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Thema des Monats Wo wir uns dann wiedersehen

Seniors
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20.11.2001
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Wo wir uns dann wiedersehen

Schweißgebadet wache ich auf. Wieder diese Angst, nie mehr hinauszukommen. Hier Wallraff zu spielen, hatte ich mir viel einfacher vorgestellt. Natürlich wusste ich, dass manche Sekten ihre Mitglieder nicht einfach wieder gehen lassen, darüber wollte ich ja schreiben. Aber ich dachte, es würde reichen, genug Überzeugung vorzugeben, um auch nach draußen zu dürfen; dass sie mich dabei bewacht hätten, damit wäre ich fertig geworden. Stattdessen haben sie mich aber gleich am zweiten Tag von dem kleinen, netten Haus in der Stadt weg und hierher gebracht, in diese Festung mitten in der Einöde, in die kein normaler Mensch seinen Fuß setzen würde. Das alles überstieg meine Vorstellungskraft. Für meinen Roman habe ich längst genug recherchiert, doch ich bekomme nicht einmal Papier und Bleistift.

Im Bett neben mir erwacht Simone, wischt sich die roten, schulterlangen Locken aus ihrem zarten, rundlichen Gesicht, reibt sich die Augen und streckt sich ausgiebig. Vor sechs Jahren hier geboren, kennt sie nichts anderes. Als ich sie zum ersten Mal sah, fragte sie mich, ob ich da draußen viel Angst haben musste. Ich dachte an das Theater, das ich spielen wollte, und sagte: »Du weißt gar nicht, wie froh ich bin, endlich hier zu sein!«
Der durchs Fenster scheinende Mond beleuchtet die tiefen Grübchen neben ihrem lächelnden Mund und auf dem Kinn, als sie ihren Kopf hebt und fragt: »Geht es dir gut, Sabrina?«
»Ja, mein Schatz. Ich hatte nur schlecht geträumt.«
»Hast du von draußen geträumt?«
»Ja, das hab ich, aber …« Plötzlich steht sie neben meinem Bett und streichelt mir über den Kopf. Ihre Vorstellung von der Freiheit ist schlimmer als die tiefste Hölle. Ich muss ihr endlich die Wahrheit beibringen – schonend – und zugleich vorsichtig sein, mich immer vergewissern, dass sie mir glaubt und mich nicht verraten wird. »Weißt du«, sage ich und ziehe sie zu mir herunter, damit ich ihr ins Ohr flüstern kann, »es gibt auch viele schöne Dinge, die wir hier nicht haben, und ich hatte Angst, sie nie wieder zu sehen.«
Sie richtet sich auf und sieht mich fassungslos an. »Aber dann wirst du sterben.«

Draußen blitzt es dreimal von den Strahlern, die am Turm befestigt und ins Gelände gerichtet sind und für Sekundenbruchteile gespenstische Schatten erzeugen. Drei Uhr. Gleich wird die Wache durch den Schlafsaal gehen. Ich lege den Zeigefinger an den Mund, lasse ein »psch…« durch meine Lippen, Simone huscht in ihr Bett, stellt sich schlafend, ich auch. Sie weiß noch nicht warum, spielt mit, weil es alle tun.
In Gedanken zähle ich bis sieben. Jedes noch so leise Schnarchen ist inzwischen verstummt. Ein Zischen und jemand reißt die Tür auf, geht an den Bettreihen entlang; nicht nur zwecks Kontrolle. Ich spüre die Unruhe im Raum. Fünfzig Menschen liegen kurzatmig und regungslos in ihren Betten, rühren sich nicht, hoffen, heute nicht auserkoren zu sein. Oder kann man sich so etwas wünschen? Hoffen manche vielleicht sogar, dranzukommen? Die Stiefelschritte gehen unsere Seite ab, zielstrebig auf die gegenüberliegende Reihe zu. Hier herüben wird wieder geatmet, Decken werden hochgezogen, bis sie die Ohren bedecken. Das Klopfen auf dem Holzboden bleibt im Gleichtakt, vielleicht haben wir alle Glück, es gibt ja noch neunzehn Schlafsäle – unserer ist allerdings der größte. Fast beim Ausgang angelangt, bleibt der Mann doch noch stehen. »Komm.«
»Nein, bitte, nicht …« Es ist Lisas Stimme, kaum mehr als gehaucht; verzweifelt.
»Don Akku ist schon voller Vorfreude!«
»Bitte!«
»Sei doch froh, dass er dich endlich nimmt. Mit zwölf wird es wirklich Zeit, entjungfert zu werden, sonst musst du dich ja schämen. Dann sieht es aus, als wollte er dich nicht … Und morgen hast du Geburtstag.« Er lacht kurz und setzt hinzu: »Es ist doch Don Akkus Geschenk für dich. Seine Hände werden dich ganz zärtlich berühren und du wirst es schön finden. Alle finden es schön.« Er dreht sich zu uns und fragt laut: »Oder gibt es hier jemanden, dem es bei Don nicht gefällt? Der möge aufstehen und vortreten!«
Niemand meldet sich. Ich denke an Simone und ob es für Lisa etwas ändern würde, wenn ich als Einzige aufstehe. Sie würden mich völlig sinnlos erschießen und Lisa bliebe nichts erspart. So macht man keine Revolution. Ich bleibe liegen.
»Siehst du«, sagt er in sich selbst bestätigendem Ton, »und morgen schon darfst du dir jemanden frei nach deiner Wahl aussuchen. Wie jeder hier darfst auch du an deinem Geburtstag für eine Stunde und mit wem du willst ins Liebeshaus.«
»Aber ich will nicht!«, schreit Lisa unter Tränen. »Ich will auch gar nicht Geburtstag haben!«
»Falsch! Du willst endlich ein ganzer Mensch werden und deine Aufgabe erfüllen, ein vollwertiger Teil unserer Gemeinschaft sein. Don Akku«, er hört sich jetzt deutlich aggressiver an, »erwartet dich sehnsüchtig. Du weißt bloß noch nicht, was du willst.« Lisa wehrt sich dagegen, einfach mitgezerrt zu werden, ihr Bett quietscht, als sie sich daran festhält und es mitzieht. »E-r …« Ich höre, wie er sich beim Schlag auf Lisas Handgelenk anstrengt. »… der Gesandte des Heiligen Batter liebt dich genau so, wie er uns alle liebt. Und wenn du dich weigerst, bekommst du auch keine Energie.«
Die Tür fliegt ins Schloss, die pneumatische Verriegelung schließt sich. Lisas Flehen verstummt. Die Stille drückt. Niemand sagt etwas, es gibt genug Verräter, die hoffen, sich besondere Anerkennung zu verdienen, wenn sie Don oder einem der Wächter über alles berichten, was sie beobachten. Es wird totgeschwiegen und trotzdem wissen die Kinder immer wieder, dass sie nichts Angenehmes erwartet. Sie fühlen die Angst, die Nacht für Nacht wortlos in der Luft klebt, aber nur von wenigen so ungehemmt zum Ausdruck gebracht wird wie von Lisa.
Ich muss Simone hier rausbringen, bevor auch sie eines Tages geholt wird.
Während ich aufstehe und zum Fenster gehe, habe ich das Gefühl, mich für mein Tun rechtfertigen zu müssen. »Hier ist es so heiß, ich lüfte mal«, sage ich, öffne und lasse Lisas Schreie wieder in den Raum. Sie machen mich wütend; das gibt mir die Energie, nicht aufzugeben. Alle sollen sie hören. Lisa wird an Händen und Haaren und mit den Worten »Es ist doch nur zu deinem Besten« aus unserem Gebäude hinüber in den großen Turm gezerrt, ihr Widerstand mit dem Schließen der Tür abgebrochen. Auf dem Dach des runden Turms befindet sich Don Akkus Penthouse, wie der Pluspol auf einer überdimensional großen Batterie.
Es blitzt viermal, ich bringe kein Auge mehr zu.
Es blitzt fünfmal. Ich sende ein Stoßgebet nach dem anderen in den Himmel, obwohl ich nie gläubig war.
Als es sechs Uhr blitzt, ertönt zugleich die Weck-Sirene. Lisa ist immer noch nicht zurück.

