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With arms wide open

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01.11.2004
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With arms wide open

Er sitzt im Warteraum der Avianca, raucht, trinkt einen Martini und starrt aus dem Panoramafenster.

Maschinen starten und landen, Catering- und Tankwagen flitzen umher, Busse verteilen Passagiere, Maschinen starten und landen.

Hinter der Rollbahn und grünen Feldern, zeichnen sich am Horizont die Ausläufer der Kordilleren gegen den grauen Himmel ab; über Bogotá regnet es.

Der Mann steht auf und holt sich einen neuen Martini. Er ist um die Sechzig, und die wenigen die ihn wirklich kennen, wissen, daß er ohne das Zeug, wie er es nennt, niemals so alt geworden wäre. Er hätte es nicht gewollt.

Bis vor ein paar Tagen will er zwar auch nicht, aber da spielt es für ihn schon keine Rolle mehr. Der Tod Ricardos scheint ihm die letzte Kraft geraubt zu haben, gegen sich selbst zu rebellieren. Trotzdem verspürt er seitdem eine vage Unruhe, eine Ahnung, daß er noch etwas tun muß. Etwas eminent Wichtiges.

Vor einigen Wochen hat er den Auftrag erhalten, als UN-Beobachter nach Kolumbien zu fliegen, um dort, in einem stark umkämpften Gebiet Menschenrechtsverletzungen, sowohl der Paramilitärs als auch der Guerilla, zu dokumentieren. Die Stadt in die man ihn schickt hieß Barrancabermeja, zirka dreihundert Kilometer nordöstlich von Medellin.

"Über fünfhundert, Senior Thoma", antwortet der Polizeichef lapidar.
"Fünfhundert, in nur zwölf Monaten?"
"Si, und das sind nur die Leichen, die wir gefunden haben. Über das Schicksal der Verschwundenen wissen wir so gut wie nichts." Der Polizeichef zündet sich ein Zigarillo an, und schiebt das Kistchen zu seinem Gegenüber.
"Gracias, Senior Martinez", sagt Thoma.

Am Morgen hat man die zerschossenen Körper dreier Bauern am Urwaldrand gefunden. Martinez und er fahren sofort dorthin, dennoch hat sich bereits eine größere Menschenmenge am Fundort versammelt und die beiden haben Mühe, nach vorne durchzukommen. Thoma begutachtet die seltsam anmutenden Klumpen Fleisch die vor ihm im Gras liegen, ihnen fehlen die Köpfe. Sieht interessant aus, denkt er, als ein gellender Schrei ihn ablenkt. Er dreht sich um und sieht einen kleinen Jungen aus dem Wald kommen, der an einer an seinem Bein befestigten Kette, den Schädel seines Vaters hinter sich herzieht.

"Sie waren von dem Vorfall heute Morgen nicht sonderlich beeindruckt", sagt der Polizeichef nach eine Weile, "oder täusche ich mich da?" Er schaut Thoma prüfend an.

"Ehrlich gesagt, nein. Ich habe im Laufe der Jahre schon wesentlich Grausameres gesehen und gelernt, es als das zu betrachten was es ist. Tote Masse. Nicht sonderlich ästhetisch, dazu leb- und gefühllos. Geben Sie mir bitte einen Martini." Martinez reicht ihm einen Martini und Thoma fährt, daran nippend, fort."Wissen Sie, das einzige was mich immer wieder fasziniert, wenn ich Folter- oder Mordopfer sehe, ist der Gedanke an die Täter. Ich überlege mir dann, ob ich nicht genauso dazu in der Lage wäre, und ich bin mir sicher, daß ja. Alles was ich bräuchte, wäre genug Oropax." Er trinkt den Martini leer.

"Dios mio, Senior Thoma", preßt der Polizeichef heraus,"wie kommt einer wie Sie zur UNO?" Er hat Mühe seine Erregung zu beherrschen. Thoma ignoriert es. Dabei muß er zugeben, daß Martinez ihm nicht unsympathisch ist. Er hat ein freundliches, offenes Gesicht und die Art wie er, wenn er sich unbeobachtet fühlt, die beiden Fotos auf seinem Schreibtisch betrachtet, tut Thoma fast weh. Trotzdem reizt es ihn, den Idealismus dieses Mannes weiter zu erschüttern. Und daß er mit seinem kurzen Monolog einen wunden Punkt berührt hat, ist offensichtlich, also führt er ihn fort.

