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Wim Drexelius’ Repertoire
Als sich das erste Licht des Morgens über den grob zusammengestrickten Stoff schlich, ganz langsam, von der aufgedruckten Aufschrift ‚Aardappels’ über Risse und Löcher, hin zu seiner trockenen Gesichtshaut und den tiefliegenden Augen, lag Wim Drexelius schon lange wach.
Mit beginnender Helligkeit konnte er stoßweise seinen Atem verfolgen und hatte sein zweites Paar Socken genommen und sie über die Hände gezogen. Dieser Winter war hart und lang und mit Sicherheit genauso kalt wie der Körper der Frau, die vor zwei Wochen noch mit roten Wangen in den Warteraum gekommen war, kurz bevor er sein Spiel begonnen hatte. Welches Buch hatte sie doch gleich gelesen? Er wusste es nicht mehr und sie hatte es schon bald zur Seite gelegt und ihre Aufmerksamkeit ihm zugewandt.
Und wie ist es bei ihr wohl passiert? Er sah sie in eine Badewanne steigen, Kerzen leuchteten, ihr Buch auf dem Rand, gleich daneben ein Glas Wein. Sie schloss die Augen und dachte nicht an den schweren Körper der Tischlampe über ihr, direkt auf dem Sims stand das Ding, dem Sims, der das ganze Zimmer umrundete. Der Lampenständer leuchtete im flackernden Licht der Kerzen, nahe am Rand. Er könnte ... wird fallen, sie am Kopf treffen und ... und jetzt hör auf!
Zu oft malte er diese sinnlosen Bilder und quälte sich zu dem einen oder anderen unvermeidlichen Ende. „Wim, lass es sein und komm besser hoch“, sagte er in die kalte Luft. „Was passiert, passiert.“
Er stand auf und ging ans Fenster. Die Bilder der Frau verflüchtigten sich wie sein Atem, sichtbar nur für den Augenblick.
Der Bahnhof lag wartend vor ihm. Bereit, die ersten Fahrgäste des Tages auszuspucken und andere aufzunehmen. Wo auch immer es hingeht, dachte er und wandte sich ab.
Für ihn war der Weg in den letzten Jahren jeden Tag der gleiche gewesen. Er war ein Pendler, wie diejenigen, die er in der verglasten und beheizten Wartehalle dort auf dem Bahnsteig traf. Nur pendelte er nicht sehr weit und er trug keine Aktentasche mit sich. Wim hatte nur seine Gitarre, die er jeden Tag zu seiner Arbeitsstätte – Wirkungsstätte, meiner Wirkungsstätte - trug. Raus aus diesem kahlen und altersschwachen Zimmer, jeden Abend, um die Musik mit seinen alten Händen, über stets neue Saiten auf den abgegriffenen Bünden an seine Zuhörerschaft zu verteilen. Sie ihnen zu schenken. Er wandte sich vom Fenster ab, ging zu dem Koffer, in dem das Instrument auf ihn wartete. Es wollte gepflegt werden.
Der Bahnhof war Teil eines sehr wenig bedeutsamen Ortes, nicht ganz sechzig Kilometer östlich von Amsterdam. Nur weil mehrere Bahnlinien zusammentrafen, fand man hier so viele Menschen – wartend, kaum wirklich da - was sicher auch jedem von ihnen am liebsten wäre. Der Ort war zu langweilig und die Menschen auf der Durchreise, zu genervt oder ängstlich, ihren Anschlusszug zu verpassen und somit noch eine Nacht hier im Niemandsland vertändeln zu müssen.
Vielleicht waren deswegen die Zimmer der Herberge fast immer leer, vielleicht deswegen hing das Schild mit der schwindenden Aufschrift ‚Bij Vrouw Kersentuin’ schief vom alten Vordach und wohl deshalb war Frau Kersentuin auch die kleine, gebückte Gestalt, deren Lächeln – sofern es jemals eines gegeben hatte – unter ihrem viel zu großen Kopftuch verborgen blieb.
„Sie schulden mir noch die Miete, Wim“, begrüßte sie ihn, als er kurz darauf die Treppe hinabstieg – die erste und fünfte Stufe auslassend, sie knarrten.
Er lächelte sie an. „Liebe Agnes, heute wird ein guter Tag, warten Sie’s ab. Morgen halten Sie Ihr Geld in Händen.“
Sie bückte sich zu einem alten Kübel und murmelte etwas in sich hinein. „Ich hab Ihnen ein paar Brötchen zurückgelegt. Nehmen Sie sich welche, bevor Sie gehen.“
„Sie sind ein Engel, Agnes.“ Wim schlängelte sich an ihr vorbei, nahm sich ein halbes Brötchen und verließ das Haus.
Es war kalt und sein Sakko dünn. Den Mantel hatte er zusammen mit anderen Dingen letzten Sommer versetzt, um die Miete zahlen zu können, als das Geld, das in der Wartehalle den Weg in seinen Koffer fand, noch spärlicher war als in den Jahren zuvor. Zitternd erreichte er den Bahnsteig.