Wir gehen jeweils zu zehnt duschen, danach versammeln sich alle auf dem Platz neben dem Turm zum Morgengebet. Simone muss ganz nach vorne, wie alle Kinder, deren Vater Don Akku ist. Wer ihre Mütter sind, darf keines von ihnen erfahren. Meine Augen sind stets auf die Tür des Turms gerichtet, während ich bete, dass Lisa endlich herauskommen möge. Es blitzt siebenmal und auch Don Akku sitzt noch nicht auf seinem Thron. Plötzlich blinkt ein rotes Licht über dem Eingang. Mir wird schlecht. Ich kann nicht länger hinsehen, doch meine Augen starren wie von selbst weiter auf das Geschehen. Zwei Wächter schleppen einen großen, blauen Sack aus dem Turm. Sie gehen damit durch ein gesichertes Tor, das in den für uns verbotenen Bereich führt. Ich schlucke verzweifelt, doch ein paar Tränen kann ich nicht zurückhalten, trockne sie mit meinem Ärmel und hoffe, dass mich niemand dabei gesehen hat. Da kommt auch schon eine Wächterin auf mich zu. Ich befürchte Schlimmstes. Stattdessen klopft sie mir nur freundschaftlich auf die Schulter und sagt: »Na, na! Du musst wohl noch viel lernen. Hab einfach Vertrauen, dann gibt es keinen Grund zu flennen! Es liegt nur an dir selbst, auch du kannst glücklich werden!« Macht auf dem Absatz kehrt und geht wieder.
Danach erscheint Don Akku in seinem blitzblauen Umhang, darunter Leggings und ein T-Shirt im selben Blau. Auf seiner Brust thront ein großes »+« aus knallrotem Stoff. Wie ferngesteuert geht er auf seinen Thron zu und setzt sich breitbeinig. Die vorstehende Stirn mit den buschigen, friedhofsblonden Augenbrauen wirft wie eine Schirmkappe Schatten über seine väterlich strengen Augen, mit denen er uns der Reihe nach fixiert. Darüber wippen einige ellbogenlange, vom Kopf abstehende flexible Kabelschläuche auf und ab, an deren Enden kurze Haarbüschel herausragen.
Die Menschenmenge steht geordnet in Reih und Glied, verbeugt sich tief und spricht im Chor: »O Don Akku, unser Gesandter des Heiligen Batter, wir grüßen Euch an diesem wundervollen Morgen!« Ich mache die Bewegungen mit, um nicht aufzufallen, und starre mein tägliches Loch in die Luft.
Don Akku hebt seine linke Hand und senkt sie langsam, alle hocken sich auf den Boden.
»Ihr wisst«, beginnt er und legt eine kurze Kunstpause ein, »wir sind nichts als Materie. Nicht der Körper macht uns aus, sondern die von unserem allmächtigen Batter gesandte Energie des Lebens. Lisas Materie war von schlechter Qualität, verkrampft und steif – absolut unbrauchbar für unsere Gemeinschaft –, daher hat Batter ihre Energie zu sich geholt. Sie bekommt andere Materie und wird schon bald als neues Mitglied zu uns stoßen. Batter will nur das Beste für uns alle, und wenn er sich irrt, korrigiert er seine Fehler.«
Ich könnte dieses Schwein auf der Stelle umbringen. Damit hätte ich dann den größten Fehler korrigiert. Aber es sind zu viele treue Wachen hier, und ich will doch Simone retten … Ich brauche endlich einen Plan, seit Wochen suche ich nach einer Gelegenheit, ohne sie zu finden.
Es wird gesungen und gebetet, bis es acht Uhr ist. Danach marschieren wir geordnet im Gänsemarsch in den großen Speisesaal, frühstücken Reis mit Rosinen. Simone setzt sich wie immer neben mich, ich gebe ihr ein paar meiner Rosinen; sie liebt sie so. Und sie braucht Kraft, wenn sie anschließend, wie alle anderen auch, für die Gemeinschaft und vor allem für Don Akku arbeiten muss. Simone tut mir jedes Mal leid, wenn ich sehe, wie sie in der Weberei schuften muss und es noch dazu gern tut, weil sie glaubt, damit ihr Leben zu verlängern. Der Heilige Batter gibt nur Energie, wenn man arbeitet, und das gilt für alle ab fünf. Wer es nicht schafft, hat einfach schlechte Materie erwischt und Batter korrigiert seinen Fehler …

Das Geklapper der Löffel in den Schüsseln nimmt ein Ende, wir danken Batter für das vorzügliche Mahl und gruppieren uns wie gewohnt, um zu den verschiedenen Arbeitsstellen zu marschieren. Ich bin der Landwirtschaft zugeteilt.
Als wir in Richtung der eingemauerten Felder gehen, drehe ich mich noch einmal um, bevor ich Simone aus dem Blickfeld verliere und schicke ihr ein Lächeln, wie jeden Tag. Und wie immer lächelt sie zurück und winkt. Doch heute sehe ich dabei noch etwas anderes.
Don Akku übergibt einem seiner Gehilfen einen Koffer und gestikuliert dabei aufgeregt herum. Ich blicke wieder nach vorn, sage kein Wort. Offene Kritik hat noch niemandem gut getan. Als ich mich noch einmal umdrehe, läuft Don Akkus Verbündeter gerade eiligen Schrittes in Richtung des schweren Stahltors, durch das ich hereingekommen bin und welches von Scharfschützen bewacht wird. Don Akku ist wieder in seinem Turm verschwunden.

Ich lehne die Leiter an einen der Kirschbäume, da sie bereits viele rote Früchte tragen, klettere mit einem Korb hinauf. Jetzt kann ich zwar noch nicht über die Mauer sehen, aber hören, wie sich ein Auto in eiligem Tempo von der Anlage entfernt. Ich beschäftige mich mit den Kirschen. Und damit, was wohl in dem Koffer ist und wo er so schnell hingebracht werden soll.
Die meisten Sektenmitglieder haben alles abgegeben, was sie hatten. Einige taten es gern, weil sie an eine Gemeinschaft glaubten, die nur in ihren Wunschträumen existierte, wo allen alles gehörte und alle sich liebten.
Waren es brauchbare Dinge, wie eine Reisplantage, gingen sie ins »Allgemeineigentum« über, das von Don Akkus Vertrauten verwaltet wird, die anderen mussten ihr Erspartes in bar abliefern, um aufgenommen zu werden, und ich frage mich, was damit geschieht, da wir unser Leben hier praktisch selbst erarbeiten. Vielleicht war all das Geld in dem Koffer? Warum duldet man Don Akku überhaupt in diesem Land? Wer hat da einen Vorteil davon?
Ich selbst galt als mittellos und musste nur das bisschen Geld, das ich in der Hosentasche hatte, abliefern, da ich über die Drogenberatung »Goldene Zukunft« herkam. Als ich einmal zwecks Recherche in die Drogenszene eingetaucht war, zeigte mir Django, ein Süchtiger, dieses Haus, erzählte, dass er da Essen bekommen konnte, wenn er zuvor ein bisschen mithalf. Nichts sah nach Zwang aus, er konnte kommen und wieder gehen, niemand hielt ihn auf. Später, als ich meinen Drogenroman fertig hatte und Django eine Ausgabe schenken wollte, fand ich ihn im Park schräg gegenüber der »Goldenen Zukunft«. Er war deutlich abgemagert und so hinüber, dass er kaum einen Satz zustande brachte. Ich behielt mein Buch in der Tasche, holte den Notizblock heraus. Soweit ich ihm folgen konnte, wurde Tanja, seiner Freundin, eine stationäre Therapie angeboten, seither hat er sie nicht mehr gesehen und er selbst bekam Hausverbot.
»Im Ernst?«, fragte ich ungläubig. »Das tut mir leid, Django.« Meine Gedanken begannen zu arbeiten. Es war mir plötzlich klar wie Bergkristall, worum es sich hier handeln würde und dass ich da recherchieren musste. Also traf ich alle Vorbereitungen, unterschrieb bei meinem Anwalt eine Erklärung, wonach keine von mir unterzeichnete Einverständniserklärung, mich in diesem Haus freiwillig aufzuhalten, länger als zwei Wochen Gültigkeit hätte, und beauftragte ihn, mich danach herauszuholen. Dann spielte ich guten Gewissens die therapiewillige Junkiefrau und gab sogar noch meinen Reisepass im Glauben ab, es würde alles gut gehen. Die »Schwester« bei der Aufnahme erklärte, das seien Sicherheitsvorschriften, falls irgend etwas passieren würde, ein Brand ausbreche oder so, und zeigte mir einen kleinen Stapel anderer Ausweise, die sie in einem feuerfesten Schrank aufbewahrte. »Wenn Sie clean sind und nach Hause gehen, bekommen Sie ihn wieder«, sagte sie freundlich lächelnd. Ich dachte kurz daran, umzukehren, aber ich war wie besessen von meiner Recherchesucht. Sicher lässt mein Anwalt mich längst suchen, aber kann ich mich darauf verlassen, dass man mich in absehbarer Zeit hier findet? Gewiss wurden die Spuren aus der »Goldenen Zukunft« hierher sofort verwischt, es gab sie vermutlich gar nie.
Es blitzt dreizehn Mal und ich bringe meine letzte Ernte ins Verwertungshaus. Beim Essen treffe ich wieder auf Simone. Als hätte sie nur darauf gewartet, mir das zu erzählen, flüstert sie mir zur Begrüßung ins Ohr: »Stell dir vor, Don Akku hat einen gelben Bettvorleger bestellt, auf dem er meinen Umriss als Muster eingewebt haben will!« Sie lacht, findet es tatsächlich lustig. Ich stelle mir ihre Blutspritzer auf dem Gelb vor, entringe mir dennoch ein »Witzig!«, umarme und drücke sie. Die Zeit drängt gewaltig. In der ansonsten leeren Suppe schwimmen drei Scheibchen Karotten und vier Erbsen. Ich gebe Simone mein Gemüse, auch von ihrer anderen Sitznachbarin, Heidi, bekommt sie etwas ab. Alle lieben Simone, doch nur bei mir fühlt sie sich geborgen, das zeigt sie mir jeden Tag. Wenn wir endlich draußen sind, werde ich sie adoptieren, dazu bin ich fest entschlossen.
Anschließend bekommen wir wieder einmal Reis, diesmal mit Champignonsauce, die ihn beinahe zu einem Festmahl macht.
Während die anderen kaum über ihren Tellerrand hinausschauen, beobachte ich mit gestrecktem Hals durch das Fenster, wie Wächter und engste Mitarbeiter Don Akkus hektisch umherlaufen, sich absprechen, die Ranghöchsten von ihnen zielstrebig zum Turm gehen und eintreten. Ich löffle meinen Teller leer, man kann nie wissen, was noch kommt.

