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Wir waren wie Uranus und Neptun
Der Name ist von der unromantischen Sorte. Harald. Du schwärmst schon die ganze Zeit von ihm und jetzt lese ich, dass er Harald heißt. Er ist so alt wie wir, sagst du. Wir sind 22, sage ich und du hast Harald auf einen Bierdeckel geschrieben. Harald hat kein i. Kein Anlass für ein Herz also, denke ich, bis du eines vor das H und eines nach dem D auf dieses zusammengepresste Altpapier setzt.
Du erzählst mir, wie ihr euch in der Uni kennengelernt habt und dass es für dich im Studium jetzt so leicht sei einen Mann zu finden, da die Frauenquote im Fach Maschinenbau ja nicht so hoch sei. Dabei hast du einen Freund. Aber es ist nicht sein Name, der auf dem Bierdeckel steht. Was soll ich dazu sagen? Dass es moralisch nicht korrekt ist? Dass es unfair ist? Unehrlich? Dass du kein Herz hast? Du hast ihn schon einmal betrogen und er hat es herausgefunden. Damals dachte ich schon, dass das jetzt meine Chance wäre, dir das Papier zu geben, auf dem dein Name steht. Aber er hat dir verziehen und ich habe das Papier einfach wieder zusammengerollt und es in einer Ecke meines Kopfes versteckt.
Harald hat langes Haar, höre ich dich sagen. Sie seien zu Dreads zusammengeflochten. Er liebe Metal. Ich frage, ob du ein Foto hast und lache dabei kindlich, als wäre auch ich nun eine Sechstklässlerin. Du bist dir nicht sicher, holst aber dein Handy aus der Tasche und durchforstest die Medienbibliothek. Während du suchst, bestelle ich noch eine Tasse dieses grünen Tees, den ich so liebe und den es nur hier gibt. Es ist sehr warm heute, eigentlich schon zu warm für einen warmen grünen Tee auf der Terrasse unseres Lieblingscafés, aber dein Glas ist fast leer. Dieser Tee ist meine Eintrittskarte zu „Warten auf Godot“. Und wenn er wirklich nicht kommt, kann ich dann für immer mit dir hier sitzen? Und warten?
Du findest tatsächlich ein Bild und zeigst es mir schüchtern und gleichzeitig auch voller Stolz. Du betonst noch einmal sein langes Haar und erinnerst mich an deinen Langhaar-Fetisch. Mein Haar ist länger als seines. Damals hast du es immer wieder gebürstet und gesagt wie sehr du es liebst. Es sei so weich und fein, viel schöner als dein asiatisches Haar. Ich konnte das nie verstehen, denn dein Haar war Seide für mich. Wie lange ist es eigentlich her, dass ich es zuletzt berührt habe?
Du packst das Handy nicht zurück in die Tasche, sondern lässt es auf dem Tisch liegen. Der Bildschirm versucht in den Himmel zu starren. Ein Sonnenschirm hindert ihn daran. Damals hast du einmal gesagt, dass wir wie Himmel und Meer seien. Weit voneinander entfernt und doch zueinander gehörig. Der Himmel spiegelt sich im Meer, das so zum Himmel auf Erden wird. Die Fische sind die Vögel des Wassers und die Vögel schwimmen am Firmament. Himmel und Meer sind eine Einheit; sie sind verbunden am Horizont und werden eins, wenn es Nacht wird.
Immer wieder siehst du sein Bild an. Du hast bereits den Bierdeckel mit Herzen verziert und deshalb beobachte ich einzig deine Hand, von der ich nicht hoffe, dass sie bald eine dieser kitschigen Filmgesten nachahmen wird. Oder wirst du doch mit deinen Fingern die Konturen dieses Mannes auf diesem kleinen Bildschirm abtasten?
Der Tee kommt, nun liegt es an mir, wie lange wir hier noch sitzen werden. Willst du nicht auch noch etwas bestellen, frage ich, aber du schüttelst nur lächelnd den Kopf und schaust auf deine Uhr. Hast du noch etwas vor? Ich nippe ganz langsam an meinem Tee. Er ist noch zu heiß. Darum lasse ihn eine Weile stehen, während du davon erzählst, wie du mit Harald und ein paar ausschließlich männlichen Kommilitonen vor Kurzem nachts am großen Teich übernachtet hattest. Es war aufregend über den Zaun zu klettern, wo ihr doch vorher noch dieses Schild gelesen hattet: „Unbefugtes Betreten verboten!“ Ihr hättet euch beinahe geküsst, sagst du. Aber dann habt ihr doch nur da gesessen und er habe irgendwann seinen Arm um dich gelegt.
