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Wieso nicht?
Er nahm das Schlittern nicht wahr, als er die Kurve der knorrigen Landstraße schnitt. Helle Schemen peitschten durch sein Sichtfeld, doch es blieb bei Schemen. Ob durch den Regen oder seine Tränen, konnte er nicht erkennen. Der Motor heulte wie eine zornige Furie und für einen kurzen Moment prasselten kleine Steine irgendwo unter ihm ans Blech der Karosserie. Das Poltern und Rütteln im Fahrwerk war Im Moment das einzige, was in seiner Welt noch Substanz hatte und er suchte es.
*
„... bist du hier öfter?“
Er musste sich anstrengen, um sie zu verstehen. Um ihr feines Gesicht weiter betrachten zu können, versuchte er, ihre Worte von den glänzenden Lippen zu lesen. Er nickte übertrieben deutlich und lange. Der Bass dröhnte durch seinen ganzen Körper. Etwas in ihm wollte im Rhythmus der Musik zucken und springen, so wie es ihre kraus gelockten Haare gerate taten.
„Ein paar mal im Monat“
Der DJ legte mit großem Aufhebens eine neue Platte auf und sie schwang kokett mit den Hüften, eine mit lockeren Ringen behängte Hand in die Höhe erhoben, und wedelte auf diese Weise eine unendlich langsame Pirouette vor ihm. Ihre Lippen bewegten sich zum Text, während ihre Schultern den Bass nachzeichneten. Genauso plötzlich kehrte ihre Aufmerksamkeit wieder zu ihm zurück. Sie lächelte verwirrt und blinzelte mit ihren seltsam hellen, jadegrünen Augen.
„Was?“
„MANCHMAL.“
„Auch aus Lindau?“
„WAS?“
„LINDAU?“
Sie lehnte sich, eine Hand auf seine Brust gestützt, an ihn, um näher an seinem Ohr sprechen zu können. Er spürte ihren warmen Atem und roch, leicht säuerlich, den Alkohol darin.
„NEIN, WANGEN.“
„KANNST DU MICH MITNEHMEN?“
Ein anzügliches Lächeln unterstrich den funkelnden Blick, den sie aufsetzte, als sie ihre Lippen bedächtig von seinem Ohr zurückzog. Eine zufällige Berührung streifte ihn. Er realisierte, dass sich ihre Haut anfühlte wie feiner Samt, ein wenig klebrig von Schweiss und Makeup, und seine Gedanken verklärten sich. Ihr Gesicht verharrte auffallend nah vor seinem.
Er versuchte, zu lächeln, doch das Blut, das ihm ins Gesicht schoss lähmte prickelnd jeden Muskel darin. Die Wucht der Musik fegte seine Willenskraft hinweg. Bestimmt war er der einzige Junge, dem angesichts einer solchen Chance zum Heulen war. Ihm wurde schwindlig.
*
PEOPLE EQUALS SHIT! PEOPLE EQUALS SHIT! PEOPLE EQUALS – RRAAAAAAAH! Jeder Takt des Schlagzeugs war wie eine Peitsche auf seinem Rücken, jede Gitarre wie ein Messer, das seine Haut abschabte. Er schrie jede einzelne Silbe des Textes mit. Wie rasend trieb er seinen Wagen weiter gegen die Massen von Regentropfen an, die gegen seine Windschutzscheibe prallten, als wolle er jeden einzelnen von ihnen über den Haufen fahren. Während er eine Kuppe passierte, spürte er nicht, wie der Wagen kurz abhob. Erst den harten Aufprall spürte er, als er auf den triefnassen Asphalt zurückfiel.
*
„Heute ist dein Geburtstag. Alles Gute!“
Er musste lachen, als er sah, wie sie die Worte mit einer theatralischen Geste hervornuschelte. Vorbei an der langstieligen roten Rose, die sie zwischen ihren Zähnen hielt. Sein Herz frohlockte. Dass ausgerechnet sie an seinen Geburtstag dachte, hätte er als allerletztes erwartet. Er konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Solche Frauen machten sich normalerweise nicht viel aus Nerds.
„Wenn du heute nichts vorhast, würde ich dich gerne auf einen Kaffee einladen.“
*
Das Zischen der Dose hatte etwas Hypnotisches, während er sie wie ein Schattenboxer in einigem Abstand zu der kruden Betonwand bewegte. Wie durch Magie entstanden dort, wo seine Hand auf die Wand wies, farbige Linien. Die fehlende Verbindung faszinierte ihn.
„Ist echt cool von dir, dass wir an deinem Geburtstag malen gehen. Ich versprech dir, das wird das fetteste Piece seit langem.“
„Ja, Mann. Ab morgen spricht jeder über die MidniteSociety. Wir leisten hier Pionierarbeit.“
„Yeah, Pionier-Styles!“
Seine Gedanken waren woanders. Definitiv. Er war heute irgendwie nicht ganz bei der Sache.