Die Kinder müssen bis fünfzehn Uhr in die abgedunkelten Schlafsäle, während für uns Erwachsene das sogenannte Nacktyoga am Programm steht, welches mit Yoga nur selten etwas gemeinsam hat. »Unser Inneres geht mit uns durch verschiedene Körper und bleibt dabei immer dasselbe, deshalb müssen wir uns auch in beiden Körpern zuhause fühlen. – Die heutige Übung soll uns diesen Wechsel von einem Geschlecht ins andere erleichtern. Dafür stellen sich Frauen und Männer gegenüber auf. Betrachtet und berührt euch so, wie ich es vormachen werde, denkt euch hinein in den anderen Körper, als wäre es euer eigener«, ist die Anweisung von Don Akku persönlich, diesmal ohne Umhang, dafür mit weiter Schlabberhose. Er wählt eine Frau aus der Menge, um mit ihr die Begrapsch-Übungen vorzuzeigen. Sexuelle Gefühle zu zeigen, ist dabei verboten. Sex existiert fast nur mit Don Akku, Verhütung gibt es nicht, im Gegenteil: Frauen müssen melden, wann sie die Regel haben, damit er sich die besten Tage aussuchen kann. Abgesehen von dem jährlichen Geburtstagsstündchen im Liebeshaus belohnt er ab und zu einen der Wärter damit, dass er sich mit jemandem seiner Wahl vergnügen darf; davon sind jedoch die Frauen, die sich gerade in ihrer fruchtbaren Phase befinden, ausgeschlossen.
Der Mann mir gegenüber ist ein typischer Softie Mitte zwanzig, Schüchternheit in jeder Bewegung, aus Angst, etwas falsch zu machen. Als müsse er einen Text abschreiben, schaut er zwischen mir und Don Akku hin und her, während er seitlich an meiner Taille und über die Hüften entlangfährt, danach über den Hintern und den Rücken wieder nach oben. Dasselbe mache ich bei ihm, damit haben wir die Aufwärmrunde hinter uns gebracht. Manche, die schon lange da sind, sind mit einer mich erschreckenden Ernsthaftigkeit bei der Sache. Ich spiele mit, weil auch jetzt keine gute Gelegenheit für einen Aufstand ist. Sie schließen die Augen und bewegen sich wie in Trance, ohne sexuell erregt zu wirken.
Nun müssen sich die Männer hinter die Frauen stellen, um sich besser vorstellen zu können, selbst einen Busen zu haben. Mein »Partner« drückt mich dabei fest an sich und ich merke, wie etwas von hinten zwischen meine Beine wächst. Langsam kann ich mich gegen eine gewisse Erregung nicht mehr wehren, bei der Enthaltsamkeit hier ist das wohl kein Wunder, aber ich sage trotzdem: »Mensch, reiß dich zusammen, wenn das einer sieht!«
»Was soll ich denn dagegen tun?«, fragt er unschuldig.
»Denk dir …« Mir fällt nichts ein, woran er denken soll, da ich selbst nichts anderes mehr denken kann, als daran, wie es wäre, wenn wir jetzt alleine wären. Ich schließe meine Beine fest um ihn, damit niemand etwas sehen kann, doch das macht uns beide nur noch erregter. In seinem Drang, sich aufzurichten, drückt und reibt er meine empfindlichsten Stellen, ich kann kaum mehr ruhig stehen, weil es überall kribbelt. Es würde wohl niemand bemerken, wenn ich ihn in mich … Da vollführt Don Akku einen Stellungswechsel und ich weiß uns nicht anders zu helfen, als nach hinten zu greifen und den Mann kurz aber kräftig zwischen seinen Beinen zu zwicken. Es wirkt.
»Willst du nicht auch hier raus?«, frage ich, während wir wieder die Rollen tauschen und ich seine Männlichkeit untersuchen soll.
»Draußen …«, beginnt er und verschwindet in seinen Gedanken. Nur, als ich vorschriftsmäßig seine Brustwarzen mit Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger drücke, drehe und ziehe, stöhnt er einmal leise auf.
»Ja? Draußen …?«, frage ich schnell.
»Du weißt nicht, was ›draußen‹ für mich bedeutet. Ich …«
»Wie lange bist du schon hier?«
»Monate … nein, es sind schon –« Er sinkt wieder in seine Erinnerungen. Ich versuche, ihn nicht mehr zu erregen, tue nur so, als berührte ich seinen Schwanz, als Don die Hände seiner Auserwählten über seinen Bauch abwärts führt und ebendort platziert. Bei seiner weiten Hose sieht man ja nichts, während wir nackt herumstehen und von den Wächtern beobachtet werden.
»Wovor fürchtest du dich draußen?«
»Vor mir selbst … und vor der Leere in mir. Vor der Einsamkeit, die mich umbringt. Hier bin ich gut aufgehoben. Habe zu essen, ein Bett, bin für etwas gut.«
»Aber du hast doch auch Gefühle … ich hab sie gesehen.«
»Die interessieren doch draußen auch keinen … haben sie nie interessiert. Ich habe immer nur sehnsüchtig zugesehen, wenn andere in Gruppen im Park saßen und Spaß hatten … oder Verliebte, die miteinander schmusten und dann gemeinsam nach Hause gingen, während ich den Vögeln zusah, wie sie Brotkrümel vom Boden pickten. Es tat so weh, wenn ein Pärchen Hand in Hand an mir vorbeiging … Meine Gefühle zählen nicht. Egal, ob ich hier oder dort bin. Aber hier bin ich immerhin Teil eines Ganzen, habe einen Sinn und eine Aufgabe.«
Gerade, als ich meine Antwort überlege, schickt der Turm fünfzehn Blitze, die ich sonst erlösend finde, heute jedoch viel zu früh. Wir formieren uns wieder nach Schlafsälen getrennt, ich verliere ihn aus den Augen.