Was du jetzt tun sollst? Ich nippe an meinem Tee und denke, dass du die Schublade in meinem Kopf öffnen solltest. Du musst herausfinden, was du wirklich willst, antworte ich. Das am kalten Glas kondensierte Wasser läuft langsam über deine Finger, als du einen neuen Schluck trinkst. Es erinnert mich an damals, als meine Tränen über deine Hände liefen. Damals waren wir 17 und ich hatte gerade Himmel und Meer zu zwei unabhängigen Scherenschnitten gemacht. Und du hast noch lange versucht sie wieder zusammen zu kleben, ohne dass ich es überhaupt bemerkt habe.
Du setzt das Glas ab und seufzt. Ich erfahre mehr über Harald, ohne es eigentlich zu wollen. Er sei dir von Anfang an aufgefallen. Wegen der Haare, frage ich. Du kicherst und sagst unter anderem. Er habe auch so ein feines Gesicht, fast schon androgyn, ganz anders als David, der mit seiner Brille immer ein bisschen trottelig aussieht, wie du findest. Ja, vielleicht ist David wirklich nicht der Richtige für dich. Das habe ich immer gedacht. Du brauchst einen Menschen, der auf deiner Augenhöhe steht. David ist ein lieber Kerl, aber euch trennen Welten. Und Harald ist ein Name auf einem Bierdeckel in unserem Lieblingscafé.
Jetzt vergleichst du Harald und David. Harald sei intelligenter, gut aussehender und mysteriöser. Aber David sei bodenständig, vertrauenswürdig und so lieb, wie kaum ein anderer. Ich sage, dass man eben nicht alles haben kann und dir scheint es noch nicht mal etwas auszumachen, dass ich einen dieser Standard-Sprüche verwende, die ich eigentlich immer vermeiden will. Hast du vergessen, was das bedeutet? Hast du verlernt mich zu lesen? Ich habe dir meine Gleichgültigkeit in die Ohren gelegt und du hast sie wirklich nicht gehört? Oder willst du mich nur glauben machen, dass du es nicht verstanden hast, wenn du sagst, dass ich ja Recht habe? Ja, man kann eben nicht alles haben, wiederholst du leise. Da liegst du falsch, denke ich.
Du lässt deine Stirn auf den Tisch sinken. Auf den Bierdeckel. Es ist zum Verrücktwerden, sagst du. Ja, es ist zum Verrücktwerden, denke ich. Dein Handy vibriert kurz. Du schreckst auf und checkst sofort deine Nachrichten. Mein Tee ist bereits kalt, aber noch fast voll. Das Stück ist noch nicht vorbei, aber ich fürchte, dass diese SMS der Vorhang ist, der gleich fällt und mir zu verstehen gibt, dass jetzt die Zeit gekommen ist, um zu applaudieren. Und im Theater gibt es keine Zugabe.
Die Nachricht ist von Harald. Er bietet dir an, dich mitzunehmen, da er das Auto seiner Mutter bekommen habe. Ich frage verwirrt, wohin er dich mitnehmen wolle. Habe ich dir das nicht gesagt, fragst du. Ich schüttele den Kopf. Ihr seid zum Geburtstag eines Kommilitonen eingeladen. Er wohnt nicht sehr zentral und natürlich freut es dich doppelt, dass du jetzt mit Harald fahren kannst, weshalb du gleich antwortest. Als du das Handy wieder zur Seite legst, siehst du mich glücklich an, sodass ich für einen kurzen Moment glaube, dass dieses Lächeln nur mir gilt. Ich kann nicht anders als zurück zu lächeln. Für mich ist dieses Lächeln Träger einer Botschaft an dich, aber du bemerkst wahrscheinlich noch nicht einmal, dass ich überhaupt lächle. Eine Reaktion wie diese ist für dich nur noch wie ein Reflex. Freundinnen lächeln eben zurück, wenn du sie anlächelst. Darüber denkt man nicht nach. Es war einmal, dass jedes Wort, das ich sagte, jede Bewegung, die ich tat, ihre ganz eigenen Spuren in deiner Erinnerung hinterließ.