Wim sah nicht viele Menschen warten, es war auch noch früh. Auf dem Bahnsteig stand nur ein junges Pärchen, welches den in einem Glaskasten ausgestellten Fahrplan studierte und die dort angegebenen Zeiten mit denen auf einem zerknitterten Blatt Papier verglich. Er ging an ihnen vorbei, auf die leuchtende Insel des Warteraums zu.
Das Licht hinter dem Glas versprach Wärme und die breiten Schalensitze Entspannung und Ruhe. Am hinteren Ende stand ein großer Getränkeautomat, der neben all den gängigen Erfrischungsgetränken auch Tee, Kaffee und heiße Schokolade anbot. Wim zählte sieben Wartende; der nächste Zug nach Amsterdam ging in zehn Minuten, keine Verspätung, zumindest laut Anzeigetafel nicht. Er zögerte einen Moment, als er die Hand schon gegen die Tür gedrückt hatte; hinter dem Glas rannten zwei Kinder lachend durch die Sitzreihen. Ein Mann sah von seiner Zeitung auf, rief ihnen etwas zu und lächelte dann. Halb entschlossen wollte Wim auf dem Absatz kehrt machen, doch ein plötzlicher, ungestümer Windstoß trieb ihn in die andere Richtung und durch die gläserne Tür hinein.
Langsam tat er einige Schritte in den Raum. Die Wärme war einladend. Der lächelnde Mann sah auf und nickte. Wim nickte zurück.
Er ging durch die Reihen und setzte sich auf einen der hinteren Plätze, direkt bei dem Getränkeautomaten.
An jedem Tag, den er abends spielend auf dieser kleinen Bühne verbringen würde, saß er morgens hier und betrachtete die Menschen. Er fiel niemandem auf. Wie auch, dachte er, sie warten alle nur darauf, dass ihre Reise weitergeht. Das macht sie so gummiartig und austauschbar. Es war die gleiche, dehnbare Maske des Wartens, die sie hier immer trugen. Der lächelnde Mann, der ihn gegrüßt hatte, und seine beiden spielenden Kinder passten nicht ganz in das Bild, das er sich von diesem Ort gemacht hatte. Wim war es unangenehm, dass sie Persönlichkeit mitbrachten.
„Kaffee?“, sagte jemand neben ihm.
Wim fuhr zusammen und sah auf. Einen Augenblick lang tanzte ein Gesicht unscharf vor seinen Augen. Dann erkannte er den Mann.
„Melchior! Was willst du denn hier“, zischte er und sah sich kurz um. Niemand beachtete sie. „Du warst doch erst vor zwei Wochen da.“
Von dem Kaffeebecher in Melchiors Hand stieg Dampf auf. Er nahm einen Schluck und setzte sich in einer fließenden Bewegung neben Wim. „Nun, hier zu sein ist ja kein Verbrechen, oder?“
Wim schüttelte den Kopf. Er wandte sich Melchior zu und lehnte sich weiter nach vorn. „Einmal im Monat haben wir gesagt. Einmal! Du warst erst vor zwei Wochen hier, also verschwinde wieder.“
Melchior lehnte sich zurück und spähte interessiert über Wims Schulter zu den beiden vorbeilaufenden Jungen. „Woher diese Kinder nur immer soviel Energie nehmen“, sagte er, ohne Wim anzusehen, „Ohne Kaffee würde ich morgens gar nicht erst hochkommen. Tolle Entdeckung, das Zeug.“ Er nahm einen weiteren Schluck und nickte lächelnd. Wim fuhr herum, fand aber niemanden, der in ihre Richtung sah. In diesem Moment tönte eine laute Ansage aus den Lautsprechern, die auch im Wartesaal deutlich zu vernehmen war. Der Zug würde gleich einfahren, bitte Vorsicht an Gleis zwei.
„Einmal im Monat“, fuhr Melchior fort und sah Wim jetzt wieder an, „das besagt ja nicht, wann im Monat, nicht wahr?“
Wim stand auf. Im gleichen Moment taten es alle anderen im Raum. Der Zug fuhr ein; hier und dort wurde noch in Taschen oder Rucksäcken gekramt, ein Buch verstaut oder die Fahrkarte gesucht. Während sich der Raum leerte, beugte sich Wim vor. Er musste etwas lauter reden, um das Kreischen der Bremsen zu übertönen. „Verschwinde wieder, Melchior. Du bist noch nicht dran.“ Er drehte sich um und folgte dem Vater, der versuchte, seine beiden Söhne vor sich her aus der Tür zu treiben.
Melchior schlug die Beine übereinander, nahm einen weiteren Schluck und sah Wim kopfschüttelnd und mit einer beeindruckend echt dargestellten Version leichten Tadels hinterher. Wann er dran war, was er tat – das konnte ihm nicht viele sagen.
Und ganz gewiss nicht Wim Drexelius.
Wim ging geraden Schrittes wieder zurück in sein Zimmer, sah weder nach links noch nach rechts. Die alte Kersentuin beachtete er überhaupt nicht, er verstand nicht mal, was sie ihm nachrief.