Zwischen dem anschließenden Chorgejammer, zu dem auch wieder die Kinder kommen, und unterwürfigen, für dieses schöne Leben dankenden Gebeten finde ich ein wenig Zeit, mit Simone zu reden. Ich spüre, dass sie mir vertraut, doch ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Ich möchte ihr von fröhlich tobenden, lachenden Kindern erzählen, aber nichts, was diese spielen, kennt Simone – keinen Spielplatz mit Klettergerüsten und Schaukeln, kein Fangen- oder Versteckspiel, keine Wasserrutsche, keinen Drachen, keinen Ball, keine Puppe zum Liebhaben. Was würde sie sich vorstellen, wenn ich ihr von einem Ringelspiel erzähle, wo doch ihr ganzer Horizont an den Mauern dieses Lagers endet? »Simone«, flüstere ich und nehme all meinen Mut zusammen, »ich würde dir gern die schönen Dinge draußen zeigen.«
»Aber das darf man doch nicht!«, flüstert sie aufgeregt und fast zu laut zurück.
»Draußen würde dir das keiner verbieten. Da darf man fast überall hingehen, wo man will. Ich bin ganz sicher, dass es dir draußen gefallen würde.«
Sie sieht mich ungläubig an. »Das ist doch gefährlich. Und wenn uns die Energie ausgeht, was ist dann?«
»Wenn es keinen gibt, der sie einem nimmt, bleibt sie in einem drin, bis man ganz alt ist.« Simone ist sprachlos, wie versteinert sitzt sie da, und ich spreche weiter: »Das hab ich auch schon selbst miterlebt, es gibt Menschen, die sind über hundert Jahre alt und noch immer fröhlich. Aber ich hatte noch nie das Gefühl, in einem neuen Mitglied ein altes wiederzuerkennen. Hattest du das schon einmal?« Simone schaut drein, als hätte man ihr alles gestohlen, ist immer noch zu keinem Wort fähig, doch sie schüttelt zaghaft den Kopf. Ich nehme sie in den Arm, streichle sanft über ihren Rücken. Was mag jetzt alles in ihr vorgehen, wie sehr habe ich ihre Welt schon aus den Angeln gehoben? Liebt sie mich genug, um mich nicht zu verraten?

Als Abendessen gibt es Milchreis mit Kirschen. Natürlich überlasse ich Simone wieder meinen Anteil an frischen Vitaminen, sie braucht sie dringend. Ich hatte ohnehin während der Ernte genascht, obwohl das natürlich verboten ist. Aber bisher wurde ich noch nie erwischt und es zählt immerhin nicht zu den Vergehen, die mit dem Tod bestraft werden. Man bekommt dann Übungen verordnet, die den Geist korrigieren sollen. Genaueres weiß ich nicht, doch es interessiert mich, und so hoffe ich sogar, einmal dabei erwischt zu werden.
Nach dem Essen muss ich noch einmal auf die Felder, da ich an der Reihe bin, sie mit Wasser zu versorgen. Die Sonne steht bereits tief und ich versuche mir auszumalen, was Simone gerade macht, und ob sie auch wirklich dicht hält. Ich will mir eine Gute-Nacht-Geschichte für sie ausdenken, doch meine Gedanken sind so wirr, dass mir keine Idee kommt, wie ich ihr das Leben der Kinder draußen schmackhaft machen könnte, wie ihr die Angst vor der Welt draußen nehmen.
Wir treffen uns wieder, als alle sich zum Gebet versammeln. Nach dem zwanzigmaligen Blitzen bleiben die Lichter dieser Turmhälfte an und beleuchten die versammelte Menschenmasse. Don Akku steht vor seinem Thron, er trägt die Haare offen und wird durch Glasbausteine im Boden in rotes Licht getaucht. Stehend leiert er seine Gebete herunter. Die Masse singt an vorgegebenen Stellen »O Heiliger Batter, wir lieben Dich«, dann tritt Stille ein.
Sein Blick schweift über die Menschen hinweg, driftet in die Ferne ab, wo er kurz verharrt, dann räuspert Don Akku sich und sagt: »Jemand will uns ausrotten. Jemand von draußen mit sehr viel Macht. Wir sind hier leider nicht mehr willkommen.« Er setzt sich stöhnend. »Ich habe einen Boten entsendet, der das Unglück hoffentlich abwenden kann, doch wenn man uns tatsächlich vernichten, unser kleines, heiliges Reich auflösen und uns vertreiben will, müssen wir unseren Weg gehen.« Er erhebt sich langsam, lässt seinen Blick erneut über die Menschenmasse und dann Richtung Himmel gleiten, hebt die Arme und sagt: »Ihr wisst ja, wo wir uns dann wiedersehen.«
Mit einer kurzen Handbewegung winkt er uns ab, wie man irgendwelche Brösel vom Tisch wischt. Wir trotten in unsere Schlafsäle.
Wo wir uns dann wiedersehen … Ich muss Acht geben, dass mir mein Abendessen nicht wieder hoch kommt.
Jeder hier weiß, was damit gemeint ist.
Schon seit längerer Zeit fanden in unregelmäßigen Abständen Selbstmordübungen statt. Für den Fall der Fälle. Wie jetzt, falls der Geldkoffer nicht hilft. Niemand kam dann aus. Für die Übungen hatten sie uns in der Zeremonienhalle verschiedene Drogen verabreicht, die sie in Kapseln abgefüllt hatten. Einer nach dem anderen musste sie vor Don Akku persönlich einnehmen, damit es im Ernstfall nur mehr Routine ist. »Wo wir uns dann wiedersehen« wirkt wie eine Hypnose auf die meisten Menschen hier. Wie ferngesteuert fügen sie sich den Anweisungen, im Vertrauen darauf, Don Akku würde es nur gut meinen. Und wer es nicht glaubt, fügt sich trotzdem, um kein schwarzes Schaf zu sein, das geschlachtet wird. Das Kopfweh, das ich eben bekomme, hat mir gerade noch gefehlt. Als läge eine zentnerschwere Last auf meinem linken Auge. Hier mit Simone zu flüchten ist fast aussichtslos. Ich bin am Verzweifeln und sollte doch nachdenken.
Simone kriecht unter ihre Decke, ich setze mich zu ihr, will mit ihr reden und weiß einfach nicht, wie ich meine Gefühle in kindgerechten Worten ausdrücken kann. Seit meiner Kindheit hatte ich mir noch nie so sehr gewünscht, ein großer Vogel zu sein, wie jetzt. Ich träume kurz davon, Simone einfach auf meinen Rücken zu setzen und mit ihr hinauszufliegen, bis zur nächstbesten Stadt, da bemerke ich mein Flüstern: »… mit seinen Flügeln über die Mauern hinweg in die Freiheit. Weites Land tut sich vor ihnen auf; soweit sie sehen können, gibt es keine Mauer, die sie einsperrt. Der Vogel trägt Simone über Berge, da wird das Land ganz hoch, wie hier, wenn ich die Decke aufrichte, aber noch viel höher als Don Akkus Turm, und von da oben kann man dann hinunter schauen …« Simone schaut zum Fenster hinaus auf den Turm. »… aber von den Bergen ist der Ausblick viel schöner, und in den Städten gibt es ganz viele und sogar noch weitaus höhere Türme, die nur dafür gebaut wurden, dass man von oben hinunterschauen kann. Simone und der große Vogel fliegen weiter, über grüne Wälder und Wiesen, blaue Flüsse und Seen bis zu einer Stadt mit vielen roten Dächern. Sie landen auf einem Balkon an einem gelben Haus und gehen in eine bunte Wohnung, die dem Vogel gehört und in der Simone nun leben darf. Eine Wohnung ist so etwas Ähnliches wie Don Akkus Penthouse, aber draußen hat fast jeder so etwas für sich und seine Familie, nicht nur ein Einziger. Sie bekommt ein ganzes Zimmer für sich, in dem sie machen darf, was sie will. Und sie können sich jeden Tag zu essen kochen, was ihnen schmeckt und so viel sie wollen und wann es ihnen passt. Und was das Sonderbare ist: Simone merkt plötzlich, wie gerne sie lebt. Mit jedem Mal, wenn sie sich über etwas freut, wenn sie lacht oder spürt, dass sie geliebt wird, kommt mehr und mehr Energie in sie! Am Ende des Tages hat sie so viel davon, dass sie glaubt, sie müsse wie eine Glühbirne leuchten, aber selbst nach hundert Tagen ist noch immer Platz für mehr Energie, und sie sammelt sie überall ein. Als würde sie Blumen pflücken, sammelt sie Lachen und Freude, und sie findet Freunde, vor denen sie sich nicht …« Ich sehe, dass Simone eingeschlafen ist, und genieße ihr zufriedenes Gesicht. Jetzt bin ich sicher, sie wird mit mir kommen, wenn mir nur ein Plan einfällt.

