dass sie mir gefällt. Natürlich hat sie wieder den Schorsch-Flair, ich versuche immer noch auszumachen, was ich an deinem Geschreibsel so besonders finde, irgendwie fühlt es sich immer an, als würde mehr dahinter stecken, als man auf den ersten Blick erkennt, ich sehe deine Protagonisten häufig als ... weiß nicht, hört sich jetzt bestimmt doof an, aber sie wirken oft tot auf mich, im Sinne von - nicht mehr hier, alles wirkt immer so verweht, wie eine Erinnerung, die nur noch ganz blass in irgendjemandes Hinterkopf existiert und sich nur für den Moment, in dem man das liest, noch mal verfestigt. Immer schwebt da ein Hauch von Melancholie und Schmerz mit, aber hintergründig, kaum greifbar, nur mit irgendeinem sechsten Sinn wahrnehmbar.

Und was für Kreise die Lüge jetzt zieht! Zum Glück bin ich damals mit meiner Tupolew so glimpflich davongekommen.
Der Marian scheint mir ja eh schon ein Zerdenker zu sein, und jetzt ist seine kleine Lüge auch noch zum Elternabendmaterial geworden, schrecklich. An der Stelle frage ich mich dann übrigens zum ersten Mal, wie alt die Kids da eigentlich sind, vor allem hier:

Dass die einen beschissenen Liebeskummer hat mit ihrem Elle oder wen die grad geil findet!

Das klingt mir nach einem ... Fünfzehnjährigen? Vorher hatte ich ihn irgendwie jünger vor Augen, so um die zehn, aber was soll's, da verschwimmen die Grenzen ja.

Schau mal —“,

Mensch, der ist aber groß.

Lia ist verknallt in Marian.“ — „Island, Island!“

... Der auch.

Marian hob den Kopf. Am offenen Fenster oben war niemand zu sehen.

Düstere Tage.


Wahrscheinlich sind es unter anderem solche Stellen, die die oben erwähnten Eindrücke bei mir auslösen. Eine tolle Stelle, btw.

Hier konnte man sitzen, auf den warmen Steinen und davon träumen,

Vielleicht ein Komma nach den Steinen?

„Kuck“

Na endlich, darauf hab ich schon gewartet, jetzt ist es ein echter Schorsch :bounce:

Ja, sehr viel mehr kann ich nicht sagen, ich finde die Geschichte richtig toll, sie hat eine ganz besondere Atmosphäre und zeigt die Welt der jungen Leute aus einem Blickwinkel, den man nicht oft zu sehen bekommt, wie ich finde, es fühlt sich echt an, nicht wie das, was Hollywood uns gerne mal als Jugend verkaufen will.

Vielen Dank dafür und viele Grüße und bis bald,

Bas

 

Hey-ho @Bas,

das ist ja schön, dass du es doch noch geschafft hast, an der Geschichte hängen zu bleiben und mir davon zu berichten. Dass es so lange dauert, bis ich antworte, ist kein Gradmesser für die Freude, die mir das bereitet. Es ist nur wie so oft: Man kommt erst nicht so richtig dazu, dann vergeht der erste Tag, dann der zweite ...

Wenn du Figuren magst, die tot wirken,
-- "im Sinne von - nicht mehr hier, alles wirkt immer so verweht, wie eine Erinnerung, die nur noch ganz blass in irgendjemandes Hinterkopf existiert und sich nur für den Moment, in dem man das liest, noch mal verfestigt."
- dann hätte ich da sogar noch eine kleine Geschichte in der Schublade, auf die das wahrscheinlich noch viel mehr zutrifft und die ich jetzt sogar fast versucht bin auszupacken. Also nicht jetzt sofort. Irgendwann vielleicht.

-- "Mensch, der ist aber groß."
- Der Gedankenstrich? Ich dachte, die gehören so.

Herzlichen Dank für's Vorbeischauen!

Besten Gruß
erdbeerschorsch

 

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