Jetzt überlegst du, was du anziehen sollst. Es ist eine Gartenparty. Vielleicht das Sommerkleid, das wir kürzlich zusammen gekauft haben, schlage ich vor. Du überlegst kurz und sagst dann, dass es ein bisschen zu süß sei. Ich habe das Kleid ausgesucht und als du dich im Spiegel in der Umkleidekabine betrachtet hast, warst du noch so begeistert. Du bist mit den Händen deinen schlanken Körper entlang gefahren. Es war schwer für mich, alleine mit dir in der Kabine. Es war schwer einfach nur zu sagen, dass es wirklich sehr schön sei und dir einfach ausgezeichnet stehe, während ich gleichzeitig daran dachte, dass deine Haut damals wie Blindenschrift für meine Hände gewesen war. Ich kannte jedes Wort in und auswendig. Wir lernten schnell einander zu lesen. Kein neues Wort war lange unbekannt, weder auf deiner noch auf meiner Haut. Es ist in mein Gedächtnis gebrannt. Das Tattoo der Geschichte deiner Haut. Ich kann es nicht mehr loswerden.
Vielleicht doch lieber eine Jeans und dieses sexy, schwarze Neckholder-Top, überlegst du. Ich nippe wieder an meinem Tee und sage dann, dass das nach einer guten Idee klänge. Du seufzt wieder und bist dann für eine ganze Weile still, wahrscheinlich immer noch in Gedanken an das perfekte Party-Outfit. Manchmal entschlüpft dir ein Wort oder ein Satzfetzen. Minirock. Ein einfaches T-Shirt. Nein es muss sexy sein. Wir sind 22, denke ich.
Noch während du nachdenkst klingelt plötzlich dein Handy. Du schreckst wieder auf, greifst aber voll Freude nach dem Telefon und gehst ran, ohne nachzusehen, wer es ist. Der Veränderung deines Gesichtsausdrucks nach zu urteilen, ist es nicht Harald. Du siehst mich kurz an und formst mit deinen Lippen das Wort David. Ich kann nicht hören, was er sagt, aber du bist nicht erfreut darüber. Mit jeder Antwort, die du gibst, wird deine Stimme schneidender, verletzender und lauter. Du schreist nicht, aber du bist bestimmt. Anscheinend hattest du ihm davon erzählt, dass du heute Abend ausgehen würdest. Und anscheinend hat er das vergessen. Mir galt dieser Ton nie. Kein einziges Mal. Aber ändert das etwas?
Du legst aufgebracht auf. Immerhin hast du noch Ciao gesagt. Dann verschwindet der letzte Schluck deines Eistees in deiner Kehle. Nicht klatschen! Nicht klatschen! Es ist noch nicht vorbei! Oder seht ihr den Vorhang?
Ob es zu viel verlangt sei, dass er sich deine Termine merke, fragst du? Ich antworte mit nein, höre die Stimme in meinem Kopf aber fragen: Kennst du denn seine? Das ist schon immer so, sagst du. David sei viel zu unaufmerksam und würde sich anscheinend auch nicht dafür interessieren, was du so machst. Ich merke an, dass er dann nicht angerufen hätte, um sich zu erkundigen, ob du am Abend Zeit hättest. Du schweigst kurz und sagst dann, dass es darum nicht ginge. Ich frage dich nicht, worum es denn dann ginge, aber das interessiert dich nicht und du fährst fort. Bevor ihr zusammen gekommen seid, habe er sich noch richtig angestrengt. Er konnte sich alles merken und habe dir jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Das habe dir imponiert. Am Anfang der Beziehung war es auch noch so. Aber nicht lange. Das ist nun mal so, sage ich. Der anfängliche Zauber verschwinde eben nach einer Weile. Wieder wundert es dich gar nicht, dass ich dir einen neuen Standard-Spruch an den Kopf werfe. Du sagst, dass das ja klar sei, aber es solche Momente wie mit Harald am Teich, mit David einfach nie gegeben habe.
Im Sommer als wir 16 waren, haben wir auf der großen Terrasse bei mir zuhause gesessen und den Sternenhimmel betrachtet. Wir hatten Glück, dass der Himmel so klar war. Du fragtest, ob man Planeten sehen könne und ich zeigte dir die Venus. Sie ist schön, sagtest du, aber ich liebe den Neptun. Denn auch wenn die Venus die Göttin der Liebe sei, verkörpere doch Neptun, der Gott des Meeres, die bedingungslose Liebe. Dann sagtest du, wo Venus sagt „Ich liebe dich, wenn du mich liebst.“, sagt Neptun „Ich liebe dich, weil es meine Natur ist zu lieben.“. Dann war alles ganz still und wir haben uns nur angesehen bis du plötzlich verschämt zu kichern anfingst und sagtest, dass du das irgendwo gelesen habest, dich aber nicht mehr daran erinnern könnest wo. Ich kicherte mit, blickte wieder in den Himmel und sagte, dass es schade sei, dass man den Neptun nicht mit bloßem Auge sehen könne. Was mein Lieblingsplanet sei? Uranus, sagte ich, denn er ist Herrscher über Himmel und Wind. Dann lächeltest du wieder und sagtest: „Das passt ja.“ Damals haben wir uns nicht nur beinahe geküsst.