Oben angekommen, warf er die Tür hinter sich zu, schloss ab und setzte sich. Und mit dem Moment verließen ihn die Kräfte. Das seltsame Gefühl, der letzten Konstante – der Vorhersehbarkeit - seiner kleinen, wahnsinnigen Welt beraubt worden zu sein, versetzte ihn in Angst.
Ja, sie hatten einen Deal. Und ja, er wusste, man hielt sich an die Regeln, besonders bei diesem Vertragspartner. Aber jetzt fing Melchior an, die Regeln zu verdrehen.
Wim stand auf, ging ans Fenster und sah hinunter. Da unten saß er noch, trank seinen Kaffee und sah sich die Leute an. Sie kamen und gingen.
Wim stützte sich auf das Fensterbrett und drückte die Stirn an das kalte Glas. „Du Wahnsinniger“, murmelte er.
Die ganzen Menschen – ihretwegen war er diese verfluchte Abmachung eingegangen. Ihretwegen lag er nachts wach, ihre vielen Gesichter zogen vor seinen traumlosen Augen vorbei.
Sie hatten das Gefühl für die Schönheit des Moments verloren. Das Gespür für die besonderen Töne, die ihnen zum Hören geschenkt worden waren. In all den langen Jahren als Straßenmusiker, allein oder als Teil eines Ensembles an irgend einer Ecke der Stadt, hatte er sie nur selten, immer weniger und dann überhaupt nicht mehr gesehen: Die lachenden, die weinenden Augen, die ungebrochene Aufmerksamkeit und das Festhalten an dem Moment.
Er wäre daran verzweifelt, war es vielleicht – und dann war Melchior gekommen.
Mit all seiner einnehmenden Freundlichkeit, mit seinen Zusicherungen und dem brüderlichen Verständnis hatte er Wim eingewickelt. Hatte ihm zugehört, ihn verstanden, ihm letztendlich eine Lösung angeboten. Und Wim? Hatte sich gegriffen, was er bekommen konnte.
Jetzt stand er hier. Mit einem einfachen Deal in der Hand: Die volle Aufmerksamkeit der Leute, garantierte Befriedigung aller, die zuhörten. Bis auf einen. Denn einen pro Monat, den durften sie sich nehmen. Und das hatten sie getan. Monat für Monat. Seit wann ging das jetzt so?
Und ich bin schuld daran.
Dieser Gedanke war nicht neu. Er begleitete Wim seit dem Tag, an dem er das Angebot angenommen und die Warnung ignoriert hatte.
Er erinnerte sich noch gut an das Gesicht des jungen Mädchens, das an dem Tag, an dem Melchior ihn zum ersten Mal besucht hatte, abends auf einmal hinter ihm gestanden hatte. Es war eine kleine, zierliche Gestalt mit langen Haaren, die ihr auf den Schultern lagen und ihr Gesicht einrahmten.
„Tu es nicht“, sagte sie und sah ihn an. Wim betrachtete sie erstaunt und mit ein wenig Misstrauen. Er war sich sicher gewesen, allein auf der Straße zu sein, als Melchior gegangen war. „Fang nicht an, andere für dein Wohl zu opfern.“
Er erschrak heftig. Drehte sich in einem ersten Impuls um und ging. Wer ist sie? Woher kann sie es wissen? Dann – und bei dem Gedanken blieb er stehen – wurde es ihm klar. Das ist die Gegenseite. Verrückt, das es so ist, aber das muss die andere Seite sein! Melchior hatte für Unten das Angebot auf den Tisch gelegt und war gegangen; jetzt war die Konkurrenz gekommen, um ihres abzugeben.
Diese Erkenntnis gab ihm Kraft und gleichzeitig eine verrückte Hoffnung, dass er sein Ziel vielleicht doch anders erreichen konnte. Wim blieb stehen und drehte sich um. Das Mädchen war nur wenige Schritte entfernt und kam jetzt langsam auf ihn zu. Wie macht sie das bloß, dachte er. Als würde sie schweben.
„Was könnt ihr mir denn stattdessen bieten?“, fragte er mit belegter Stimme.
„Bieten?“ Sie sah ihn an und ein leises Lächeln erschien auf ihren Lippen. Wie für ein kleines, dummes Kind, dachte Wim in einem Anflug von Zorn.
„Wir können dir gar nichts bieten. Die Welt ist nun mal nicht so, als dass man Wünsche und Veränderungen wie ein Marktschreier feilbieten kann.“ Sie wartete einen Moment. „Oder wie ein hilfsbereiter Freund, der deine Probleme für dich löst, um mal auf Melchior einzugehen. Den haben sie dir doch wohl geschickt, oder?“
Wim öffnete den Mund, zögerte dann aber. Wie viel durfte er hier erzählen, ohne seine Absprache mit Melchior zu gefährden? Ob darüber was im Vertrag steht?
„Melchior weiß, wie er seine Versprechungen verkaufen muss“, fuhr das Mädchen fort. „Als genau die Teile des Puzzles, die Leuten wie dir fehlen, um die Löcher in ihrem Leben zu schließen. Du glaubst, du hast die richtige Entscheidung getroffen, nicht wahr?“
Im ersten Moment schon wollte Wim den Kopf schütteln. Wofür hält sie mich, dachte er. Denkt sie, so etwas könnte mir Spaß machen? Er dachte an das Versprechen, das Melchior ihm gegeben hatte. Er würde wieder Hoffnung im Leben haben, einen Sinn und ein Publikum, dass ihn brauchte. Also schwieg er einfach und sah ihr dabei nicht in die Augen.
