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wo es weh tut
Sie kann nicht stillsitzen. In ihren Beinen laufen winzige Tierchen auf und ab, schwimmen mit den Blutkörperchen hinauf zum Herzen, bis der Druck in der Brust vom leichten Kitzeln in echten Schmerz übergeht. Dann muss sie aufspringen und umhergehen, mit den Füßen schlenkern, aber vorsichtig, dass sie keinen trifft! Einmal in der großen Pause hat sie Johann gegen die Kniekehle getreten, Johann, den sie Hannes nennen, oder Hänne, alle bis auf die Lehrer, und der eine Bank weiter vorn sitzt. Es war keine Absicht, aber weh tat es ihm trotzdem, das konnte sie sehen an der Art, wie sich seine Augen zusammenzogen. Sie hat ihre Hand ausgestreckt, wie zur Entschuldigung, doch gleich darauf wieder zurück gezogen und hinter dem Rücken versteckt. Der Hänne hatte sie ohnehin nicht bemerkt mit seinen Schlitzaugen in denen es merkwürdig glitzerte. Aber kein Junge weint, jedenfalls nicht in der Schule, nicht in einem Klassenraum mit 25 Kindern. Geflucht hat er stattdessen, leise erst und dann lauter, Hurenkind zischte sein halboffener Mund, dummes, dreckiges Hurenkind und ein paar Spucketropfen flogen durch die Luft und landeten als weißer Schaum auf dem Fußboden.
Da ist sie nach draußen gerannt, aufs Klo im ersten Stock, das nur eine Kabine hat und kein Fenster. Und da ist sie immer wieder von der Schüssel auf den Boden gesprungen, fünfmal, zehnmal, bis die Pause vorüber war und die Tierchen sind etwas langsamer geworden in ihren Beinen und sie konnte zurück gehen in die Klasse.
Jetzt aber ist keine Pause, sie kann nicht einfach umherspringen, muss zuvor mit dem Finger, dem Arm wedeln, schnipsen ist verboten, wer das tut, den übersieht der Lehrer erst recht, also schwenkt sie nur ihre Hand in der Luft.
„Ja, Kerstin, was ist“, fragt die Lehrerin, aber an ihrem Ton hört man, dass es eigentlich keine Frage ist, sondern dass sie meint, zappel nicht herum, Kerstin.
„Darf ich zum Klo?“, bittet sie und zwingt die kitzeligen Beine unter der Bank still zu halten.
Die Lehrerin sieht sie müde an und antwortet, dass Kerstin inzwischen alt genug sei, 45 Minuten ihre Blase ruhig zu halten, doch da hält es sie schon nicht mehr auf ihrem Platz und sie flitzt durch den Raum. Auch draußen auf dem Korridor hält sie nicht inne, sie rennt, rennt bis zur Treppe und hinauf, immer ein Stockwerk weiter bis unters Dach, wo die Werkräume liegen. Sie schüttelt die Beine, beisst sich in das weiche Backenfleisch und schüttelt die Füße. Die Tierchen werden ruhiger, der Druck im Herzen lässt nach.
Zuviel Druck dort kann gefährlich werden, der kostet einen das Leben. Dem Großvater ist es so ergangen, immer war er da, hat in seiner Wohnung im Erdgeschoss gewohnt, zwei Zimmer, Küche, Bad, nach Rauch hat es da gerochen und nach alten Menschen. Die Großmutter ist schon lange tot, die hat sie gar nicht mehr gekannt. Aber der Opa, den gab es immer, der gehörte zum Haus und zum Leben wie der Pfefferminzgeschmack von der Zahnpaste, wenn man ins Bett geht oder wie der Dreiklang der Türglocke.
Und dann, eines Tages, vielleicht war es ein Mittwoch oder ein Freitag, hat die Rettung den Großvater davongefahren, mit Blaulicht aber ohne Sirene, nur mit sirrenden Reifen sind sie vom Parkplatz gesaust. Aber gerettet haben sie ihn nicht. Es war schon zu spät, als sie endlich im Krankenhaus ankamen, hat der Vater abends gesagt und sie dachte noch, dass sie dann wohl doch besser die Sirene angestellt hätten.