"Das habe ich mich auch oft gefragt, denn im Grunde genommen, messe ich meinem Leben, und dem meiner Mitmenschen, keinen besonderen Wert bei; ihren Werten schon gar nicht. Aber für Selbstmord bin ich erstens zu schwach, und zweitens, zweitens...ach, egal." Thoma zündet sich eine Zigarette an. "Im Übrigen habe ich sogar mal ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, eine Karriere als Killer einzuschlagen; Sie wissen schon, Auftragsmord und so. Dann haben mich die damit verbundenen Scherereien doch davon abgehalten, zumal mein Ehrgeiz, ebendiese durch intelligentes Verhalten zu vermeiden, nicht sonderlich groß war. Außerdem hasse ich Arroganz. Und Gewalt ist Arroganz in ihrer reinsten, archaischstes Form."

"Welch edle Gesinnung, Senior Thoma", sagt Martinez kühl, "aber wie passt das zu dem, was Sie vorhin meinten, und meine Frage haben Sie auch noch nicht beantwortet. Ich brenne darauf zu erfahren, ob ich Sie nun erschießen kann, oder nicht." Thoma überlegt ob er darauf eingehen soll, als jemand an die Tür klopft.

"Herein!", ruft Martinez und ein vielleicht fünfzehnjähriger Junge betritt, den Fremden bemerkend, etwas zögerlich den Raum.
"Komm nur Junge", die Gesichtszüge des Polizeichefs entspannen sich, "komm nur, dieser Herr bellt zwar, aber er beißt nicht. Senior Thoma, darf ich vorstellen, daß ist Ricardo, mein Sohn."

"Buenos dias, Senior Thoma.", sagt Ricardo und mustert den Besucher mit seinen großen, dunklen Augen. Thoma erwidert den Gruß und bemerkt bei sich ein leichtes Zittern der Halsmuskeln. Der Blick des Jungen verunsichert ihn. Er weiß zwar warum, will es sich aber nicht eingestehen. Statt dessen fragt er unvermittelt, ob Ricardo Schach spielen könne.

"Klar kann er", meint Martinez stolz, "sehr gut sogar. Wenn Sie wollen, zeigt mein Sohn Ihnen den Parque de Bolivar. Dort stehen ein paar Schachtische, und sollte Ricardo sich Ihnen nicht als ebenbürtig erweisen, finden sich da bestimmt einige angemessene Gegner für Sie. Bueno, ich muß wieder arbeiten. Wir sehen uns zum Abendessen, Seniores." Er greift zum Telefon, und die beiden machen sich auf den Weg.

Einige Zeit laufen sie schweigend nebeneinander her, bis Thoma dem Jungen eine Zigarette anbietet.
"Nein danke", sagt Ricardo.
"Stell dich nicht so an mein Freund, ich sehe es an deinen Fingern, daß du rauchst", Thoma grinst, "außerdem wette ich um tausend Peso, daß es auch dein Vater weiß. Also nimm schon." Thoma reicht ihm die Schachtel. "Schön, jetzt schuldest du mir tausend Peso, Chico."
"Maniana, Senior, maniana." Ricardo lacht und Thoma findet, daß er ein sehr hübscher Junge ist. Ihm fallen die Photos wieder ein.
"Was macht eigentlich deine Mutter", fragt er.
"Meine Mutter ist tot", sagt der Junge, "erschossen."
Scheiße, denkt Thoma.

Zum ersten Mal seit Jahren ist er wieder betrunken. Nein, er ist nicht nur betrunken, er ist sternhagelvoll. Sternhagelvoll, kometenregendicht, selig jenseits seiner selbst, unglaublich losgelöst von allem und göttlich berauscht, lebendiger Größenwahn, ein irrer Tänzer des Rhythmus der Wellen des Wahnsinns, der Welt. Ein trudelndeln Satellit einer sich auflösenden Unendlichkeit, der...