Ich liege die halbe Nacht wach in meinem Bett, zähle die Blitze vom Turm. Die Mauern sind zu hoch, um darüber zu klettern. Selbst die Obstbaumleiter reicht nur bis zwei Meter unter deren Kante – zu viel Abstand, um sich den Rest hochzuziehen, abgesehen von der Frage, wie man auf der anderen Seite wieder hinunterkommen sollte, ohne sich ein paar Knochen zu brechen. Die wenigen Vertrauten von Don Akku, die draußen Geschäfte für ihn erledigen, kenne ich alle nicht persönlich, um vielleicht einen zu überreden … Irgendwie muss es aber doch möglich sein. Simone lacht kurz im Schlaf, so etwas habe ich von ihr bisher noch nie gehört. Sollte ich versuchen, die anderen zu einem Aufstand zu überreden? Kann ich das denn, ohne mein Leben aufs Spiel zu setzen und damit Simone alleine zu lassen? Könnte ich bloß in die Menschen hineinsehen, wissen, wem ich trauen kann und wem nicht. Ich überwinde mich, flüsternd, so dass ich niemanden wecke, in den Raum zu fragen: »Ist noch jemand wach?«
Eine dünne Stimme meldet sich, wenige Betten von mir entfernt. Im schwachen Lichtschein erkenne ich eine erhobene Hand und tapse barfuß zum Bett des Mannes. Ich kenne ihn nicht, doch er sieht vertrauenswürdig aus. »Hast du auch Angst?«, flüstere ich.
»Angst, wovor? Wir werden vielleicht Batter sehen, hoffentlich … ich wünsche es mir schon so sehr. Ich kann gar nicht schlafen vor lauter Aufregung. Ich war immer treu und …«
Ich lasse ihn reden, gehe zurück zu meinem Bett. Überlege, ob Simone und ich es schaffen könnten, uns zuvor irgendwo zu verstecken, und ob unser Fehlen dann wohl auffallen würde.

Drei Blitze. Einen Moment lang wünsche ich mir, heute auserkoren zu sein. Ich würde ihm Rückgrat und Rippen brechen und ihn dann so verformen, dass er sich selbst einen bläst. Bis tief in den Rachen, dann bleibt er gut stecken.
Der Wächter kommt und geht mit gleichmäßigen Schritten durch den Raum, verlässt ihn wieder. Keiner von uns ist heute dran. Wenig später erspähe ich durch das Fenster, wie ein Mann zum Turm geführt wird. Für ihn brauchen sie keine Gewalt, er fügt sich seinem Schicksal ohne Widerspruch.
Ich versuche, die restliche Zeit doch noch zu schlafen, um morgen keine Gelegenheit für die Flucht zu übersehen.
Plötzlich reißt uns alle um fünf die Sirene aus dem Schlaf, der Turm blinkt rot und grün. Das habe ich noch nie gesehen. Vielleicht finde ich wenigstens ein Versteck für Simone, sie ist klein und hat leichter irgendwo Platz. Wäre sie in Sicherheit, könnte ich den Aufstand wagen … Im Geist suche ich sämtliche mir bekannten Gebäude nach Mauernischen oder anderen Hohlräumen ab, während ich Simone wecke, die noch immer fest schläft. Sie gähnt ein »Guten Morgen, Sabrina« und schaut verwirrt umher.
Während ich ihr beim Anziehen helfe, ergreife ich die vielleicht letzte Chance, mit ihr zu reden. »Simone, ich will nicht sterben, und du doch bestimmt auch nicht, oder?«
»Ich möchte gerne sehen, wovon du mir erzählt hast …«
»Dann müssen wir uns verstecken, damit sie uns nicht finden. Kennst du vielleicht einen guten Schlupfwinkel?«
»Nein, ich durfte mich noch nie verstecken. Als ich klein war, hab ich es trotzdem ein paar Mal gemacht, dann musste ich eine Stunde nackt auf dem großen Platz stehen. Wer rein ist, hat nichts zu verbergen, sagt Don Akku.«
»Hm. Falls wir ein Versteck finden, in das nur du hineinpasst, dann musst du dir das jetzt gut merken: Egal, was hier passiert, du bleibst da drin, und kommst erst heraus, wenn ich dich abhole oder wenn ganz sicher alles vorbei ist. Das ist, wenn alles ganz still ist und Autos mit blauen Lichtern und Sirenen kommen. Den Männern in den Autos kannst du dann alles erzählen. Sie werden dir helfen.«
»Und wo bist du dann?«, fragt sie besorgt.
Die Sirenen verstummen endlich. Über Lautsprecher werden wir angewiesen, rasch in den Zeremoniensaal zu kommen. Ich schaue mich um. Alle sind wach, doch keiner wacht auf.
»Vielleicht kann ich ein paar andere finden, die mit mir flüchten …« Sie schaut erschrocken. »… dann laufe ich zuerst mit denen hinaus, weil sie uns bestimmt verfolgen werden. Aber du kannst dich drauf verlassen, dass ich dann zurückkomme, um dich zu holen. Wenn ich die Kapseln jedoch schlucken muss, dann sollten wir uns jetzt voneinander verabschieden.«
Ein Aufseher kommt und brüllt: »Abmarsch, aber flott!« Mit dem Rücken zu ihm gewendet knie ich mich vor Simone und binde Schuhbänder zu, die sie gar nicht hat, betend, dass das Schwein den Raum verlässt.
»Wir sind gleich soweit«, sage ich, dann dreht er sich endlich um und geht in den nächsten Saal. Ich nehme Simone fest in den Arm, streichle ihren Kopf.

