Mitglied
- Beitritt
- 12.07.2002
- Beiträge
- 589
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Wirst du es tun?
„Wirst du es tun?“ Die Frage drang erneut durch den aufsteigenden Rauch des Lagerfeuers. Diesmal aber fordernder. Der starr auf mich gerichtete Blick meines Gegenübers schienen mich zu durchbohren. Zwar wärmten die Flammen von vorne, aber ich spürte wie die Kälte des frühen Abends am Rücken unter mein nass geschwitztes Unterhemd kroch. Mich fröstelte.
Welches Risiko gehe ich ein? darüber durfte ich jetzt nicht mehr nachdenken. Die Zeit für Fragen war vorbei. Hinter uns gelassen hatten wir die spielerische Phase der Bubenphantasien. Die harten Augen des Anführers forderten ein klares ‚Ja’ oder ‚Nein’. Von dieser Antwort hing es ab, ob ich in der Gemeinschaft unserer Klasse als vollwertiges Mitglied aufgenommen würde, oder ob man offen, vielleicht auch hinter meinem Rücken über mich lachen, ja sogar mich auslachen würde. Meine Wertigkeit stand auf dem Spiel. Was zählte hier schon das Risiko?
Jetzt spürte ich auch die Feuchte des Waldbodens, die durch meine dünne, kurze Hose drang. Ich zog die Beine näher an den Körper und schlang die Arme um meine kalten Knie, in der Hoffnung, mir würde dadurch wärmer; aber hauptsächlich, dass Peter das Zittern nicht sehen konnte.
Wie sich doch der Peter verändert hatte: Früher war er der gute Kumpel, mit dem man Pferde stehlen konnte, und jetzt, als Anführer unserer Bande, spielte er den großen Boss. Es stand für ihn stets außer Frage, dass man ihn und keinen anderen zum Chef wählen würde. Seine Selbstsicherheit strahlte das so intensiv aus, dass es damals auch für uns Jungen selbstverständlich wurde, ihn zum Anführer zu bestimmen. Und jetzt stand er über uns und konnte bestimmen.
Wie verfluchte ich jetzt innerlich meine prahlerische Überheblichkeit, als ich den Kameraden von meinen Taten an der Schule des früheren Wohnortes erzählte. Wie ich locker und ungeniert echte Erlebnisse mit Möchte-gern-Streichen würzte und ihnen alles als meine eigenen Heldentaten verkaufte. Es war so leicht, denn ich wusste genau, dass keiner von ihnen den Wahrheitsgehalt nachprüfen konnte. Und jetzt saßen alle im weiten Kreis um unser Feuer und warteten gespannt auf meine Entscheidung.
Die Mutproben, die wir bis jetzt in unserer Bande bestehen mussten, waren einfach. Jede gelang problemlos und hatte für mich niemals unangenehme Folgen.
Doch die heutige Probe war gewichtiger. Und Folgen konnte sie leicht haben. Sehr unangenehme sogar. Aber eben auch angenehme: Bestünde ich sie erfolgreich, würde ich zu Peters Stellvertreter aufrücken. Ein ungeheurer Prestigegewinn für mich!
Unserem Anführer entging mein ängstliches Zögern nicht. Ohne den Blick von mir zu wenden stand er von seinem Jogasitz auf und setzte sich zwei Schritte weiter bequem hin und lehnte seinen Rücken gegen den glatten Stamm einer alten Buche.
„Du bist nicht sehr entschlussfreudig“, sagte er mit einem ironischen Grinsen im Gesicht. „Es ist doch wirklich nur eine Kleinigkeit: Wir haben letzte Woche beide das tolle, neue Rennrad, das neben dem Kiosk stand, bestaunt. Ich sehe noch genau den Wunsch in deinen Augen, es zu besitzen. Jetzt hast du Gelegenheit dazu! Du klaust das Rad, fährst eine Woche damit täglich zur Schule und stellst es danach wieder dort hin, wo du es entwendet hast. Es ist also nur ein halber Diebstahl. Was ist jetzt – ja oder nein?“
Das Stehlen an sich wäre ja kein Problem. Im Werkzeugkasten meines Vaters lag ein kräftiger Seitenschneider, mit dem sich ein Kabelschloss leicht knacken ließ. Aber mich fünf Tage lang täglich mit dem gestohlenen Rad auf der Straße? Davor schreckte ich zurück. Und was würden meine Eltern dazu sagen, wenn plötzlich ein fremdes Rad vor der Türe stünde? Gut, ich könnte es ja diskret in der nächsten Straße abstellen, dann wäre auch dieses Problem gelöst.
Ich gab mir einen Ruck.
„Ja, ich werde es tun“, sagte ich mit dünner Stimme.
Peter erhob sich, kam um das Feuer herum zu mir und klopfte mir verschwörerisch auf die Schultern. „So kommt man weiter im Leben“, sagte er süffisant. „Jetzt geh nach Hause und morgen wird die Aktion starten. Wir haben hier noch anderes zu besprechen“.
Ich stand auf, verabschiedete mich mit knappen Worten und machte mich auf den Heimweg. Kaum außer Sichtweite, fing ich an zu rennen, denn um diese Zeit sollte ich längst zu Hause sein. Meine Eltern waren streng in diesem Punkt.
Von Ferne drang das Lachen meiner Bande zu mir herüber. Bald war ich aber zu weit weg, um sie zu hören.
Geklaut war das Rennrad im Nu. Problemlos, wie ich es vorgesehen hatte, ließ sich das Kettenschloss durchschneiden. Auch auf den Wegen in die Schule und zurück nahm niemand von meinem „neuen“ Rad Notiz. Sogar den Eltern fiel nichts auf.
Frohgemut stellte ich nach Ablauf der Woche das Rad wieder an den Platz zurück, wo ich es entwendet hatte, und machte mich auf den Weg zu unserem Treffpunkt im Wald. Meine Phantasie machte Bocksprünge. Wie wird die Ernennung zu Peters Stellvertreter vor sich gehen? Was hatte sich die Bande dazu einfallen lassen?
Ich kam als Letzter. Das Lagerfeuer brannte schon. Peter saß im Yogasitz auf seinem Platz und die anderen im weiten Kreis außen herum. Alle machten ernste und konzentrierte Gesichter, als ich in den Kreis trat und mich Peter gegenüber setzte.
Die Spannung wuchs. Warum sagte keiner etwas? Hatte ich etwas falsch gemacht? Zweifel krochen in mir hoch. Soll vielleicht noch eine Mutprobe folgen? Hatten sie noch nicht genug? In keinem der Gesichter konnte ich etwas ablesen. Pokerfaces.
Dann endlich sprach Peter:
“Mensch, Junge, du bist so ein Idiot!", danach machte er eine Kunstpause, "Du hast MEIN Rad geklaut! Du bist uns ganz schön auf den Leim gegangen."
Wie auf Kommando brüllten jetzt alle vor Lachen. Sie mussten das Geheimnis, das sie mit ihrem Anführer teilten, lange genug für sich behalten.
Ich wäre am liebsten im Boden versunken.