„Du weißt es selbst. Es ist keine gute Sache.“ Sie strich sich durch ihr Haar und sah ihn eine Weile an. Im nächsten Moment hielt sie ihn bei der Hand, ohne das Wim ihre Bewegung erahnt hätte. Ihre Berührung war ganz warm. Ihm wurde es unheimlich – und zugleich fasste ein Hauch von Geborgenheit zaghaft nach seinem Herz.
„Tu es nicht“, sagte sie.
Er zögerte einen Moment, wollte die Wärme ihrer Hand nicht einfach aufgeben. Er stellte sich wieder das Bild vor, dass ihm durch den Kopf gezogen war, seit Melchior gegangen und der Vertrag beschlossen war: Die vielen glänzenden und hungrigen Augen, die auf seinen Händen lagen, die ihm zugereckten Hälse, die Ohren möglichst nah, um auch nicht einen Ton in der ganzen Vielfalt zu verpassen. Und ihn durchdrang wieder dieses kindliche Gefühl der Vorfreude auf morgen Abend. Auf den ersten Abend einer neuen Zeitrechnung. Wim zog seine Hand zurück und fuhr sich mit einem kurzen Lachen durchs Haar.
„Du bietest mir ja gar nichts“, sagte er und schaute sie an. „Alles was du sagst ist, ich soll mir diese Chance entgehen lassen und so weitermachen wie bisher.“ Jetzt kam ihm ihr Lächeln wieder so überheblich vor wie zuvor. „Nur ist da nichts mehr, womit ich weitermachen könnte. Wenn ich es nicht ändern kann – und du offensichtlich erst recht nicht – dann lass ich es Melchior machen. Sterben müssen Leute so oder so. Und daher vielen Dank für dein ... Angebot, aber ich hab meine Entscheidung bereits getroffen. Auf Wiedersehen.“ Er drehte sich um und ging, ohne sie noch einmal anzuschauen.
„Sag es uns, wenn du deine Meinung änderst“, rief sie ihm hinterher. „Damit wir retten können, was zu retten ist.“ Wim ging in sein neues Zeitalter hinein.
Auch wenn er das Mädchen seitdem nie wiedergesehen hatte – dieser letzte Satz und ihr stilles Gesicht hatten ihn in seinen Träumen nie verlassen.
Sag es uns, wenn du deine Meinung änderst.
Jetzt stand er hier oben und sah auf das herunter, was Melchior ihm gegeben hatte. Sein Leben, sein Kosmos war zusammengeschrumpft auf die wenigen Stunden, die er abends dort unten verbrachte. Stunden, in denen er in die ausgehandelten entzückten Gesichter schauen konnte, wenn er die Lieder spielte, die er so liebte und die es so sehr verdient hatten, gehört zu werden. Er gab sie den Reisenden mit auf den Weg, so dass sie jedes davon in den fiebrigen Träumen der folgenden Nächte würden hören können.
Die Zeit davor und danach fühlte er sich wie tot.
Und heute, dachte er und drehte sich vom Fenster weg, heute soll schon wieder einer dafür sterben.
Er setzte sich an den Tisch und nahm seine Gitarre in die Hand.
Die ist es, hatte er damals gedacht, als er sie bei einer Wohnungsauflösung in einer Ecke auf dem Speicher gefunden hatte. Die ist für mich gemacht worden. Und das war die Wahrheit, denn auf keinem anderen Instrument hatte er sich je so zuhause gefühlt. Sie war viel Geld wert, aber das hatte keiner gewusst und Wim hatte damals um ein ausdrucksloses Gesicht kämpfen müssen, als er um den Preis feilschte. Es war eine Einzelanfertigung, das Deckenholz Fichte, Boden und Zarge aus Palisander, der Klang dadurch ganz weich – und noch leise und scheu. Die Gitarre war kaum gespielt und Wim hatte im ersten Jahr, beim Einspielen des Instruments, gespürt, wie er Tonart für Tonart erweckte, sie ausbildete, rechtgehend aufzog, um sie in die Welt zu entlassen. Der Klang wuchs mit den Jahren und bedankte sich bei seinem Schöpfer mit wundervoller Dichte und Vielfalt.
Wim fuhr mit der Hand den Hals empor und seine Finger ließen sich auf Saiten im ersten und zweiten Bund nieder. A-Moll war der Akkord, den seine Finger griffen, wenn er sie gewähren ließ. Er glaubte, dass sich jeder Gitarrist einem Akkord verschrieben hatte, ohne ihn bewusst gewählt zu haben; einem Akkord, der die Basis seines Spielens war und der ihn in einer gewissen Weise beschrieb und sein Spielen prägte. Seiner war immer dieser gewesen.
