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Wissen bedeutet, Farbe zu bekennen
„Tom, wir müssen reden.“
Ich höre Andis Stimme noch längere Zeit in meinem Ohr, obwohl das Telefon schon längst wieder auf der Station steht. Trotz seiner knappen Worte kommen sofort Erinnerungen in mir auf, als wir in der Oberstufe bis zum Abi fast wie Kletten aneinander hingen. Ich sehe sein freches Grinsen direkt vor mir. Ohne es damals zu wissen, liebte ich ihn. Wir hatten nie Sex miteinander, aber wir waren in unserem Denken und Handeln oft eins, dass es bei manchen innigen Gesprächen zum Weinen schön war. Ich würde es mir zu einfach machen, wenn ich behaupte, der Lauf der Zeit hat unsere Freundschaft seicht werden lassen, wie es oft passiert, wenn sich nach der Schulzeit die Wege trennen.
Wie lange haben wir uns schon nicht mehr gesehen? Meine Sinne werden wach, obwohl ich bis gerade eben für den restlichen Abend nur an mein einsames Sofa und kühles Bier dachte. Das werde ich eben in unserer alten Stammkneipe trinken und hören, was Andi auf dem Herzen hat. Ganz unbeschwert freuen kann ich mich nicht auf die Aussicht eines gemeinsamen Abends. Dazu ist zuviel mit und zwischen uns passiert.
Rauchschwaden empfangen mich in der Kneipe, die wir früher oft als Letzte mit dem Wirt durch die Hintertür verlassen haben. Es war unser Wohnzimmer gewesen, in dem damals alles Wichtige stattfand. Wir feierten, was das Zeug hielt, oft auch ohne Grund; diskutierten endlos um Dinge, die uns bewegten und ein manches Mal wurde auch ein Liebeskummer nach intensiven Gesprächen und dem einhelligen Ergebnis, dass Frauen alle gleich seien, ausgiebig hinuntergespült. Aus der Küche taucht Joe, der Wirt, auf und grinst mich an: “Hey Leute, seh’ ich Gespenster oder ist das tatsächlich Tom?“, fragt er freudig in die Runde. Sein grauer Pferdeschwanz ist lächerlich dünn, sein Gesicht hager geworden und die Angesprochenen kennen mich nicht. Ich grinse zurück und bestelle ein Wie-immer.
Danach entdecke ich Andi in der hinteren Nische an dem kleinen Tisch, der gerne von Frischverliebten besetzt wird. Er steht auf und kommt auf mich zu. Wir halten uns kurz an den Schultern fest. Sein Schweißgeruch streift meine Nase. Andi roch schon immer streng, auch kurz nach dem Duschen. Kein Blick und keine Geste von ihm erinnert an alte Vertraulichkeit, alleinig die Nase wirbelt Erinnerungen ins Hirn. Unkonzentriert streicht er sich eine imaginäre Strähne aus der Stirn.
„Wie lange schon?“, frage ich ihn.
„Hab ich auch grade überlegt. Vielleicht ein halbes Jahr?“
„Kann’ hinhauen“, gebe ich bestätigend zur Antwort. Joe stellt das Pils auf den Tisch und ich proste Andi zu.
„Nun rück’ mal raus, was dich drückt“, fing ich die Unterhaltung direkt an.
„Es geht um Katja.“
Eigentlich weiß ich das ja schon seit dem Anruf. Andere Probleme hätte er ja mit ihr besprechen können.
Wären Andi und ich vor vier Jahren nur nie an diesem Open Air gewesen! Katja saß mit ihrer Clique direkt neben uns auf der Wiese, als wir uns alle in einer Umbaupause etwas von dem Gedrängel und der Lautstärke der Bands erholten. Ich schäkerte in Bierlaune mit ihr. Was war sie jung und wie konnte sie unbeschwert lachen! Ihre Haarlänge konnte ich nur erahnen, denn sie war in einem achtlos zusammengesteckten Knoten versteckt. Ich wünschte mir damals nichts sehnlicher, als diese Klammern aus ihrem dunkel glänzenden Haar zu ziehen, eine Strähne nach der anderen aus dem Nest zu lösen, um dabei immer wieder wie zufällig ihren schönen Hals berühren zu können. Sie strahlte mich an und zog mich unbekümmert mit in die Gesprächsrunde. Auch den offensichtlichen Altersunterschied schien sie nicht zu stören, obwohl ich wahrscheinlich doppelt so alt war. Andi zog es vor, auf dem Festivalgelände spazieren zu gehen. Katjas Aufmerksamkeit gehörte nur mir.
Andi holt mich aus meiner Erinnerung zurück in die Kneipe und beginnt zu erzählen: „Sie will unbedingt Kinder. Da wir schon seit über einem Jahr ausgiebig ohne Erfolg mit diesem Thema beschäftigt sind, haben wir uns untersuchen lassen.“
Ich bemerke irritiert, wie ein unbändiger Groll in mir aufsteigt, den ich nicht zügeln kann.