Die Mutter aber meinte, dass der Opa bestimmt schon fast ganz tot gewesen sei, als sie ihn entdeckt hat, mittags, weil er nicht zum Essen wie sonst zu ihnen hoch kam.
„Ganz grau im Gesicht war er“, hat sie erzählt. "Ich dachte gleich, da stimmt was nicht, er hat so komisch geschnauft, mit ganz langen Pausen drin, und dann hat er plötzlich gar nimmer geschnauft, und da hab ich mir gedacht, rufst du den Arzt an.“
„Es war das Herz“, meinte der Vater. "Ich hab ihm ja schon oft gesagt, Vatter, schalt mal einen Gang runter, aber hat ja nicht gehört, der Sturkopf. Regelrecht explodiert muss es sein. Hat den Druck nicht mehr ausgehalten, die olle Pumpe, weil, er musste ja immer noch alles selber machen, sogar im Garten hat er noch herumgegraben letztens erst. Kein Wunder, dass alles so gekommen ist, wie es gekommen ist. Nix hat er sich ja nie sagen lassen.“
Grau ist er nicht gewesen, der Opa, als sie ihn dann zum letzten Mal gesehen hat. Eher ein bisschen gelblich, der Mund ganz weggesackt, faltig und schlaff, wie ein müder Luftballon.
„Sie haben ihm das Gebiss nicht eingesetzt“, hat die Mutter geflüstert. „Saftladen, die. Dass man jemanden so zur Grabschau herrichtet, eine Unverschämtheit ist das. Was uns das kostet, fragt ja keiner, die nehmen's von den Lebenden, wenn jemand wegstirbt.“
Sie hat es nicht schlimm gefunden, dass der Opa nun kein Gebiss mehr hatte, er würde ja ohnehin nichts mehr essen können. Aber schaurig hat er doch ausgesehen und auch fremd, so im schwarzen Anzug, sogar mit umgebundener Krawatte. Sie hat ihn eigentlich nur in braunen Kordhosen gekannt, mit bunten Strickjacken darüber, die hat ihm noch die Oma gestrickt und von denen hat er sich niemals trennen wollen. So lange trug er die dann auch, dass sie einen ganz besonderen Duft bekommen hatten, eine Mischung aus Kaffee, Rauch, Holz und Zitrone. Denn er hat nach dem Essen immer Zitronenbonbons gelutscht, zur Verdauung, hat er behauptet, und sie in die Blechschachtel greifen lassen.
Der tote Opa hat nach gar nichts mehr gerochen, höchstens noch nach Blumen, denn die lagen auf seinem Bauch und vor dem Sarg und sogar neben seinem Kopf war ein kleiner Strauß.
Von dem explodierten Herz hat man nichts gesehen und darum war sie froh gewesen, denn davor hatte sie sich gefürchtet, mehr gefürchtet als vor dem Loch in der Erde, in das sie den Sarg mit dem Großvater drin versenkten.
Hinterher, nach dem Gottesdienst und vor dem Gasthaus. Pommes rot-weiß hatte es dort für sie gegeben, und für die Erwachsenen Wein, so dass sie ganz lustig wurden, fast wie an einem Fest.
Drei Monate ist das jetzt her, dass der Grovater nicht mehr unter ihnen wohnt und es keine Zitronenbonbons mehr nach dem Essen gibt, weil das die Zähne kaputt macht, sagt die Mutter.
Zwei Monate, seit der Vater die Möbel an die Straße gestellt hat, zum Sperrmüll, weil sie die Wohnung ja jetzt vermieten wollen, an Feriengäste vielleicht, die im Sommer den See anschauen kommen.
„Und die mögen gewisslich nicht in diesen Ungetümern wohnen!“ hat er gemeint und Opas braunen Wohnzimmerschrank auseinandergebaut.
Einen Monat, seit die Tierchen in ihren Beinen schwimmen. Hinauf, bis zum Herzen.