Er schlug die Töne einzeln an und lauschte. Seine Finger öffneten die Melodie, wanderten zum nächsten Ton und er sah sie über die Saiten gleiten, lauschte dem leichten Quietschen, das seine Fingerkuppen auf den tiefen Saiten erzeugten. Er betrachtete das Holz der Bünde, erspürte die Furchen, die an den Stellen entstanden waren, an denen die zumeist gespielten Töne zu Hause waren und es entfaltete sich eine Melodie.
Sie war kraftvoll, ruhig und sicher ging sie von der Hand und sie nahm ungewohnte Wege. Vertraute, viel gespielte Abläufe gingen immer wieder über in überraschende Teile, die aus diesem Moment heraus erwuchsen. Wim sah noch einmal zum Fenster, sah den grauen Himmel, konturlos, und dann schloss er die Augen und überließ sich diesem Moment.
Die Melodie trug ihn, machte es ihm leicht, all seine Probleme auszublenden und er genoss einfach die Arbeit seiner Finger, das Zuspiel der Zupfhand, das seine Linke dankend annahm und einband.
Wim schwang sich an der Melodie empor. Er verließ die Senken der Gefühlswelt, in denen die Angst lag, dass ihm keiner zuhörte und er erkannte, für wen er eigentlich spielte. Für wen er schon immer gespielt hatte und das dieser Mensch das Zuhören wieder lernen konnte.
Als der Abend sich näherte und die Sonne in einem kurzen, roten Aufbegehren den Horizont entflammte, machte Wim sich bereit, nahm den Gitarrenkoffer und verließ das Zimmer.
Unten an der Treppe sah er Frau Kersentuin an der Rezeption sitzen. Ganz entgegen ihrer sonstigen Art, schien sie nichts zu tun. Er lächelte ihr zu. Überrascht sah er, dass sie zurücklächelte – sie hatte ihr Kopftuch abgenommen. Das gibt’s nicht, dachte er. Sie hat ja ein wirklich schönes Gesicht.
„Ich habe Sie spielen gehört“, sagte sie.
Wim wusste nicht wirklich, was er darauf sagen sollte, schwieg deshalb und ging zu ihr.
„Es war sehr schön. Um ehrlich zu sein, ich habe mich vor ihre Tür gestellt und gelauscht.“
„Wirklich?“ Jetzt war Wim überrascht. So viel Offenheit hatte er ihr nie zugetraut. „Vielen Dank. Es freut mich, dass es Ihnen gefallen hat.“ Sie nickte und beide schwiegen einen Moment und sahen sich an.
„Tja, wissen Sie, ich muss jetzt los“, sagte Wim und nickte in Richtung Tür. „Heute wird es ein besonderer Abend.“
„Tatsächlich?“
„Ja. In gewisser Weise.“ Jetzt lächelte er wieder. „Wissen Sie, es ist jemand zum Zuhören gekommen, der lange Zeit nicht mehr da war.“ Er wandte sich ab und ging zur Tür. Und vielleicht, fügte er in Gedanken hinzu, wird jemand anders heute das letzte Mal dabei sein.
Der Winterabend hatte den Bahnsteig fest im Griff. Am Tag hatte es zu schneien begonnen und dicke, weiße Wirbel umhüllten die Laternen und trübten ihr Licht auf eine sehr schöne Weise. Zuckerwattenhüllen, dachte Wim für sich und das Wort gefiel ihm. Auch der schwache, aber eiskalte Wind, der sich in Ärmel und Hosenbeine schlich, machte ihm nur wenig aus. Er selbst kam sich ein wenig vor, als würde sich um ihn herum ein weicher, warmer Schein in der Luft verteilen, der ihn geradezu wohlig von der Außenwelt abschirmte.
Der Wartesaal leuchtete in dem dichten Schneetreiben vor ihm und Wim beeilte sich, hineinzukommen. Auch wenn ihm die Kälte heute nicht so viel anhaben konnte, je weniger klamm seine Hände waren, desto besser würde er spielen.
Er öffnete die Tür und ging hinein. Er setzte sich gleich drei Plätze links von der Tür, ein günstiger Platz, weil so jeder an ihm vorbei musste.
Acht Leute saßen im Saal und Wim ordnete sie automatisch in Gruppen ein. Durch die vielen Jahre als Straßenmusiker, der auf die Freigiebigkeit eines unfreiwilligen Publikums angewiesen war, hatte er ein ziemlich sicheres Gespür für die Menschen bekommen.
Eine Familie, Vater, Mutter, Sohn; weiterhin drei Pendler, vielleicht vier, dachte Wim, wenn der eine da nicht studiert. Bei den Pendlern war es recht schwer zu sagen, ob sie freigiebig waren – zumeist waren sie noch im Stumpfsinn ihres Arbeitsalltags gefangen, aber wenn es ihm gelang, sie mit seinem Spiel ein Stück des Weges heraus zu leiten, dann waren sie ihm meistens dankbar.
Die junge Frau in der gegenüberliegenden Ecke würde sicher etwas geben. So waren sie einfach.
Seine Ankunft war nur von dem Ehepaar registriert worden, die beide kurz von ihrem Buch aufsahen – sie ein wenig länger als er.