„Aber warum malst du ne Rose statt nem E?“
*
Sie legte den Kopf schief und hob gekünstelt kokett ihre filigranen Brauen an. Ihre Augen funkelten eisblau.
„Bei mir daheim.“
*
Mit einem Scheppern traf die Dose den Bordstein.
„Ach FUCK!“
„Was?“
„Fuck Rose, Mann.“
„Is doch schön“
Die beiden Jugendlichen blickten eine Weile lang nachdenklich auf die großen bunten Schriftzüge. Es war ein wenig zu kalt für die Jahreszeit und als sie zu frösteln begannen, malten sie weiter.
„Ach-“
„FUCK!“
„Hä?“
„FUCK! BULLEN“
Zurück blieb ein Bild. Kräftige Linien umgaben schräge Buchstaben, die mit Chromfarbe gefüllt waren. Alle paar Sekunden war es in blaues Licht getaucht. Einige Dosen und Latexhandschuhe bildeten auf dem Bürgersteig eine Spur, die in der umgebenden Dunkelheit verschwand. Mitten zwischen beiden Schriftzügen schwebte leblos eine zerbrechliche Rose, ihre Wärme unter dem glänzenden Chrom verborgen.
*
Ein letztes lautes Rauschen und das Geräusch der Kieselsteine verklang, als er den Wagen mit blockierenden Rädern auf dem Waldparkplatz zum Stillstand zwang. Er atmete schwer, stützte seinen Kopf kraftlos auf das Lenkrad. Einige Minuten verharrte er so. Atmend, dem gelegentlichen Pochen des schwindenden Regens lauschend. Im Wald regnete es oft noch stundenlang weiter. Dampf stieg vom heißen Blech der Motorhaube auf, als er sich durch die weit aufgestoßene Fahrertüre ins Freie schälte. Sein Hals schmerzte vom Brüllen, aber sein Herzschlag rauschte nun nicht mehr in seinen Ohren. Die kühle, feuchte Waldluft strömte in seine Lungen und sie hatte etwas Heilsames. Er zündete sich eine Zigarette an und lauschte.
*
„Es liegt an dir.“
Er schwieg. Zorn verschnürte seine Kehle. Das Herz pochte ihm bis zur Brust.
„Verdammt, ich rede mit dir!“
Er wusste, was sie jetzt sagen würde. Er kannte auch die Antwort, doch etwas in ihm sträubte sich, sie auszusprechen. Er wollte ihr nicht wehtun. Eigentlich wollte er überhaupt nicht, dass ausgerechnet sie jetzt vor ihm stand und ihm die Frage stellte. Nervös wischte sie sich eine fettige Strähne ihrer glatten Haare aus dem Gesicht. Sie wirkte so müde.
„Wieso sind wir überhaupt zusammen?“
„Weil ich versucht habe, sie loszulassen.“, schwieg er. „Hat aber nicht geklappt.“
„Das hat so alles keinen Sinn.“ Sie wandte sich von ihm ab. Ihre Schultern bebten. „So will ich nicht weitermachen. Weißt du - Das ist, als wärst du gar nicht da.“ Seine Chance, sich zu verteidigen, alles gerade zu biegen, dies nur einen Streit von vielen sein zu lassen, schwand. Er ließ sie bewusst verstreichen. Stille hing wie ein Vorhang aus schwarzem Samt zwischen ihnen. Er war froh, dass er ihr in diesem Moment nicht in ihre leeren, blassgrauen Augen sehen musste.
*
Er stieg ein und schnallte sich an. Nachdem er das Licht eingeschaltet hatte, ließ er den Scheibenwischer einmal über die nasse Scheibe gleiten. Dann startete er den Motor. Langsam fuhr er los. Verspätete Regentropfen fielen von den Bäumen und ließen es für ihn in Zeitlupe regnen. Als er am Waldrand stand, schweifte sein müder Blick erst nach links, dann nach rechts. Licht flackerte verwirrend zwischen den Bäumen. Er ließ die Kupplung bedächtig kommen. Das würde er schon schaffen.
*
Mit gesenktem Kopf starrte sie in die dunkle Ecke des Zimmers. Ihre Stimme klang hohl, als sie die Worte hervorpresste, die er den ganzen Abend erwartet und letztlich doch gefürchtet hatte.
*
Die Zeit dehnte sich und um ihn herum war kaltes, weißes Licht. Er fühlte nichts, als er die vielen feinen Glassplitter betrachtete, die strahlend an seinem Gesicht vorbeischwebten. Der Regenschleier wich einem komplexen Muster aus Rissen in der Frontscheibe. So unendlich schön. So schnell.
*
„Bitte geh jetzt.“
*
So still.