Als er aufwacht hat er einen furchtbaren Kater. Mühsam quält er sich aus dem Bett, wäscht sich kurz und geht in die Stadt. Er findet ein kleines Café, bestellt sich einen doppelten Tinto und versucht nachzudenken.

Du wirst allmählich siebzig, und das einzige was du von deinem Kind hast, ist ein uraltes Polaroid. Und alles was du über ihn weist, weist du durch sporadische Telephonate, vor denen du dir jedesmal einen extra genehmigst, weil du Schiß hast ihr könntet die Oberfläche verlassen. Und dann hörst du, wie er sich ein Bier aufmacht, weil er Angst hat, ihr könntet sie wieder nicht verlassen. Und dann schwallst du ihn zu mit deinen Geschichten, die du allen erzählst. Von den Kranken und Toten, von den Verhungerten und Verstümmelten, den Vertriebenen und Vergewaltigten, von der Korruption und der Ohnmacht der UNO. Und dann hörst du, wie er sich noch ein Bier aufmacht oder auflegt. Und wenn nicht, legst du los von deiner Resignation, die du sonst als Zynismus tarnst. Fängst an, für ihn daraus Gesetze abzuleiten, über die Welt und das Leben. Das bist du ihm ja schuldig, denkst du, denn du bist ja sein Vater und das sagst du ihm dann auch. Und dann hörst du die Eiswürfel in sein Whiskeyglas fallen, und ganz selten, wenn du Glück hast, solch Sätze wie diese: In die Fresse hätte ich dir schlagen sollen, als du noch stark genug warst dich zu wehren alter Mann. Und das sitzt dann, genauso wie einmal, ...ich liebe dich. Sofort wirst du sprachlos und möchtest doch schreien, weil du fast schon zerspringst. Aber Nichts, du bleibst stumm, weil du weist, du versagst mit deinem Schwur, ...ich dich auch: Weil du nicht da bist, weil du nie da warst. Und das sei der Punkt meint Ricardo, ...er hätte sie zum Beispiel fragen können, warum das Leben manchmal so beschissen ist, ...aber das hätte ich ihm auch nicht beantworten können, sage ich, ...das vielleicht nicht, meint Ricardo, aber sie hätten ihn wenigstens fragen können, warum er das findet.

Ein Kellner kommt und fragt, ob Thoma noch etwas trinken will und Thoma sagt ja und bestellt einen Martini. Er muß noch funktionieren, das weiß er. So wie die Leute auf der anderen Seite des Platzes, die in die Kirche gehen und beten, das es funktioniert; irgendwie. Auch Thoma hat einmal gebetet, immer wieder mal, wenn er allein war unter einem funkelnden Sternenhimmel, auf einem erhabenen Berg oder in den Händen einer streichelden Frau. Hat gebetet, daß er ihn auch das sehen lassen solle, ihm mit offenen Armen begegnet und vielleicht lernt es zu lieben. Hat verzweifelt gefleht, daß er alles werde, nur nicht wie er.

Die Totenglocke läutet und der Wind trägt den Gesang der Trauernden über den Platz. Ricardos Sarg wird über die Stufen des Portals getragen und dahinter schreitet scheinbar gefasst Martinez. Aber der kurze Blick den er Thoma zuwirft, läßt diesen erschaudern, trifft ihn bis ins Mark und läßt ihn nicht mehr los. Er spürt, daß die Zeit knapp wird.

Maschinen starten und landen, Catering- und Tankwagen flitzen umher, Busse verteilen Passagiere, Maschinen starten und landen.

Thoma beginnt zu merken, das es diesmal nicht hilft. Das bewährte System versagt; die Unruhe wird stärker und stärker. Er läßt das Glas fallen und hört sich gleichzeitig lachen. Hört sich laut lachen, über den Mann, der immer nur Gläser hat fallen lassen, statt, wenigstens einmal, ein Fenster zu zertrümmern. Lange wird er den Schrei nicht mehr unterdrücken können, aber endlich kommt Bewegung in den Raum; die Gangway ist freigegeben. Er reiht sich in die Schlange ein, kann es kaum erwarten, Platz zu nehmen.