Wim schloss für einen Moment die Augen, um die Wärme zu genießen und den immer in der Luft hängenden schwachen Geruch von Fertigkaffee zu suchen. Dann nahm er sein Instrument aus dem Koffer und prüfte noch einmal die bereits gestimmten Saiten. Den Koffer schob er mit dem Fuß so zurecht, dass jeder ihn sehen konnte, ohne dass er im Weg lag. Regel Nummer eins, dachte er, lass sie keinen Umweg suchen.
Dann begann er zu spielen.
Schon mit den ersten Tönen, die seine Finger fanden, wusste Wim, dass er es wieder hatte, das Gefühl von heute Nachmittag. Es nahm den Raum ein, Sitz für Sitz, in einem Tempo, dass er noch nie gesehen hatte. Wim schaute auf. Alle sahen ihn an, die vergessenen Bücher und Zeitschriften noch in der Hand. Er lächelte und sie lächelten zurück und er spielte weiter. Spielte zuerst noch einige der einstudierten Stücke, Greensleeves war dabei, das wunderschöne Windmill eines Menschen namens Uli Noack, von dem er schon lange ein Tonband besaß. Sein Publikum lächelte. Entgegen seiner eigentlichen Strategie, nach der er am Ende eines Stücks wartete - auf Applaus und vielleicht sogar auf eine Gabe, die nicht die eines Hinausgehenden war – ließ er den Liedern gerade soviel Zeit, wie sie zum Ausklingen, zum Nachklingen und Berühren brauchten.
Sein Publikum lächelte.
Es war kein fiebriges Lächeln, wie er es sonst immer gesehen hatte und ihre Gesichter gaben ihm Hoffnung, dass sein Vorhaben vielleicht wirklich gelang. Denn hier lag kein Bann in der Luft. Die Leute lauschten ihm nicht, weil sie von irgendwo an den Haaren, an der Gurgel gepackt und ihre Augen und Ohren ihm zugezwungen wurden.
Sie hörten jemanden spielen, der es um des Spielens willen tat. Und der nur das wollte.
Wim spielte eine Eigenkomposition, was er normalerweise eher selten tat, denn bekannte Melodien brachten gemeinhin mehr Aufmerksamkeit. Doch heute ging jedes Stück ineinander über, Sanz, eine Interpretation eines Liedes von Leonard Cohen, Wim Drexelius, Bach.
Wim schloss die Augen und spielte wie nie zuvor.
Das letzte Stück endete.
Stille.
Dann Applaus. Schritte und langsamer Applaus. „Ganz, wirklich ganz großartig!“
Nein, dachte Wim.
Langsam öffnete er die Augen. Melchior stand vor ihm, lächelte ihn mit seinen blendenden Zahnreihen an und klatschte.
„Wirklich, Wim, alter Freund! So hab ich dich ja noch nie spielen gehört.“
„Spielen Sie doch weiter“, sagte eine Stimme.
Es war die junge Frau, die sprach. Wim sah ihre Augen feucht schimmern. „Bitte, spielen Sie doch weiter“, wiederholte sie. Sie hatte sich so weit in ihrem Sitz vorgebeugt, dass Wim befürchtete, sie würde gleich herausfallen.
„Nein, wie ÜBERAUS RÜHREND!“, parodierte Melchior und war sofort neben ihr. In einer fließenden Bewegung schwang er sich auf einen Sitz. Die Beine übereinandergeschlagen, lehnte er den Kopf an ihre Schultern, ohne dass sie es zu bemerken schien.
„Bitte, bitte, nur weiter. Da capo! Da capo!“ Er lächelte immer noch.
„Geh weg von ihr!“ Wim sprang auf, die Gitarre in einer Hand, halb erhoben. Die Frau zuckte zusammen. Wim sah sich um. Einige wirkten wie frisch aufgeweckt, aber jedem stand der plötzliche Schrecken im Gesicht.
Wim senkte seine Gitarre. „Entschuldigen Sie -“, begann er.
„Aber nein!“ Melchior war schon wieder neben ihm. „Sie müssen sich doch nicht entschuldigen, guter Mann. Als Künstler haben Sie das Recht – nein, geradezu die Pflicht! – ab und an einfach mal emotional in Aufruhr zu geraten. Um die lästigen Bewunderer kümmere ich mich dann schon.“ Er bleckte die Zähne. Auf einmal waren sie groß. Lang und spitz.
Er zuckte zurück. Die Menschen um ihn herum sahen ihn besorgt und etwas ängstlich an.
„Nein“, flüsterte er und versuchte, Melchior in die Augen zu sehen. „Nein, ich trete aus dem Vertrag aus. Er gilt nicht mehr.“
Melchior blieb mit zur Seite geneigtem Kopf stehen, als sei er gerade auf dem Weg zur nächsten Parodie eingefroren. „Wie bitte?“, fragte er.
„Ich sagte, der Vertrag ist - “
„MAN KANN NICHT EINFACH AUS DEM VERTRAG AUSTRETEN!“
Melchior packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich heran wie einen Sack Altkleider.
