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Wir grillen
Mein Gastgeschenk ist ein ordentlicher Wein. Sehr ordentlich sogar, der Preis gerechtfertigt. Man sollte ihn mit wachen Sinnen und halb geschlossenen Augen genießen. Für einen Rausch ist er ungeeignet.
Rainer hat eingeladen und bedankt sich. Etwas fahrig vielleicht, aber er hat volles Haus. „Geh mal schon auf die Terrasse“, sagt er, schiebt den Unterkiefer vor, lässt Dampf ab und bläst ihn an die glänzende Stirn. „Ich komm’ sofort nach. Und nimm das bitte mit ...“
Er drückt mir einen Beutel marinierte Rippchen in die Hand und ein strammes Paket Grillwürste.
Meine Augen zoomen die Würste, die werden größer und größer, eng aneinander gequetscht. Die Folie schimmert mit mattem Glanz – metallisch wie Eisenrohr, zu sadistischen Einzelboxen gebogen, 200 x 75 cm. Die Muttersäue sollen sich keinen Zentimeter bewegen. Sie sollen produzieren. Sie liegen, im Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen, wie eingeschweißte Bratwürste, bewegungslos, doch sie atmen noch.
Sie leben! Und sie leiden, Tag und Nacht, wochenlang. So what?
Sind wir denn alle verrückt geworden? Oder bin nur ich es, der bei helllichtem Tage perverse Szenarien sieht.
Das frage ich Niels. Der hat die Bilder auch gesehen, im Spiegel Online.
„Ja“, sagt er, „die Grünen, die Roten und die Schwarzen mit dem großen C – die waren sich alle einig. Bundesrat und Bundestag als Bühne für ...“ Er zögert.
„Für Dramen?“, springe ich ein, „Oder Tragödien?“
„Tragödien für die Sauen, ja. Und das noch für Jahrende.“ Niels ist aus Hamburg, das sagen die so.
„Aber eigentlich“, meine ich, „ist es Reality-Show. Deutlicher kann man den Leuten nicht vorführen, wer die Gesetze macht.“
„Tjou, da liegste wohl richtig mit“, meint Niels. Er macht sich an der Hausbar zu schaffen, hält zwei Gläser gegen das Licht. „Lass mal am Absinth schnuppern, vor der gefüllten Aubergine.“
„Aubergine? Du? Das glaubst du doch wohl selber nicht?“
Da bäckt er kleine Brötchen: „Ertappt. Ich probier’ lieber die Rippchen, das Schwein ist eh schon tot. Der Bratwurst trau’ ich nicht. Wer weiß, was die da alles reingefummelt hab’n, mit ihrem großen E und den Zahlen, die mir nichts sagen.“
Ich tätschle seinen Unterarm und sage: „Pass nur schön auf dich auf. Dann wirste auch so alt wie ich.“
„Aye Aye, Captain“, sagt er zackig und hantiert mit den Absinthflaschen. „Rot oder Grün?“
„Backbord!“, sage ich. Dieses Zeug zu trinken, ohne dazu einen Happen zu essen, ist stillos.
Wie Niels bin ich Wurstskeptiker; die Rippchen, zwar kurz vor dem Verkokeln, sehen noch gut aus – und duften nach Orient und Amerika. Nein, sagt meine innere Überwachungszentrale, du isst heute viel Salat, und Gemüse, und Falafel.
Ich trinke zu schnell und ignoriere das bisschen Ratio. Salat haben wir zu Hause, Gemüse auch. Dieses ägyptische Katzenstreu will ich auch nicht essen. Mein Magen knurrt. Also umrunde ich das Huhn mehrere Male, dann schlage ich beherzt zu. Brust oder Keule? Ich bejahe beides.
Es schmeckt, Visionen habe ich nicht. Die letzten Gräuelbilder aus einem Hühner-KZ liegen ein oder zwei Jahre zurück, also schon halb vergessen. Es gibt Pfirsisch-Chutney dazu und Fladenbrot. Ich würde die Gastgeber fragen, ob es Bio-Huhn ist, doch die sind im Gespräch und da will ich nicht stören. Vielleicht wäre die Frage unhöflich, und ich rechne es ihnen hoch an, dass sie auf Pute verzichten.