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Wir, aus dem Ofen
Wir, aus dem Ofen...
Sie war viel zu schnell gelaufen, holte zu oft Luft, Seitenstiche machten sich bemerkbar, ließen sie vornüber gebeugt anhalten. Tränen und ein wenig Speichel tropften auf den Boden, sie hob den Kopf, erkannte die Straßen, die Häuser, nur noch ein paar Meter, dann war sie zu Hause.
Marina stand am Fenster, blickte durch milchigtrübe Scheiben hinaus in eine mondlose Nacht. Die Dunkelheit kroch langsam über die brachliegenden Wiesen, die den Schandfleck der Stadt, das Haus in dem sie wohnte, begrenzten. Hier und dort gingen die ersten Lichter an. Da das Haus, ein achtstöckiger Bau, oval gebaut war, sah es in dunklen Nächten wie dieser, wenn hinter den Fenstern Kerzen flackerten, das elektrische Licht wurde selten angemacht um Geld zu sparen, wie ein riesiger Ofen aus, deshalb sagte jeder, wenn er von dem Haus sprach nur der Ofen.
Hier wohnten die armen, vom Leben benachteiligten Menschen, die auf die man gerne herab sah, besonders Jene, die durch eine Fügung des Schicksals kaum mehr als eine Stufe über ihnen standen. Dass war der fünfzehnjährigen heute Nachmittag passiert, noch immer hatte ein inneres Zittern von ihr Besitz ergriffen, fühlte sie einen dumpfen Schmerz und doch kehrten ihre Gedanken immer wieder zurück zu jenem Moment...
„Die kommt doch aus dem Ofen, was willst du von dem Pack?“
„Mania, warum starrst du raus?“
Die Stimme ihres kleinen Bruders Kai riss sie zurück, mit falsch zu geknöpftem Schlafanzug stand er vor ihr und zog an ihrem Ärmel. Marina teilte das Zimmer mit drei Geschwistern im Alter von vier, fünf und acht Jahren. Sie beugte sich zu ihm hinunter und knöpfte seine Jacke richtig zu.
„Bist du tauich?“
Die Zärtlichkeit, die in der Frage mitschwang, ließ sie schlucken.
„Nein“, log sie, „ich suche in der Nacht nur die Träume für dich, denn es wird Zeit für euch zu schlafen.“ Er hob seine Arme, als Zeichen, dass sie ihn hoch heben sollte, sie griff unter seine Achseln und stellte ihn mit Schwung auf die Fensterbank.
„Wo siehst du die denn?“
Wollte er wissen während er seine Nase an der Scheibe platt drückte.
„Ja, man muss warten und ganz still sein“, sagte sie, schmiegte sich an seinen weichen Körper und fand ein wenig Trost in seiner Wärme.
„Da schau, siehst du dort die Schleierwolke?“
Er nickte.
„Da sind deine Träume drin, mach ganz schnell die Augen zu, dass sie dir keiner mehr wegnimmt.“ Sie trug ihn hinüber zu dem Etagenbett, legte ihn in das untere Bett in dem schon die fünfjährige Bettina mit fest zugekniffenen Augen lag und fröhlich verkündete „Ich kann meinen Traum schon sehn.“ Wie glücklich sie sind, dachte sie und lächelte, doch als sie der achtjährigen Manuela Gute Nacht sagte, meinte diese „es sind nie für alle Träume da.“ Diese Worte taten weh, Marina bemühte sich zuversichtlich zu klingen, als sie antwortete, „aber für dich habe ich einen besonders schönen gesehen.“ Dann löschte sie das Licht.
Auf dem Weg in die Küche warf sie einen Blick ins Wohnzimmer und sah, dass ihre Mutter auf dem Sofa eingeschlafen war. Arme Mama, die Kleinen, der Haushalt, zwei Putzstellen, kaum Geld, und Trauer in ihrem Herzen seit Papa die Familie verlassen hatte, sie war immer müde. Ihr Leben floss an ihr vorbei während sie arbeitete oder schlief. In der Küche stand das Geschirr zum Abtrocknen bereit, aber Marina starrte nur vor sich hin und dachte an Thomas. Thomas, er gehörte zur anderen Seite der Straße, war seit vier Monaten auf ihrer Schule, und ging eine Klasse über ihr. Sie lernten sich kennen weil an der Schule eine Projektzeit stattfand und sie die gleiche Arbeitsgemeinschaft besuchten. Marina hatte die AG <<Die Geschichte unserer Stadt>> gewählt, da die so genannten beliebten Schüler diesen Kurs nicht wollten und sie wusste, dass dieser eher von Schülern der unteren Klassen besucht wurde, die sie kaum beachteten. Für Thomas war dieser Kurs bestimmt worden, weil es der einzige war, in dem noch ein Platz frei war.