„MAN STEIGT NICHT AUS DEM VERTRAG AUS!“
Speicheltropfen flogen Wim ins Gesicht und er hörte etwas unterhalb der Worte Melchiors’; eine nie gehörte Tonlage, nie gehörte Worte. Seine Blase ließ ihn in Stich und er spürte die Feuchtigkeit an seinen Beinen. Er suchte die Melodien, die eben noch den Raum erfüllt hatten. Hoffte, dass sie ihm Kraft geben würden. Sie waren das letzte, das einzige, was ihm blieb.
Ich höre die Melodie, dachte er und an diesem Gedanken hielt er sich fest als er weiter redete.
„Es ... ist vorbei, Melchior. Keine Opfer mehr für dich. Für mich.“ Melchior brüllte auf, schlug ihm ins Gesicht und Wim hörte Knochen brechen, noch bevor er den Schmerz spürte. Dann wurde er durch den Raum geschleudert und krachte gegen den Getränkeautomaten. Die Gitarre fiel ihm aus der Hand – er hatte sie die ganze Zeit gehalten – und er sackte über ihr zusammen.
Die junge Frau schrie. Alle sprangen auf und einige rannten zur Tür. Melchior kam auf ihn zu, fuhr den Arm aus – ohne auch nur hinzusehen – und einer der Pendler wurde in die Luft gehoben und gegen den Türrahmen geschmettert, vor dem er mit verrenkten Gliedern liegen blieb. „Bleibt, wo ihr seid!“, schrie Melchior und Wim, der mit schmerzverzerrtem Gesicht vor dem Automaten lag, hatte das Gefühl, als könnten sie ihn fast tatsächlich hören. Sie alle blieben stehen und sahen sich panisch um.
„Wieder zu dir“, sagte Melchior etwas ruhiger und ging vor Wim auf ein Knie. Unter den dichten Brauen drängten sich Augen aus ihren Höhlen, von denen Wim wünschte, er hätte sie nie gesehen.
„Noch einmal in aller Ruhe“, sagte das Ding und nahm ihn tatsächlich bei der Hand.
„Wir – du und ich - wir haben einen Vertrag abgeschlossen. Und du, Wim, mein alter Freund, hast doch auch erhalten, was ich dir versprochen habe. Über all die Jahre. Dieser Vertrag besteht und du kannst ihn nicht beenden.“
Wim richtete sich ein wenig auf und stöhnte. Schmerz überall. Er hatte Angst, nackte Angst vor dem, was passieren würde, aber jetzt war er so weit gegangen.
Er sah an Melchior vorbei.
„Hört ihr mich? Ich beende dieses Abkommen! Hier und heute!“
Melchior sah ihn einen Moment lang verwirrt an, dann sah Wim Erkenntnis in seinem Gesicht aufleuchten. Melchior lachte auf.
„Sie können Dir nicht helfen, Wim. Nicht bei einem gültigen Abkommen.“
Wim rief weiter. Er wollte Melchiors Worte ignorieren, aber sie hatten Zweifel losgetreten. Hört ihr mich denn nicht, dachte er. Sie hat doch gesagt, ich kann euch Bescheid geben, warum hört ihr mich dann nicht?
Melchior packte ihn am Hals.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Die junge Frau war ein paar Schritte näher gekommen und beugte sich in seine Richtung. Er sah die Angst in ihren Augen. Gott, ist sie mutig. So, wie ich in der Gegend rumgeflogen bin.
„Kann ich irgend etwas tun, damit das aufhört?“
Wim sah sie an - und sah dann das leise Lächeln in Melchiors Gesicht.
„Nein! Gehen Sie -“, begann er, aber Melchior packte sie mit einer seiner fließenden Bewegungen, zu schnell für das menschliche Auge.
Sie schrie auf.
Melchior warf den Kopf zurück. Die spitzen Haizähne in seinem Mund blitzten auf und er schnappte nach ihr wie ein Raubtier und riss ihr einen großen Brocken Fleisch aus der Wange. Wim hörte das Reißen. Sah das Blut spritzen. Er griff nach dem erstbesten, dass seine Hände fanden. Melchior hielt inne, wandte sein grinsendes und blutbeschmiertes Maul Wim zu. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich die anderen Leute durch die Tür drängten. Den toten Pendler hatten sie beiseite geschoben.
Das Publikum ergreift die Flucht, dachte er zusammenhangslos. Das Finale fängt doch gerade erst an.
Der Gitarrenkorpus beschrieb einen weiten Bogen in der Luft und traf mit einem dumpfen Klatschen auf. Melchiors Kopf gab nach und er fiel zur Seite. Die Frau glitt zu Boden und kroch panisch davon.
Wim saß mit dem Rücken an den Automaten gelehnt und rührte sich nicht. Die Sekunden verstrichen zäh und langsam. Er hörte die Frau wimmern, aber er konnte den Blick nicht von Melchiors Kopf wenden.
Dort, wo die Gitarre ihn getroffen hatte, war eine große, unförmige Delle entstanden. Eine weiße, zähe Flüssigkeit trat heraus und sickerte träge auf den Boden.