Gerade, als wir uns doch zögernd dem Ausgang unserer 50-Betten-Suite nähern, hören wir draußen die Wächter miteinander reden: »Die hintersten fünf sind schon komplett leer.« – »Okay, dann haben wir nur noch diese hier und können dann das Zeichen geben.« Sie teilen sich in andere Säle auf, treiben dort die wenigen Menschen an, die sich für den Tod nicht extra beeilen wollen.
»Lauf schnell in den vorletzten Schlafsaal und such dir rasch ein Versteck!«
»Komm du mit!«
»Wenn sie mich draußen sehen, werden sie dich nicht herinnen suchen, deshalb geh ich lieber hinaus.« Sie sieht mich ängstlich an, doch ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange, sage »Mach’s gut, Simone« und gebe ihr mit einem leichten Klaps das Zeichen, endlich loszurennen. Ich gehe vor das Haus, halte kurz die Hände vor Mund und Nase, schließe meine Augen, atme einmal tief durch. Dabei lösen sich die zurückgehaltenen Tränen, deren Druck so hoch ist, dass sie mir richtig aus dem Gesicht springen.
Hinter mir höre ich plötzlich Stimmen und ich weiß es sofort, drehe mich um. Sie haben Simone gefunden. »Pass auf die Kleine auf! Wäre dumm, wenn sie uns verloren geht und Batters Schutz verliert!«, ruft mir der Wächter zu. Zum Glück begnügt er sich damit. Simone steht wie erstarrt da, sieht mich erschrocken und prüfend an, bevor sie in meine Arme läuft.
»Bist du dir wirklich ganz sicher, Sabrina?«, fragt sie und hält den Kopf dabei schief.
»Ja, Simone. Ich bin mir nicht nur sicher, ich weiß es.« Beruhigend streichle ich über ihre Wange. Dann schaue ich mich nach einer Möglichkeit um, wie wir jetzt noch entkommen könnten. Viel zu viele Wachen sind damit beschäftigt, alle Menschen in die Zeremonienhalle zu treiben. »Wenn wir jetzt bloß Flügel hätten wie Vögel, könnten wir einfach aufsteigen und in die Freiheit fliegen«, sage ich und sehe zum Himmel. Ein strenger Aufruf aus dem Lautsprecher holt mich zurück. Ich drehe mich um und schaue einem Wächter in die Augen. Sehe Angst darin. Er sagt nichts, steht nur da, öffnet unschlüssig den Mund und schließt ihn wieder. Dann sehe ich, wie sich seine Augen mit Wasser füllen, immer glasiger werden. Fast schluchzt er, als er doch noch sagt: »Ihr müsst in die Halle gehen.«
Ich sehe ihn mit einem tiefen Blick an, versuche, darin sämtliche sich in mir befindlichen Gefühle unterzubringen, sehe weiter seine Angst aufsteigen, senke meinen Blick auf seine Waffe. »Hilf uns.«
Simone sagt es mir von selbst nach, ihr Gesichtsausdruck ist ein einziges Bitte: »Hilf uns.«
»Das kann ich doch nicht!« Seine Stimme wird dabei ganz hoch, verzweifelt singend. »Ich bin doch Wächter.«
»Ge-we-sen! Du kommst genauso dran wie wir!«, kontere ich und breche den Staudamm, seine Tränen finden keinen Halt mehr. »In zwei Stunden bist du entweder tot oder ein freier Mensch – du kannst wählen.«
»Da kommt ein Kollege«, sagt er leise, wischt mit dem Handrücken flüchtig sein Gesicht trocken und verwandelt sich wieder in die ernste Marionette, die er zuvor war. »Abmarsch, jetzt.«
Ich sehe ihn und seinen Kollegen Schuldgefühl einflößend an. Alle beide sind höheren Ranges, was an den symbolisierten drei Batterien auf ihrer Uniform zu erkennen ist. »Ihr Wächter könntet uns alle retten, wenn ihr nur wolltet. Was ist er denn schon ohne euch?! – Sowas von feige, was ihr seid!« Ich spucke vor seine Füße – zum ersten Mal in meinem Leben habe ich genügend Wut, um so etwas zu tun –, nehme Simone an der Hand, gehe mit ihr wenige Schritte weiter Richtung Zeremonienhalle und drehe mich nochmals um. Der Hinzugekommene legt dem anderen gerade die Hand auf die Schulter und ich kann es mir nicht verkneifen: »Naja, vielleicht fruchtet es ja noch …«
Bevor wir in die Halle gehen, bleiben wir noch einmal stehen und schauen zurück. Die beiden rufen den anderen Anweisungen zu, worauf diese zu einem Schuppen laufen.
Ich sehe gerade noch, wie der Wächter, mit dem ich gesprochen hatte, mir mit dem Kopf ein Zeichen gibt, das ich wie »Lauft in diese Richtung!« deute, doch in dem Moment kommt ein anderer Wächter aus der Halle und zieht uns hinein.

Don Akku sitzt vorne auf seinem Thron, schimpft auf die Welt und lobpreist Batter. Vor ihm steht eine Traube Menschen, die ihm wie in Trance zujubeln. Dahinter stehen die, die zwar nicht jubeln, aber ihr Schicksal brav hinnehmen. Sie sind die größte Gruppe. Hinten und am Rand verteilt stehen einige mit ängstlichen Gesichtern, manche diskutieren mit anderen. Zu ihnen reihe ich mich ein. Endlich finden wir zusammen, ich spreche zwei junge Frauen an, die sehr zum Aufstand entschlossen wirken. Da ich die Türe im Auge behalte, kann ich sehen, wie »unser« Wächter von einem noch höheren förmlich hereingeschoben wird, welcher Don Akku ein Zeichen gibt. Dieser unterbricht sein Gebet, nickt und sagt: »Schließen.«
Simone und ich gehen auf unseren Wächter zu, ich bedanke mich bei ihm für die gut gemeinte Chance. Er sagt: »Erfüllst du mir einen letzten Wunsch?«
»Welchen?«
»Küss mich. Mich hat noch nie eine Frau geküsst.« Ich sehe, wie sich eine Träne langsam ihren Weg über sein Gesicht bahnt.
»Wie heißt du?«
»Athanasios.«
»Bist du Grieche?«
»Ist das wichtig?«
»Nei…« Gierig presst er seine Lippen auf meine. Ich gebe mich kurz dem Zungenspiel hin, drücke ihn dann von mir weg. Mit einem Räuspern schaue ich auf Simone. »Wenn du uns hier lebend rausbringst, heirate ich dich sogar.« Er sieht mich überrascht an, hebt langsam seine Hand und kratzt sich nachdenklich am Kopf.
»Wärst du mir bloß früher über den Weg gelaufen. Bei mir war es ein Selbstmordversuch, weil …« Wieder hält er sich die Tränen zurück. »Don Akku hat meinem Leben dann wieder Sinn gegeben … hab ich geglaubt. Bis heute.«
Ich schaue ihm kurz in die Augen, zuversichtlich, möchte ihm Mut machen. »Ich hör mich mal bei den anderen um. Vielleicht haben sie ja eine Idee. Ja, und noch was: Wer hat alles einen Schlüssel von hier und vom Tor draußen?«
»Alle, die einen Rang höher sind als ich.«
»Wunderbar.«
Ich nehme Simone bei der Hand, wir gehen los, da sagt er noch: »Komm, ich geb dir was. Du musst mich dafür aber noch einmal küssen.« Er deutet auf seinen Bauch, wo ein Pistolengriff aus seiner Hose ragt. Ich drücke mich an ihn, die Pistole wechselt den Halfter, der keiner ist. Mein Gott, eine Waffe in meiner Hose! Ich bete, dass sie nicht von selbst losgeht. Und überhaupt, dass bald alles vorbei ist.
Athanasios sieht mich verliebt an.
»Liebe braucht Freiheit«, sage ich, lächle ihm zu und gehe mit Simone.
»Aber wie?«, höre ich ihn noch fragen, doch ich habe keine Antwort.