Mit einem offenen Lächeln und den Worten, hallo ich bin Thomas und da ich erst seit kurzer Zeit in dieser Stadt lebe, denke ich ist diese AG genau die richtige für mich, aber habt bitte Nachsicht, wenn ich vieles nicht weiß, war er in den Klassenraum getreten, Wie selbstverständlich hatte er sich zu ihr gesetzt und mit seinem Augenplinkern einen ganzen Schwarm von Schmetterlingen in ihren Bauch gezaubert.
Sie wollte sich nicht in ihn verlieben, weiß Gott nicht aber es geschah einfach. Ihr Blut floss wie schwebend durch ihre Adern, wenn er sie ansah, seine Stimme löste Orkanstürme in ihrem Magen aus, ihr Herz jubilierte und hüpfte vor Freunde, wenn er sie berührte. An einem Nachmittag fragte er sie, ob sie ihn nicht ins Museum begleiten könnte, er wollte etwas recherchieren und bräuchte ihre Hilfe. Er hätte auch fragen können, ob sie mitkommt das Jungenklo zu putzen, sie wäre strahlend mitgegangen. Es war ein wundervoller Nachmittag, an dem sie viel lachten, nie hätte sie gedacht, dass ein Museumsbesuch so lustig sein könnte. Er wollte alles wissen, war an allem interessiert, stellte gekonnt Szenen nach, die sie ihm gerade erklärt hatte und immer wieder hielt er sie mit seinen Augen länger als nötig fest. „Was du alles weißt“, stellte er bewundernd fest. „Wissen ist Macht“, antwortete sie leicht verlegen, „aber manchmal liegt es auch nur daran, dass ich lesen kann“, setzte sie lächelnd hinzu. Sie vergaßen die Zeit und so war es schon fast dunkel, als sie sich auf den Heimweg machten. Wie selbstverständlich nahm er ihre Hand und verkündete, „ich bringe dich heim.“ Dies Gefühl war zu schön, als dass sie hätte nein sagen können und doch mischte sich zu dem Kribbeln der Schmetterlinge in ihrem Bauch auch ein wenig Angst, als sie auf den Ofen zugingen. Aber Thomas schien nicht beunruhigt, er hielt ihre Hand und sprach noch immer von vergangenen Jahrhunderten. Vor der Haustür mit den zerbrochenen Scheiben und kaputten Briefkästen, in die am letzten Silvester ein paar vorwitzige Jugendliche Böller gesteckt hatten, angekommen, wurde er für einen Moment still, fast schüchtern ehe er meinte, „ ach die gute alte Zeit, ich bin froh heute in den Siebzigern zu leben, denn sonst könnte ich dies nicht machen.“ Noch bevor sie etwas sagen konnte hatte er ihr die Hand in den Nacken gelegt, ihren Kopf ein wenig zu sich gezogen und sie zärtlich geküsst. Schon lange hatte sie von diesem Kuss geträumt, sich vorgestellt wie sich seine Lippen anfühlen mögen, doch jetzt hatte sie so weiche Knie, dass sie sich an ihm festhalten musste, sonst wäre sie umgefallen, zärtlich umschlossen seine Arme sie, sie fühlte sein Herz laut an ihrem klopfen, wäre in diesem Moment die Welt untergegangen, die Beiden hätten es nicht bemerkt.
Immer wieder rief sie sich später in ihrem Bett liegend diesen Moment in Erinnerung, bis sie mit einem Lächeln einschlief. Von diesem Abend an verbrachten sie jeden Vor- und Nachmittag zusammen, bis die Projektzeit vorbei war und der normale Schulunterricht wieder stattfand. Da Marina den Ehrenposten der Aufsicht inne hatte sahen sie sich während der Pausen kaum, doch manchmal schlich er sich unerlaubterweise in die Halle um sie zu sehen, wenn sie nachmittags Geschichtskurs hatte wartete er auf sie und brachte sie heim. Hin und wieder forderte er sie auf zu seinem Fußballtraining zu kommen, aber Marina traute sich nicht, wusste sie doch dies war die Spielwiese der beliebten Mädchen. Solange diese von ihrer Freundschaft nichts wussten, sah sie keine Probleme.