Die Zähne in Melchiors Mund sahen wieder normal aus. Wäre sein Kopf nicht so entstellt, sähe er fast aus, als ob er schliefe.
Hat ja auch einen anstrengenden Tag gehabt, dachte Wim. Langsam zog er sich an dem Automaten hoch und als er schließlich stand, humpelte er vorsichtig um den reglosen Körper herum und auf die Frau zu. Sie drückte sich in die Ecke und sah ihn mit offenen Entsetzen an. In ihrer Wange war ein großes Loch und Wim glaubte, er konnte die Zahnreihen dahinter sehen. Er erbrach sich neben der Sitzreihe.
Als die Krämpfe vorüber waren, lehnte er den Kopf erschöpft an einen Sitz und versuchte zu überlegen, was jetzt zu tun war.
„Jetzt sieh, was du getan hast.“
Die Stimme war schnarrend, verzerrt, als würde etwas daran hängen und versuchen, sich nach oben durchzugraben. Wim sackte in sich zusammen.
„Dafür, Wim, wirst du zahlen, wie noch kein anderer gezahlt hat.“
„Wird er nicht“, sagte eine andere Stimme.
Wim dachte im ersten Moment, dass er sie nur in seinem Kopf hörte, denn sie kam ihm so bekannt vor, als würde er sie jeden Tag hören.
„Zumindest vorerst nicht. Und du wirst ihn nicht wiedersehen, Melchior.“
Er sah auf.
Die alte Frau Kersentuin stand in der offenen Tür. Hinter ihr war das Schneetreiben noch dichter geworden, einzelne Flocken tanzten an ihr vorbei in den Raum.
Ihr Kopftuch und ihre normale gebückte Haltung waren verschwunden. Langes, weißes Haar wogte um ihren Kopf und sie fixierte Melchior, der direkt hinter Wim stehen musste, mit einem erhabenen Blick.
„Er gehört mir“, knurrte das Ding und Wim wagte nicht, ihn anzusehen. Die Stimme hatte jede Ähnlichkeit mit der eines Menschen verloren.
„Falsch. Du hast heute die Regeln gleich mehrmals gebrochen und damit ist der Vertrag zwischen dir und ihm nicht mehr gültig. Zudem haben sie das Recht, die Abkommen wieder aufzulösen. Halte dich beim nächsten Mal dran. Der da zumindest“, und sie warf Wim einen Blick zu, der ihm die Tränen in die Augen trieb, „wird dir nicht zu weiteren Seelen verhelfen.“
Einen zeitlosen Moment sagte niemand ein Wort. Wim fand nicht die Kraft, irgend etwas zu tun. Er war sich nicht sicher, ob Melchior auf die alte Frau hören würde. Dann spürte er heißen, sehr heißen Atem an seinem Ohr.
„Es wird jemand kommen. Irgendwann, irgendwo. Du wirst büßen.“
Im nächsten Moment war die Hitze weg, war die Aura weg und auch der Damm, der seine Gefühle gehalten hatte. Wim schluchzte auf und ließ den Tränen freien Lauf.
Er sah zu der alten Frau auf.
„Danke“, stammelte er und wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. „Danke, Frau -“
„Du brauchst dich gar nicht erst zu bedanken“, sagte sie. „Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte er dich hier und jetzt in Stücke reißen können. Das wäre, was du verdient hast.“
Frau Kersentuin ging zu der verletzten Frau, die sich die ganze Zeit über nicht von der Stelle bewegt hatte. Der Schrecken in ihrem Blick war einem Ausdruck kindlichen Staunens gewichen. Langsam hob die Alte ihre Hand und strich über das klaffende Wunde in ihrem Gesicht.
Das Blut hörte auf zu fließen. Als sie die Hand wieder wegnahm, sah Wim, dass sich die Wunde geschlossen hatte.
„Eine Narbe wird wohl bleiben“, murmelte die Alte. „Kommen Sie hoch, ich werde mich um Sie kümmern.“ Sie half der jungen Frau auf die Beine und ging mit ihr langsam zur Tür. „Immerhin dieses eine Leben hast du gerettet“, sagte sie. „Ich glaube nicht, dass das genug ist.“
Sie verließen den Raum, Wim konnte ihre Silhouetten noch einen Moment lang im Schneegestöber verfolgen – dann waren sie weg und er saß allein in dem jetzt kälter werdenden Raum. Nur die Leiche des Pendlers war noch da und da er wusste, dass er sie nicht würde erklären können, rappelte er sich auf und sah sich um. Draußen war niemand zu sehen.
Er ging zu seiner Gitarre und hob sie auf. Der Korpus war zersplittert und auch die meisten Saiten gerissen. Es machte ihm nichts. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass er nie wieder Gitarre spielen würde.
Das zerstörte Instrument in der Hand, humpelte er langsam an dem Toten vorbei, zog seine Anzugsjacke fester um sich und verließ den Warteraum, in dem er so viele Abende gesessen hatte. Zur Herberge würde er nicht zurückkehren. Eigentlich hatte er überhaupt keine Vorstellung, wo er hingehen sollte.
Ich glaube nicht, dass das genug ist, hatte sie gesagt.
Er glaubte es auch nicht.