Als wir bei den anderen ankommen, hören sie zu reden auf und sehen uns misstrauisch an, mit kurzen Blicken zu Athanasios. »Keine Angst, er ist auf unserer Seite«, erkläre ich, meine Tunika leicht anhebend. Ein paar machen erschrocken einen kleinen Schritt nach hinten, andere Gesichter erfüllt ein letzter Hoffnungsschimmer, aber die beiden, mit denen ich zuvor gesprochen habe, sagen leise: »Mensch, super!«
Sie könnten auch lauter jubeln, denn vorne hat das Sterben bereits eingesetzt. Die Ersten haben ihre Zyanid-Pillen schon geschluckt, liegen am Boden und leiden lautstark ihre Qualen.
Die Wortführerin reicht mir die Hand und sagt: »Ich bin Tanja, und du?« Wie lange hatte ich mich nach einem Mädchen namens Tanja erkundigt, bis ich schließlich aufgegeben hatte? Sie muss es sein.
»Da draußen gibt es jemanden, der auf dich wartet.«
Sie sieht nachdenklich drein. »Ja?«
Vorne ein Tumult, eine Frau wehrt sich, hängt an ihrem Leben. Sie wird erschossen. Ein Aufschrei, der sogleich wieder verstummt. Nur kurz haben sie sich erschrocken, sind schon wieder artig.
»Wenn er noch lebt, der gute Django.« Das zu sagen, war jetzt nicht fein, aber ich habe ja selbst erfahren, wie viel Kraft Schmerz geben kann. Und Kraft brauchen wir jetzt alle, ob es weh tut oder nicht. Nach der kurzen Besinnungspause lenke ich wieder aufs Thema: »Alle mit vier Batterien besitzen Schlüssel für die beiden Tore. Habt ihr schon irgendwelche konkreten …«
Drei Wächter kommen auf uns zu, einer greift nach Simone. Ich halte sie fest, sie sagt dem Wächter mutig: »Ich will bei Sabrina bleiben!«
»Sabrina kann gern mit nach vorn kommen, wenn sie dich nicht alleine lassen will.«
Er zerrt sie mit sich, ich merke, wie Tanja Richtung Athanasios läuft, verlasse mich auf ihn und seine Hilfe, bleibe bei Simone.
Vorne angekommen, muss sie sich zu Don Akkus Kindern stellen. Ich lasse sie los, sage ihr, dass sie sich einreihen soll. »… wenn Schüsse fallen, leg dich auf den Boden, damit du nicht getroffen wirst!«
Ich stehe drei Meter vor Don Akku. Spiele mit dem Gedanken, die Pistole zu ziehen, doch ich hatte so etwas noch nie in der Hand. Wer weiß, ob ich treffe? »Sicher nicht, wenn du es nicht probierst«, sage ich zu mir selbst. »Was soll schon schiefgehen?« Ich greife unter meine Tunika, nehme die Waffe in beide Hände, wie ich es aus Krimis kenne, ziele, als mir jemand von hinten die Arme nach unten drückt. Hätte ich bloß irgendwann Karate gelernt. Er möchte mir die Waffe aus den Händen nehmen, doch ich nutze sein Loslassen, um mich umzudrehen und ihm mit aller Wucht mein Knie zwischen die Beine zu jagen. Treffer. Ich ziele erneut und diesmal schneller auf Don Akku, drücke sogleich ab. Meine Ohren vernehmen einen zweiten Schuss direkt nach meinem. Oder war es nur ein Echo? Don Akku verdreht die aufgerissenen Augen und er sieht gar nicht so aus, als freue er sich auf seine baldige Ankunft bei Batter. Als er langsam auf seinem Thron zusammensackt, erkenne ich im Scheinwerferlicht glänzende Tränen, die seine Wangen hinunterlaufen. Sind es Tränen der Erkenntnis? Der Erkenntnis über sein weggeworfenes Leben? Ich drehe mich um und sehe Athanasios mit seiner Waffe. Sicher war sein Schuss der Treffer, aber ich bin stolz, den Mut aufgebracht zu haben. Keinesfalls will ich sterben, weil ich zu feige war, mich zu wehren.
In Sekundenschnelle setzt ein Kampf unter den Wächtern ein, geduckt laufe ich zu Simone, schnappe ihre Hand und wir rennen zu den Leichen, die hinter Don Akkus Thron herumliegen. »Leg dich da hin und stell dich tot, dann werden sie dir nichts tun!«
Ich versuche, mit meiner Waffe noch etwas auszurichten, traue mich jedoch nie, abzudrücken, aus Angst, den Falschen zu erwischen. Nur zwei Mal kann ich mich überwinden, weil ich sie einem Gegner von hinten direkt ansetzen kann. Keine Gefahr, ihn zu verfehlen. Der Zweite geht gerade in die Knie, dreht sich dabei zu mir, was mir einen kurzen Schreck einjagt, und ich sehe seine vier Batterien. Ich warte, bis er am Boden liegt, und sage: »Komm, gib mir die Schlüssel freiwillig, dann ersparst du mir die Suche.« Währenddessen entwende ich ihm seine Waffe, und er tastet noch nach seiner Hosentasche, bevor er endgültig stirbt. Ich greife hinein und finde einen ganzen Schlüsselbund. Ich stehe auf, sehe Tanja, gebe ihr die Waffe und sage, dass ich den Schlüssel habe. Dann laufe ich, um Simone zu holen. Zwischen all den Leichen kauert sie ängstlich wimmernd am Boden. Ich nehme sie auf meinen Arm, trage sie über die Toten hinweg.
Die Schüsse verstummen, viele der Wächter sind auf unsere Seite gewechselt, doch der Zeremoniensaal gleicht bereits einem Schlachtfeld. Ich suche Athanasios, doch ich sehe nur in verkrampfter Haltung gestorbene Menschen, nebeneinander, übereinander. Erbrochenes verrinnt mit Blut. Es stinkt nach Urin, Magensäure und Tod. Simone gräbt ihr Gesicht in meine Schulter, um nichts zu sehen. Ich suche einen Weg zum Ausgang, ohne über all die Leichen steigen zu müssen, doch es lässt sich kaum vermeiden.

Beim Überschreiten der Schwelle nach draußen spüre ich meine Knie fast nicht mehr, so weich sind sie plötzlich geworden. Trotzdem trage ich Simone weiter, drücke sie, gebe ihr einen Kuss auf die Wange und sage: »Gleich sind wir frei!« Dann fange ich vor Erleichterung zu heulen an. Tanja und einige andere umarmen uns ebenfalls. Ich warte, bis alle heraußen sind, aber Athanasios kommt nicht. Die anderen drängen, weiterzugehen.
Wir gehen an den brennenden Schlafsälen vorbei zum großen Tor.
Ich reiche Tanja die Schlüssel.

Gefolgt von nur einer Hand voll Überlebender, öffnen wir das Tor, gehen in die Freiheit. Die Sonne steht groß und rot am Horizont, wie ein mit Blut gefüllter Swimming-Pool. Simone klammert sich ängstlich an mich und gibt mir so die Kraft, sie zu tragen. Ganz ohne Batter.

*

 

Hallo Susi!

Und wieder: Ohne die anderen Kritiken gelesen zu haben, so dass es (bei der Anzahl der Antworten ganz sicher) Doppelungen geben kann. Vielleicht liege ich mit meiner Meinung ja wieder vollkommen gegen den Strich.

Hat sie gefallen?
Ich weiß nicht. Unter dem vorgegebenen Thema: nein.

Als simple Abenteuer-, sprich Spannungsgeschichte: sicher, ja.

Du merkst, ich bin alles andere als begeistert, nicht wahr. Ich habe mich beim Lesen auch so manches Mal geärgert. Denn du nimmst mich als Leser überhaupt nicht ernst. Genau das, was deine Rückwärtsgeschichte ausgemacht hat, lässt du hier vermissen. Nämlich den Leser zu fordern, indem du ihn mitdenken lässt.


In dieser Geschichte hier servierst du dem Leser alles, aber auch wirklich alles auf dem Tablett; er muss kein bisschen selber denken, sich zusammenreimen oder seine Fantasie spielen lassen. Du lässt nicht den kleinsten Raum für die Fantasie des Lesers. Und das ist der Tod einer wirklichen Spannungsgeschichte. Diese hier kommt mir ein wenig so vor, als wärs eine Jugendgeschichte, zur Abschreckung vielleicht vor den Sekten.

Beispiel gefällig?

Die Szene, in der die kleine Lisa ausgewählt wird ist eigentlich, vom Ansatz her, mit die stärkste des gesamten Stückes. Beklemmend und absolut traurig. Jeder weiß, weshalb das Mädchen ausgewählt wird, zumindest kann er es sich denken. Und wenn nicht, dann weiß man in jedem Fall, dass ihm etwas Schlimmes geschehen wird. Es würde also vollkommen reichen, wenn der Wächter nur lapidare Sachen sagen würde. Vielleicht wäre es sogar ratsam, ihn völlig stumm agieren zu lassen, um die Brutalität zu unterstreichen.

Aber nein, wie ein Waschweib plappert der gute alles aus, was ein "normaler Mensch" in der Situation gar nicht tun würde.

Mit zwölf wird es wirklich Zeit, entjungfert zu werden

Ich habe mich richtig geärgert, als ich das gelesen habe. Das ist nicht nachvollziehbar, das ist klischeehaft.


Die interessieren doch draußen auch keinen … haben sie nie interessiert. Ich habe immer nur sehnsüchtig zugesehen, wenn andere in Gruppen im Park saßen und Spaß hatten … oder Verliebte, die miteinander schmusten und dann gemeinsam nach Hause gingen, während ich den Vögeln zusah, wie sie Brotkrümel vom Boden pickten. Es tat so weh, wenn ein Pärchen Hand in Hand an mir vorbeiging … Meine Gefühle zählen nicht. Egal, ob ich hier oder dort bin. Aber hier bin ich immerhin Teil eines Ganzen, habe einen Sinn und eine Aufgabe.«

Da erzählt der junge Mann, was ihn antreibt, bzw. nicht antreibt. Er ist dabei nackt, eine junge hübsche Frau, ebenfalls nackt, berührt ihn. Ich finde, so redet niemand, und schon gar nicht unter diesen Bedingungen.