Die Kellnerin kommt und fragt dich, ob du noch etwas bestellen möchtest. Mich fragt sie nicht, denn meine Tasse ist noch immer fast voll. Du verneinst, bittest aber gleichzeitig um die Rechnung. Die Kellnerin geht und ich hoffe, dass sie genau jetzt ihr Kurzzeitgedächtnis ausschaltet. Du sagst, dass du dir einfach nicht vorstellen könnest, dass David derjenige sei, den der Mann im Mond mit dir verbunden habe. Du weißt, dass ich diese Geschichte kenne und deshalb erfordert es keine weiteren Erklärungen. In einem Buch hatten wir einmal dieses Bild gesehen. Dieses Bild zweier Menschen, die im Wirrwarr eines roten Fadens eingefangen waren. Beim genauen Hinsehen konnte man erkennen, dass der Faden jeweils am rechten kleinen Finger beider Personen festgebunden war. Während ich das Bild einfach nur bewunderte, hast du mir erklärt, dass dies auf einer ostasiatischen Legende beruhe. Der Mann im Mond verbinde zwei Menschen, die füreinander bestimmt sind, über einen roten Faden an ihren kleinen Fingern.
Ich sage noch einmal, dass wir 22 sind. Müssen wir jetzt schon wissen, wer für uns bestimmt ist? Du siehst mich an und sagst nichts. Für eine Weile herrscht einfach nur Schweigen. Irgendwann senkst du den Kopf und sagst, dass im Moment alles nicht so einfach sei. Ich als Single könne das wahrscheinlich auch nicht ganz nachvollziehen, fügst du hinzu. Wahrscheinlich nicht, sage ich und frage mich dann, wann du aufgehört hast daran zu glauben, dass das Ende deines Fadens an meinem Finger hängt?
Ich sehe die Kellnerin von Weitem auf unseren Tisch zukommen. Du holst dein Portemonnaie aus der Tasche und packst stattdessen dein Handy wieder ein. Wir bezahlen getrennt. Die Kellnerin verschwindet. Du packst auch das Portemonnaie wieder weg und machst dich breit zu gehen. Als du mich auffordernd ansiehst, merke ich an, dass ich meinen Tee noch nicht ausgetrunken hätte und ob du nicht noch eine Weile warten könntest, bis ich fertig sei. Du siehst auf die Uhr und schüttelst den Kopf. Du würdest in drei Stunden abgeholt werden und müsstest noch nach Hause, um dich umzuziehen. Ich wisse doch, dass man von hier aus mit dem Bus fast eine halbe Stunde bis zu dir brauche. Wieder wartest du mit diesem auffordernden Blick. Ich entschuldige mich und sage, dass ich nicht gewusst habe, dass du heute Abend noch eine Verabredung hast. Es wäre in Ordnung, wenn du schon gingest, meinen Tee wolle ich nämlich gerne noch trinken, du wüsstest doch, dass es den nur hier gibt. Ohne zu zögern sagst du ok mach‘s gut, drückst mich noch kurz zum Abschied und gehst um die Ecke in Richtung Bushaltestelle. Ich sehe noch in deine Richtung, obwohl ich dich schon längst aus den Augen verloren habe. Keine Minute später kommst du wieder um die Ecke und rennst auf mich zu. Ich lächle wieder. Kommt der Bote dieses Mal an?
Du bist völlig außer Atem, als du ankommst und sagst, dass du etwas vergessen habest. Du packst den Bierdeckel ein, drückst mich noch einmal lächelnd und sagst bereits davonlaufend, dass du dich bei mir melden würdest. Das Letzte was ich sehe, ist dein lächelndes Gesicht und eine winkende Hand, die den Bierdeckel fest umklammert hält. Früher, als ich noch klein war, habe ich Bierdeckel immer so lange in beide Richtungen umgeknickt, bis sie zerrissen sind.
Ich trinke den Tee aus.