Wirklich kein Grund
Dezember, noch lag kein Schnee. Der November war glücklicherweise mittags noch sehr warm gewesen, nachts aber hatte Ralph schon gefroren im Schlafsack. Jetzt also Dezember, noch nicht kalt genug, um mit gewissem Anrecht sein Überlebensscherflein zusammenschnorrren zu können, aber schon kalt genug, um tiefer als sonst in den Schlafsack zu kriechen. Weihnachten, wenn die Leute ihr Herz entdecken, war auch noch weit weg.
Heute hatten die Leute es anscheinend besonders eilig. Sein Teller war noch leer. Dabei war es schon Mittag. Ralph hoffte auf die Zeit, wenn die Leute aus der S-Bahn strömen, auf den späten Nachmittag. Er hatte sich zwei Schrippen gekauft, beim Bäcker, das einzige heute im Magen. Das Geld von gestern hatte gerade noch für einen Joint gereicht.
Eine junge Frau blieb stehen, griff in die Manteltasche und warf eine Münze in den Teller. Ralph dankte stumm, mit einem Kopfnicken.
Das Haus, in dem er seinen Schlafsack tagsüber parkte, lag in einer Seitenstraße, über und über mit tauben Sprüchen dekoriert, eine halbe Ruine, kaum noch Fensterscheiben. Der Besitzer hatte es vor Jahren rückübertragen bekommen, und nun fehlte ihm das Geld, es zu sanieren. Ein paarmal war die Polizei erschienen, hatte die Hausbesetzer überprüft, aber niemanden mitgenommen.
Ralph hatte sich einen Raum gesichert, seine Casa mia. Eher eine Abstellkammer, als dass man ihn einen Raum nennen könnte, das Klo, dessen Spülung nicht funktionierte, lag gleich nebenan. Es stank bestialisch in der Casa mia, niemand war scharf darauf, ihn aus ihr zu vertreiben.
Am Tage saß er unter der S-Bahn-Brücke, auf einem Stück Decke, ein Tellerchen zu Füßen. Abends, falls er genug Kleingeld beisammen hatte, ging er zurück in die Casa mia.
Falls es nicht reichte, um sich am nächsten Tag einen Döner leisten zu können und einen Kaffee in der nahen Imbissbude, saß er noch lange nach dem Dunkelwerden auf seinem Stammplatz. Dann sagte er schon mal ein paar enttäuschte Worte zu den Vorübergehenden, und dies waren die einzigen Worte des Tages.
Die anderen im Haus mieden ihn, so als ob der Gestank der Casa mia an ihm haften würde. Vielleicht deshalb, Ralph duschte jeden Tag. Mal im Gemeindehaus, aber der Weg dorthin war reichlich weit, mal im öffentlichen Bad, falls es das Kleingeld erlaubte. Den Obdachlosen sah man ihm nur an, weil er sich kleidete wie ein Paradiesvogel, mit Cowboyhut, bunter Weste, weiten bestickten Pluderhosen und Springerstiefeln aus einer kostenlosen Kleidersammlung.
Ralph war nicht mehr jung genug für das Leben auf der Straße, fast dreißig. Seine Familie, die Mutter und zwei Brüder, aus denen etwas geworden war, wenn auch der ältere, ein Ingenieur, seit drei Jahren arbeitslos in seiner Plattenbauwohnung herumsaß, ließ sich nicht blicken in der Casa mia. Mitunter, wenn andere im Haus Besuch bekamen, tat es weh, so allein in der Bude, früher war er ein geselliger Mensch. Früher, ehe die Geschichte mit den Nazis passierte.
Damals hatte er eine eigene Bude, eine richtige mit Innenklo, Küche und Mietvertrag. Aber schon damals fiel er auf, weil er, arbeitslos, in Imbissbuden herumlungerte, und wenn er ein paar Joint geraucht hatte, geriet ihm die Welt durcheinander. Zwei-, dreimal begann er eine Prügelei mit seinesgleichen, und dann gab es Terror in der Gegend, einmal nahm ihn die Polizei für eine Nacht aufs Revier mit. Den Nazis war der Peace-Aufkleber auf seinem Rucksack ein Dorn im Auge, und eines Nachts, als er von einer seiner Streiftouren zurückkam, überfielen sie ihn auf der Treppe. Er wehrte sich, so gut er gegen die drei Mann ankam. Am nächsten Tag zog er aus, in das besetzte Haus. Das war vor zwei Jahren gewesen.
Bald würde Weihnachten sein. Er hasste das Getue mit Weihnachten. Für ihn würde Weihnachten eine Zeit wie jede andere sein, er würde auf seinem Stammplatz sitzen und auf das Klirren des Kleingelds warten. Vielleicht würde er sich eine Kerze kaufen, aber Kerzen bargen Erinnerungen, und mit Erinnerungen hatte er nichts am Hut.
„Was ist denn das? Ralph!“
Ralph fuhr zusammen: die Mutter. Sie stand vor ihm, wahr- und wahrhaftig. Die Mutter.
Er erhob sich.
„Mach keinen Terror“, sagte er.
Die Mutter schwieg. Stumm ging sie neben ihm her. „Hast du etwas gegessen?“, fragte sie, als sie vor der Imbissbude standen. Ralph war die Sache peinlich. Dass die gutgekleidete Frau neben ihm seine Mutter war, konnten die anderen nicht wissen. Sicher dachten sie sonstwas. Es war ihm nicht egal, was sie dachten. Morgen würde es unter ihnen herum sein: Ralph ist schon so runter, dass er sich sogar mit alten Nutten abgeben muss.
Er wollte das Übliche, einen Döner und einen Kaffee. Es gab zwei Tischchen in der Ecke, die Mutter steuerte darauf zu. Sie legte einen Fünfzig-Euro-Schein vor Ralph hin, ohne ein Wort. Ralph griff zu, auch ohne ein Wort.
„David hat jetzt wieder Arbeit“, sagte sie dann. Ralph reagierte nicht.
Sie versuchte ihr Glück erneut. „Und Paul ist in München“, sagte sie.
Das Gespräch wollte nicht in Gang kommen. Die Mutter erhob sich. „Du weißt, wo ich wohne.“ Sie wollte ihn umarmen, Ralph wehrte ab. „Lass! Albernes Getue.“
Er ging zurück an seinen Stammplatz. Heute abend würde er sitzen, bis er anfror. Der Schein in der Hose war kein Grund, um vorzeitig zu verschwinden.
Wirklich kein Grund.