Doch heute Nachmittag war es geschehen. Marina war für ihre Mutter zur Bank gewesen, um einige Überweisungen einzureichen, sie schlenderte gerade durch die Passage, als sie sein Lachen hörte, spontan war stehen geblieben, dadurch rempelte eine Frau, die ein Päckchen mit Kuchen trug , sie an. Durch diesen Zusammenstoß verlor die Frau das Gleichgewicht und das Päckchen mit dem Kuchen fiel ihr aus der Hand. Wüst beschimpfte die Frau Marina, die sich bückte, um das Päckchen aufzuheben, „Kannst du nicht aufpassen Pack? Müssen die jetzt schon hier bei uns einkaufen gehen? Der schöne Kuchen...“ Sie sprach so laut, dass alle sie anstarrten, einige pflichteten der zeternden Frau bei. Und plötzlich war da eine Stimme die sie kannte, „Mama, was ist passiert?“
Diese Stimme gehörte zu Cornelia, Cornelia, die beliebteste und gefürchtete der ganzen Schule.
Als sie Marina erkannte stöhnte sie, „Oh, die aus dem Ofen, verdammt den Kuchen können wie vergessen, wer weiß wo die ihre Finger in der Hölle hatte.“ Und dann war Thomas gekommen, hatte ihr aufgeholfen. Cornelias Stimme überschlug sich fast als sie krakeelte, „Komm der bloß nicht zu nah, die kommt doch aus dem Ofen, was willst du von dem Pack?“ Thomas blickte in die Runde, blieb stumm.
Marina war weggelaufen, sie wusste jetzt war es vorbei.
Tränen liefen lautlos ihre Wangen hinunter als es klopfte. Rasch lief sie durch den Flur, damit der Besucher nicht noch einmal klopfte und so ihre Mutter weckte. Sie öffnete die Tür einen Spalt und erschrak.
„Hi“
Mehr sagte er nicht.
Sie schloss die Augen und schluckte. Thomas.
„Kann ich reinkommen?“
„Nein, meine Mama schläft, warte.“ Sie nahm den Schlüssel und ihre Jacke vom Haken trat dann zu ihm auf den Hausflur. Das Treppenlicht ging aus und es herrschte Schweigen. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten erkannte sie, dass seine Unterlippe zitterte.
„Willst du mir nicht sagen, was heute Nachmittag los war?“
Irgendwie schob er sie mit dieser Frage weit von sich. Marina hatte das Gefühl in einem fremden Raum zu stehen, allein, den Boden unter den Füßen zu verlieren, etwas in ihr erwartete Kälte.
„Der Ofen ist nicht die Hölle und wir hier sind kein Pack.“
Mit tränenerstickter Stimme sprach sie dies aus.
„Niemand von euch kennt dies hier.“
Mit beiden Händen wies sie erklärend auf den umliegenden Raum, schluckte an ihren Tränen.
„ Was glaubt ihr eigentlich macht euch zu besseren Menschen, nur weil ihr auf der anderen Seite der Straße geboren seid?“
„Wer sagt, dass ich so denke?“
Seine Frage ließ sie aufhorchen, ihre Augen suchten die seinen, offen und ehrlich schien sein Blick, deshalb flüsterte sie, „Niemand.“
Für den Moment war das vertraute Gefühl der letzten Wochen, das wie ein zartes Band, das gewebt aus dem Strahlen seiner Augen und ihrem Lächeln, zwischen ihnen hing, wieder da.
„Marina“
Zärtlich ergriff er ihre Hände, die zitterten.
„Warum hast du nichts gesagt?“
Der anklagende Ton war nicht zu überhören.
„Du liefst weg, ehe ich etwas sagen konnte“, entschuldigend zuckte er mit den Schultern.
„Glaubst du wirklich ich lasse mich von kaputten Fenstern, Türen und Briefkästen beeinflussen?“ Die Frage blieb unbeantwortet.
„Und schon gar nicht von dem, was so oberflächliche Mädchen, wie Cornelia, sagen.“
Es ist leicht die Hölle zu sehen, aber wer weiß denn schon wie der Himmel aussieht, dachte sie und doch ist er überall, auch hier, hinter diesen lichtlosen grauen Mauern, wo unzufriedene Männer zwischen Alkohol und Zigarettenrauch verzweifelt nach Auswegen suchen, wo übermüdete Mütter das Träumen verlernt haben. Er ist in jenen stummen Blicken zu finden, die behutsam verletzte Seelen streicheln, die Traurigkeiten sehen, auch wenn ihnen das Wasser selbst bis zu Hals steht.
„Kannst du es mir nicht erklären?“
„Gibt es darauf eine Antwort? Ich weiß nicht Thomas, die Menschen, die nicht hier leben haben Angst vor uns.“
„Weil sie euch nicht kennen“, fiel er ihr ins Wort.
