- Beitritt
- 06.06.2005
- Beiträge
- 984
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Wohnraum Erlangen
Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her ...
Auf der Straße zu leben war für mich nie eine in Betracht zu ziehende Lösung gewesen und doch musste ich diese Eventualität eine Zeit lang als Möglichkeit in meine Liste von Optionen aufnehmen.
Nach siebzehn Jahren ohne Auffälligkeiten setzte uns unser Vermieter kurzerhand vor die Tür, um seinen lang gehegten Traum von einer Indoor-Kerbel-Plantage in die Tat umzusetzen. Einen Monat gab er uns, um etwas Neues zu finden, was in Zeiten von Wohnungs- und Baustoffmangel für einen alleinerziehenden Vater von fünf jugendlichen Töchtern eine mittelschwere Katastrophe bedeutete. Ich kann nicht mehr sagen, bei wie vielen Wohnungsgesellschaften und sogar Maklern ich vorstellig wurde. Kam die Sprache auf den Umfang unserer Wohngemeinschaft, konnte ich mich freuen, wenn ich vor dem Klicken des Telefones am anderen Ende der Leitung noch ein „Nein!“ zu hören bekam.
Aufzugeben war nie meine Art, auch wenn der frühe Tod meiner Frau, bei der Geburt der Fünflinge, bestimmt Anlass dazu gegeben hätte. Diese Misere aber begann langsam an meinen Nerven zu nagen und sich auf meine sonst so positive Grundeinstellung auszuwirken.
Eine Woche hatte ich noch, um etwas Adäquates zu finden. Gemessen an der Zeit, die ich schon verbraucht hatte, erschien mir eine Woche verschwindend gering zu sein, wie ein Funken Wahrheit in einer Rede unseres Familienministers.
Meine Töchter bemerkten natürlich, in welch schlechter Verfassung sich ihr sonst so gut gelaunter Vater befand, und versuchten mich, wo sie nur konnten zu unterstützen. Was es für mich umso schwieriger machte, ihnen die Lage, in der wir steckten, weiter zu verschweigen. