Wohnhausanlage
Eigentlich wollte er die ihm gut bekannte, breite, schrill erleuchtete Straße mit all ihren Straßenbahnen und Bussen und Haltestellen und Menschen und zugesperrten Geschäften hinaufgehen, aber die grüne Ampel verlockte ihn dazu, über die Straße zu gehen, und dann beschloss er, eine Abkürzung zu nehmen. Er bog in eine Gasse ein, die er nicht mal vom Namen her kannte, nicht mal vom im-Auto-Vorbeifahren-und-zufällig-das-Schild-lesen. Er wusste auch nicht, wohin die Gasse führte, aber es sah so aus, als würde sie parallel zur der breiten, grellen Straße verlaufen, die er verlassen hatte. Plötzlich merkte er, dass er in eine Sackgasse geraten war. Vor ihm lag ein breiter, betonierter Weg durch eine Wohnhausanlage.
Schon in seiner Kindheit hatte er Wohnhausanlagen verabscheut; er hasste die gleich aussehenden Häuser, die Büsche, die kleinen Kinderspielplätze, er hasste das labyrinthartige System, das dort herrschte. Doch es erschien im lächerlich, sich umzudrehen und zurückzugehen; also ging er weiter.
Er schritt langsam den Weg durch die Häuser entlang. Links und rechts von ihm Häuser, dreistöckig, grauweißgrau, mit dunklen Fensterläden und Fensterbretten und Balkons. Niedrige Büsche trennten den drei Meter breiten, betonierten Weg von den unscheinbaren Häusern. Fast hinter allen Fenstern war es dunkel, nur einige waren matt, fast schamhaft erleuchtet. Es dämmerte schon, und es dämmerte, als wenn es Spätherbst wäre, langsam, schleichend, aber doch stechend, und die Straßenlaternen leuchteten gelangweilt und unsicher, standen zu weit auseinander, und ihr Licht war zu traurig. Es war nicht mehr hell, aber auch nicht mehr dunkel, und die Laternen wirkten fehl am Platz, aber doch unentbehrlich. Ihr Licht strahlte Kälte aus und signalisierte ihm: du bist hier fremd. Die Laternen schrien diesen Satz heraus, du bist hier fremd, genauso wie die dunklen Fenster und der Beton und die Büsche und die Seitengänge und die verglasten Haustüren und die Stiegenhäuser dahinter.
Der Weg machte eine Kurve, langsam, kaum merkbar, aber doch gerade so, dass er nicht sehen konnte, was ihn vorne erartete. Alles sah so gleich aus, gleich und kalt. Er fühlte sich alleine, einsam, und als er an einer offenen Haustür vorbeikam, vor der zwei Frauen – eine davon mit einem winzigen, schwarzen Hund – standen und redeten, fühlte er sich noch einsamer als vorher. Die Stimmen der beiden Frauen hingen ihm noch eine Weile nach, wurden immer leiser, immer undeutlicher und immer hässlicher. Er fühlte sich noch einsamer als vorher, hatte, seine geballten Fäsute in die Jackentaschen gesteckt, nur noch einen Wunsch: Raus hier. Raus hier, weg, weg von den Häusen mit den schwarzen Fensteraugen, weg von den kalten Straßenlaternen, weg von den fremden Büschen, weg von dem Weg, auf dem jeden Tag so viele Menschen gingen, die er alle nicht kannte und nicht kennen wollte, weg von allem hier.
Eine böse Vorahnung überkam ihn, nein, sie hatte ihn schon längst überkommen, schon als er merkte, dass er in eine Sackgasse geraten war und nun durch eine Wohnhausanlage gehen musste. Die Vorahnung war die Vorahnung einer zweiten Sackgasse, die Vorahnung eines Hauses, einer Mauer am Ende des grauen Betonwegs. Er hatte Angst davor, umkehren zu müssen. Er hatte Angst vor dem Augenblick, in dem er das Haus erblicken würde, das ihm zuschrie: Sackgasse! Und er hatte Angst davor, diesem Haus dann den Rücken zuwenden zu müssen, seinen Nacken zu entblößen, er hatte Angst davor, diese Wohnhausanlage wieder zurückgehen zu müssen. Er ahnte, wie die Laternen und die Büsche und die Fenster und die Häuser ihn dann auslachen würden, er ahnte, wie mickrig er sich fühlen würde, wie ein Verlierer, der nie die Chance zum Gewinn bekommen hatte, er würde sich so mickrig fühlen wie einer, dem es von vornherein bestimmt war, zu verlieren, und es erst erfuhr, nachdem er schon verloren hatte... Er hatte Angst.
Der Weg bog noch immer etwas nach rechts, ließ ihn immer noch nicht sehen, worauf er zuging. Plötzlich wurde ihm klar, dass er Autolärm hörte. Fünf Schritte später sah er die breite, grell erleuchtete Straße mit all den Menschen und Straßenbahnen.