„Das glaube ich nicht“, entgegnete Marina mit zitternder Stimme, „sie haben Angst, dass sie in einen Spiegel blicken, denn wir alle hier sind auch in ihnen.“
Zärtlich zog er sie an sich, sanft berührten seine Lippen ihre Schläfe. „Wie meinst du das?“
„Nun so weit ist der Weg hierher nicht. Wenn z.B. Gabrielas Vater sie schlägt, dann tut er das, weil er in einen Spiegel sieht, weil sie die gleichen Fehler macht wie er, er der soviel wollte, studieren und die Welt bereisen, sich dann siebzehnjährig verliebte, und nur weil niemand mit ihm über Verhütung sprach gleich Vater wurde, heiraten und in der Fabrik, als einfacher Arbeiter sein Brot verdienen musste, um die Familie zu ernähren. Und dann Trost in der Wärme des Alkohols fand, weil seine Träume einfach im kalten Leben erfroren.“
Für so ein junges Mädchen schwingt zuviel Bitterkeit in ihren Worte, dachte er, doch sie fuhr fort: „ Oder Beckers von nebenan, die ein Haus bauten, aber dann starb der Mann bei einem Unfall, sie zu jung um von der Witwenrente leben zu können, das Kind zu klein um arbeiten zu gehen, oder meine Mama, die sich in einen Träumer und Spieler verliebte, der sie verließ, weil sie
der Blick in seine Wirklichkeit war, die er nicht sehen wollte.“
Sie stockte.
„Komm“, forderte er sie auf, „setzen wir uns.“
Sie setzten sich auf die kalten Stufen.
„Das was wir sind, kann jedem passieren“, flüsterte sie, „es fällt halt nur so auf weil die von der Stadt uns alle hier zusammen rein gesteckt haben.“
Er streichelte über ihren Kopf und spielte mit ihren Haaren.
„Seit wann ist dein Vater fort?“, wollte Thomas wissen.
„Er ging nach der Geburt von Kai...“
„Kai?“
„Das ist mein kleiner Bruder, er ist vier, meine Schwester Bettina fünf und Manuela acht.“
„Warum ging er ausgerechnet nach der Geburt eines Stammhalters“, wunderte er sich.
„Wer weiß. Als meine Eltern sich verliebten waren sie jung und voller Pläne, zunächst machte ich die zunichte, aber meine Mutter hielt an ihrem Traum fest, arbeitete und versuchte ein bisschen Geld beiseite zu legen, aber mein Vater schaffte es immer wieder ihr dies wenige abzunehmen, mit seinen Versprechungen, dass er Geschäfte am Laufen hatte, die sie reich machen würden. In Wirklichkeit verspielte er das Geld, ich meine er wollte wirklich gewinnen, aber er war viel zu naiv und ehrlich, um zu erkennen, dass die so genannten Spielemacher ihn nur ausnahmen. Solange nur ich da war ging es, da konnte meine Mutter arbeiten gehen, auch als Manuela kam, er war ja zu Hause, spielte mit uns... er war immer so lustig...“
„Vermisst du ihn?“, fragte er in die Pause hinein.
Sie zuckte die Schultern, „meine Mama vermisst ihn, denn sie liebt ihn immer noch“
„Vielleicht schlägt die Liebe eine Brücke...“
„Das glaube ich nicht, er ging weil er sah, dass das Leben kein Spiel ist und anders als ein Traum,ich glaube er erkannte, sein Leben plötzlich als er Kai sah, ein Junge so wie er einer war, der starke Hände brauchte, er erkannte, dass er erwachsen war und dass wollte er nicht sein, deshalb lief er fort... Niemand weiß wohin...“
„Möchtest du wissen wo dein Vater ist?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Wieso nicht?“
Er war irritiert.
Marina sah in sein Gesicht, du bist zwei Jahre älter als ich und doch noch ein Kind, dachte sie,
laut sagte sie entschieden:
„Nein, denn er ist nur der Weg hier rein, aber ich will hier raus!
Verstehst du? Deshalb lerne ich so verbissen, um einen richtigen Beruf zu ergreifen, um unabhängig zu sein. Sie ist nicht groß die Chance, dass weiß ich aber sie ist die einzige die ich habe.“
Er lächelte.
„Weißt du, eigentlich stehst du über allen.“
„Wie?“, fiel sie ihm ins Wort.
„Ja, du stehst längst über diesen Menschen hier, auch über solchen wie Cornelia. Nur solltest du nicht weglaufen, biete ihnen die Stirn, dass ist der beste Weg hier raus. Und eins sollst du wissen...“, er machte eine Pause drehte ihr Gesicht zu sich, küsste sanft ihr Nasenspitze, „ich, stehe hinter dir!“
Sein Lächeln war so einladend, dass sie mit einstimmte. Der graue Schleier Traurigkeit war von ihrem Herzen genommen, das nun wieder hüpfte als er sie leidenschaftlich küsste.
So saßen sie da in dem dunklen Treppenhaus, eng aneinander geschmiegt, fühlten den Herzschlag des anderen in sich fließen, zwei Verbündete, die doch keine sein konnten.
©Angela Redeker