„Andi, du bist doch viel zu alt für weitere Kinder,“ sprudelt es aus mir heraus.
„Tom, ich bin siebenundvierzig, das ist doch nicht zu alt!“, rief Andi erstaunt eine Spur zu laut, so dass zwei leicht angeheiterte Jungs vom Nebentisch interessiert in unsere Richtung blicken.
Das Open Air-Gelände war ein weitläufiger alter Militärflugplatz. Als eine Heavy-Metal-Band sich als nächste Musikgruppe ankündigte, schlug Katja mir vor, das Gelände zu erkunden. Mein Herz hüpfte. Nach einem kurzen Spaziergang waren wir von dem ganzen Trubel entfernt. „Was willst du mit einem so alten Mann wie mich hier alleine?“ fragte ich Katja etwas keck.
„Du bist zwar älter, wirkst aber überhaupt nicht so. Mir gefällt, so wie du bist und was du sagst,“ gab sie lächelnd zur Antwort und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ich war perplex, aber genauso freute ich mich über ihre spontane Zuneigung.
Danach gingen wir noch ein Stück und unterhielten sich über verschiedene Musikgruppen, wobei wir feststellten, dass sie ähnliche musikalische Vorlieben hatten. Sie erzählte von ihrem Wunsch, Biologie zu studieren und von ihrer frechen Katze. Ich sah sie unentwegt an und spürte eine Wärme in mir, die mich verwunderte. Ich schalt mich einen alten Spinner. Als wir zur Bühne zurückkamen, verschwand sie im kreischenden Getümmel der Topband des Tages. Wir hatten danach keine Zeit mehr für ein Gespräch, aber zum Abschied drückte sie mir ihre auf eine Zigarettenpackung gekritzelte Telefonnummer in die Hand. “Ich möchte dich wiedersehen“,
flüsterte sie mir zu, während ihr Haar an meiner Nase kitzelte.
Tagelang drehte und wendete ich die Schachtel in meinen Händen herum. Andi verstand meine Bedenken nicht: Junge Frau, wahrscheinlich Kinderwunsch, andere Interessen; und die Angst, irgendwann uninteressant zu werden, weil man ja zwanzig Jahre älter ist. Er war pragmatischer. „Wir laden sie zur Party am Samstag ein, dann wirst du ja sehen, wie es weitergeht.“
Sie kam und strahlte mich froh an. „Katja, ich möchte dich nicht auf eine falsche Fährte locken. Wir kommen nicht zusammen. Jeder von uns beiden hat doch ein ganz anderes Leben. Du willst sicher später einmal Kinder, hast noch so viele Ideen, Träume und Wünsche. Ich mag dich sehr, du bist eine tolle Frau, aber ich denke nicht, dass das mit uns gut gehen würde“, versuchte ich ihr meinen Standpunkt zu erklären.
„Tom, was ist denn so schlimm daran, wenn ich ein paar Jahre jünger bin?“, fragte sie verständnislos.
„Ich habe keine Lust mehr auf Beziehungsspielchen. Dazu habe ich keinen Nerv mehr. Du magst mich heute noch interessant finden, aber in drei Wochen sieht es vielleicht ganz anders aus.“
Ich weiß nicht, ob ich das damals selber geglaubt habe, aber ich war doch der Ältere und somit der Vernünftigere.
Katja verschränkte die Hände über ihrer Brust. Ihr einnehmendes Lächeln war verschwunden: “Wenn du kein Vertrauen hast, macht das auch alles keinen Sinn mit uns“.
Mit Andi tanzte sie den ganzen Abend und verbrachte auch die Nacht in seinem Zimmer. Ich erfuhr nie, was genau passierte. Ich war verletzt und fühlte mich von beiden unfair behandelt.
„Wie kann man bei der Liebe fair sein? Sie kommt, bewegt sich und geht, da können wir nur handeln“, fragte mich Andi tags darauf. Er hatte recht. Danach bekam ich zum ersten Mal unangenehm penetrante Magenschmerzen.
Ich denke laut nach: „Überleg mal, bis deine Kinder aus der Schule kommen, bist du ungefähr siebzig!“
„Ja und? Ich fühle mich noch nicht wie knapp fünfzig und wenn das für Katja in Ordnung ist, sehe ich keinen Grund, nur wegen meinem offiziellen Alter auf Kinder zu verzichten.“
„Nun gut, dass müsst ihr wissen“, gebe ich widerwillig zur Antwort. Andi kämpft für sein Glück und ich muss mir eingestehen, dass mir das etwas ausmacht.