Die Szene an sich hat mir gut gefallen, wie du die reinen Fakten zum Thema Sekten gut rüberbringst. Aber die Dialoge - so weltfremd und ...ausgedacht.


Was mich dann noch etwas stutzig gemacht hat, war die Kaltblütigkeit, mit der die Protagonistin im Endeffekt ihre Gegner abknallt. Das hatte ich ihr nicht zugetraut und war für mich nachher auch etwas unrealistisch.

Das Ganze hier hört sich nach einem ordentlichen Verriß an, ist es aber nicht.

Es hätte nur sehr viel mehr draus werden können, als eine grundsolide, spannende Sektenstory.


Schöne Grüße von diesseits!

 

Hallo Hanniball!

Freut mich sehr, daß Du auch diese Geschichte gelesen hast! Auch, wenn sie Dir als Horror-Geschichte gar nicht, dafür aber zumindest als Spannungsgeschichte ein bisschen gefällt. :) Wäre sie kein Thema des Monats und hätte sie nicht hier schon eine Empfehlung, würd ich sie glatt verschieben lassen. (Allerdings frag ich mich gerade, ob Empfehlungen wohl mitverschoben werden. In Spannung hab ich eh noch keine einzige Geschichte gepostet …)

Ich habe mich beim Lesen auch so manches Mal geärgert.
Sorry. ;)

Denn du nimmst mich als Leser überhaupt nicht ernst.
Ähm … ernst nehme ich Dich und die anderen Leser schon. Aber offenbar bin ich bei der Gratwanderung zwischen zu viel und zu wenig erklären zu oft danebengestiegen.
Genau das, was deine Rückwärtsgeschichte ausgemacht hat, lässt du hier vermissen. Nämlich den Leser zu fordern, indem du ihn mitdenken lässt.
Ja, dann hab ich jetzt wohl zwei Geschichten zum Überarbeiten, nachdem die, die ich jetzt gerade schreibe, fertig ist (das wird aber noch ein bisserl dauern, weil ich viel recherchieren muß).

In dieser Geschichte hier servierst du dem Leser alles, aber auch wirklich alles auf dem Tablett; er muss kein bisschen selber denken, sich zusammenreimen oder seine Fantasie spielen lassen. Du lässt nicht den kleinsten Raum für die Fantasie des Lesers. Und das ist der Tod einer wirklichen Spannungsgeschichte. Diese hier kommt mir ein wenig so vor, als wärs eine Jugendgeschichte, zur Abschreckung vielleicht vor den Sekten.
Eine Jugendgeschichte zur Abschreckung vor Sekten sollte es nicht sein, allerdings hätte ich nichts dagegen einzuwenden, wenn sie vielleicht für einen Leser eine solche abschreckende Wirkung hätte.
Im Nachhinein hab ich das Gefühl, daß ich mich beim Schreiben wohl zu sehr auf den Plot konzentrieren mußte, um zu dem Ende zu kommen, das ich haben wollte. – Wenn ich schon beim Thema »Ende« bin, gleich den Punkt vorneweg:
Was mich dann noch etwas stutzig gemacht hat, war die Kaltblütigkeit, mit der die Protagonistin im Endeffekt ihre Gegner abknallt. Das hatte ich ihr nicht zugetraut und war für mich nachher auch etwas unrealistisch.
An dem Ende werde ich wohl nicht mehr viel ändern, außer vielleicht stilistisch. Ich denke, es muß so sein, weil sie sonst keine Chance gegen die Wächter hätten. Würden sie sich hinstellen und friedlich zu argumentieren beginnen oder bloß provozieren, aber nicht wirklich kämpfen, wären die Protagonistin, Athanasios und die anderen wohl schnell erledigt. Zudem geht es der Protagonistin ganz besonders um das Retten von Simone, und zumindest bei mir ist das so, daß ich, wenn es um ein Kind geht, deutlich entschlossener und, wenn nötig, auch aggressiver handle, als wenn es nur um mich selbst oder andere Erwachsene geht. Sie hat ja Simone geistig schon als ihr eigenes Kind adoptiert, und wenn ich mir vorstelle, jemand würde das Leben meines Sohnes bedrohen, dann bekäme ich sicher Kräfte, die mir normalerweise niemand zutrauen würde, und die würde ich auch ohne zu zögern einsetzen. Kaltblütig, wie Du sagst, aber in so einer Situation ist das keine grundsätzliche oder schlechte Kaltblütigkeit, sondern eine dem Kampf ums Überleben entsprechende, gesunde Kaltblütigkeit. Ich denke, ein Richter müßte das sogar als angemessene Notwehr erkennen, da ihr Leben ja auf jeden Fall bedroht war (eingesperrt, bewaffnete Wärter, Giftkapseln für jeden) und es auch schon Tote gab, also am Ernst der Sache nicht mehr gezweifelt werden mußte.

Die Szene, in der die kleine Lisa ausgewählt wird ist eigentlich, vom Ansatz her, mit die stärkste des gesamten Stückes. Beklemmend und absolut traurig. Jeder weiß, weshalb das Mädchen ausgewählt wird, zumindest kann er es sich denken. Und wenn nicht, dann weiß man in jedem Fall, dass ihm etwas Schlimmes geschehen wird. Es würde also vollkommen reichen, wenn der Wächter nur lapidare Sachen sagen würde. Vielleicht wäre es sogar ratsam, ihn völlig stumm agieren zu lassen, um die Brutalität zu unterstreichen.
Das Lob freut mich natürlich, auch wenn es eingeschränkt ist. :)
Ich habe mich richtig geärgert, als ich das gelesen habe. Das ist nicht nachvollziehbar, das ist klischeehaft.
Ich werde beim Überarbeiten versuchen, da noch was rauszunehmen, der angesprochene Satz muß aber leider drin bleiben, der ist für mich einer der Wichtigsten in der Geschichte.

Da erzählt der junge Mann, was ihn antreibt, bzw. nicht antreibt. Er ist dabei nackt, eine junge hübsche Frau, ebenfalls nackt, berührt ihn. Ich finde, so redet niemand, und schon gar nicht unter diesen Bedingungen.

Die Szene an sich hat mir gut gefallen, wie du die reinen Fakten zum Thema Sekten gut rüberbringst. Aber die Dialoge - so weltfremd und ...ausgedacht.

Da wird es wohl das Beste sein, wenn ich zwei Szenen draus mache, also das Gespräch woanders stattfindet. Und vielleicht bring ich es ja auch noch ein bisschen weniger ausgedacht zusammen. Hm, allerdings ist es ja so, daß sie ihn damit von seiner Erregung runterholen will, wenn er an Dinge denkt, die alles andere als erregend sind. Und irgendwie rechtfertigt das doch auch den künstlichen Dialog, oder? Sie sind ja beide eigentlich nicht in der Verfassung und auch nicht in der passenden Situation, um über so ein Thema zu reden, sie reden zum Zweck der Nichterregung – glaubst Du nicht, daß sich das dann ungefähr so anhört? :shy:

Das Ganze hier hört sich nach einem ordentlichen Verriß an, ist es aber nicht.
Hier wird ja viel als Verriß bezeichnet, ich bezeichne aber nur etwas als Verriß, was offensichtlich den Zweck hat, die Geschichte als lächerlich darzustellen (was natürlich auch begründet sein kann). Aber das wolltest Du nicht, deshalb hab ich Deine Kritik auch nicht als Verriß empfunden.

Es hätte nur sehr viel mehr draus werden können,
Ja, das war mir schon bald nach dem Schreiben klar, deshalb hab ich schon vor über einem Jahr mit einem zweiten Autor besprochen, vielleicht einen gemeinsamen Roman mit dem Thema zu schreiben, aber der ist mindestens so lasch wie ich … :D

Danke nochmal, hab mich wirklich sehr gefreut!

Liebe Grüße,
Susi :)

 

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