Der Start verläuft routiniert reibungslos und Thoma kommt wieder etwas zur Ruhe. Noch einmal will er von einem Land Abschied nehmen, ohne es dabei berühren zu müssen. Er schaut durch die kleinen Scheiben nach unten auf die satte grüne Landschaft, deren Konturen sich mehr und mehr auflösen, erkennt die ersten Wolkenfetzen und löst automatisch den Gurt. Ein kurzes Klicken, aber sofort sind die Bilder wieder da. Ricardo und er. Wie sie das Entsichern der Waffen gleichzeitig hören. Ricardo der ohne zu zögen aufspringt, sich vor ihn stellt. Das Peitschen von Schüsse, Motorradgeknatter. Keine letzten Worte.

"Stewardess!". Thoma schnellt von seinem Sitz hoch. "Ich muß telefonieren! Sofort!"
Eine Stewardess eilt zu Thoma hin, versucht ihn zu beruhigen, führt ihn schließlich zum Bordtelefon. Er wählt eine Nummer; Freizeichen.
"Ja?"
"Junge, Gott sei Dank, ich..., laß uns ein Bier trinken."
"Ich trinke nicht mehr." Der Junge legt auf.

Einige Augenblicke noch hält Thoma den Hörer in der Hand, dann läßt er ihn fallen und geht langsam den Gang runter.

Über Bogotá regnet es.

 

Hallo Paror!

Deine Geschichte bewegt, sie ist stilistisch ausgereift. Die Dialoge, Gedanken, Bilder treffen. Ich bin nicht sicher, ob ich sie komplett verstanden habe ... Ricardo schützt Thoma, stirbt dabei wohl. Dass Thoma selbst einen Sohn hat, kommt mir irgendwie zu unvermittelt. Was mit Martinez ist, wie er reagiert, die Konsequenzen usw - all das blendest Du aus, und machst es dem Leser damit nicht so einfach. Allerdings, wie gesagt, die Geschichte funktioniert. Sie ist lebendig, sie trifft.
Nebenbei: die meisten von uns versuchen sich gerade an die Neue Rechtsschreibugn zu gewöhnen, v.a. den jüngeren Lesern hier würde es guttun, wenn Du das korrigerien würdest. ;)

schöne Grüße
Anne

 
Zuletzt bearbeitet:

Als ungünstig umgesetzt empfand ich die Wechsel zwischen “Jetzt” und “Erlebtem”. Hier solltest Du m.E. deutlichere Signale setzen, vielleicht auch durch Tempuswechsel.

Ansonsten hat mir der Text sehr gut gefallen, mehr habe ich gar nicht zu sagen.

Und noch einige Kleinigkeiten:

  • Bis vor ein paar Tagen will er zwar auch nicht, aber da spielt es für ihn schon keine Rolle mehr. - Hier stimmt etwas nicht.
  • Martinez und er fahren sofort dorthin, dennoch hat sich bereits eine größere Menschenmenge am Fundort versammelt - Die Logik von “dennoch” erschließt sich mir nicht.
  • Und alles was du über ihn weist, weist du durch sporadische Telephonate, vor denen du dir jedesmal einen extra genehmigst, weil du Schiß hast ihr könntet die Oberfläche verlassen. - “weißt”; “Schiß hast, ihr” – Und sofern Du der Empfehlung von Maus folgen willst auch: “Schiss”
  • Und wenn nicht, legst du los von deiner Resignation - Wie wäre: “legst du los, erzählst von deiner Resignation”?
  • …ich liebe dich - Setze doch wirkliche Anführungszeichen, die drei Punkte sind nicht so toll, auch im Folgenden nicht.
  • weil du weist - “weißt”
  • Ricardo der ohne zu zögen aufspringt, sich vor ihn stellt. - “Ricardo, der, ohne zu zögern, aufspringt, sich vor ihn stellt”

Ganz nebenbei: Woher rührt die Inspiration für diesen Text? Das Thema kommt mir unglaublich vertraut vor, ich bin sicher, irgendwo habe ich einen ähnlichen Text mit einem ähnlichen Protagonisten, der ebenfalls als Beobachter in eine südamerikanische Region kommt, schon gelesen.

Nachtrag:
Wirf' doch einmal einen Blick auf das hier: Formatier-Tool

 

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