„Katja hat sich zuerst untersuchen lassen. Bei ihr ist alles in Ordnung. Dann bin ich vor zwei Wochen zum Urologen. Der hat mir eröffnet, dass meine Spermien nichts mehr taugen.“
Andi sieht mich frustriert an.
“Liegt das am Alter?”
„Nein, das hat damit überhaupt nichts zu tun. Ob ich nun eben siebenundvierzig bin oder achtzig wäre, ist egal. Sie vermuten, dass es mit meiner jahrelangen Malaria-Prophylaxe zusammenhängt.“
„Und nun?“
„Das Thema war deswegen nicht vom Tisch. Sie schlug vor, Kinder zu adoptieren.“
„Ist das für dich ein Problem?“
„Ich will keine adoptierten Kinder. Das Risiko ist mir zu groß. Man weiß ja nicht, was für leibliche Eltern sie haben, wie sie sich entwickeln. Babys bekommt man auf legalem Weg sowieso keine. Schon ein Kleinkind kann soviel Scheiß durchgemacht haben, den du das ganze Leben nicht mehr gutmachen kannst. Das kommt für mich einfach nicht in Frage.“
„Ja, dann müsst ihr euch eben damit abfinden“, sage ich, in der Hoffnung, dieses Thema abschließen zu können.
„Nein, das ist es ja eben. Das eigentliche Problem ist ein anderes. David war gestern bei uns auf Besuch und hat einen Teil unserer Diskussionen mitbekommen. Der hatte eine abstruse Idee“, Andi lacht gequält, „und Katja fand die auch noch genial.“
David, denke ich, ist ja mittlerweile auch schon ein richtiger Mann. Schade, dass ich ihn völlig aus den Augen verloren habe. Früher haben wir oft an den Sonntagen zu dritt etwas unternommen, als Andi David an den Papa-Wochenenden bei sich hatte.
„David meinte, dass er uns seinen Samen spenden könnte“, sagt Andi leise.
„Was?“ bringe ich nur hervor.
„David sieht das mit seinen zwanzig Jahren total locker und viel zu naiv“, fuhr Andi fort,“ vielleicht hätte ich damals die gleiche Idee gehabt“, und kurz huscht ein Lächeln über das Gesicht, „aber stell’ dir das mal vor: Das wäre sein Geschwister und gleichzeitig sein Kind. Für mich wäre es Kind und Enkelkind in einem. Davon abgesehen, wie wir mit dieser irren Situation fertig werden sollen. Was würden wir dem Kind erzählen? Wem erzählen wir das überhaupt? Das geht doch nicht. Unmöglich! Oder?“
Mir ist das alles zuviel. Welche Blüten treibt denn so ein Kinderwunsch?
„Du erwartest aber jetzt nicht von mir, dass ich mich dazu in eine Richtung äußere?“ frage ich Andi fast flüsternd und lehne mich weit über den Tisch, um ihm nahe in die Augen sehen zu können.
„Ehrlich gesagt schon.“
„Und Katja...“, stocke ich, „Katja findet das gut?“
„Tom... ich weiß nicht, was ich machen soll. Katja ist ganz versessen darauf. Da mir David so ähnlich sieht, hat sie noch weniger Skrupel. Mit Ethik brauche ich ihr gar nicht zu kommen. Mir macht das Angst, dass sie so reagiert.“
Ich sehe sie vor mir, mit ihrem Frohmut, ihrem herzhaften Lachen. Dieses Bild bekommt graue Schlieren, wird unansehnlich und mir wird von einer Sekunde zur anderen kalt.
Ich betrachte Andi in seiner Hilflosigkeit und lange abwesende Wärme steigt für ihn in mir auf.
Er klopft wie früher mit seinem Zeigefinger von unten an den Tisch.
„Andi“, setze ich vorsichtig an, „ich kann dazu nichts sagen. Es wäre euch dreien gegenüber unfair.“
„Aber du bist doch mein Freund!“
„Deswegen kann ich dir doch aber so eine Entscheidung nicht abnehmen“, kontere ich.
„Du sollst mir doch nur deine Meinung sagen, bitte!“, sieht mich Andi flehentlich an.
„Ist dein Hadern nicht Zeichen genug?“, frage ich forsch.
Er lehnt sich zurück, trinkt einen Schluck Bier und starrt danach an die Decke.
„Komm’, lass uns noch eines trinken, über anderes reden und dann gehst du heim und schläfst drüber“, schlage ich ihm vor.
„Ist vielleicht das Beste“, stimmt er mir schulterzuckend zu.
„Joe, noch zwei“, rufe ich in Richtung Theke.
„Kommen sofort“, bekomme ich postwendend Antwort.
Ich habe das vage Gefühl, Andi wieder näher gekommen zu sein und meine Magenschmerzen ein Stück mehr verloren zu haben.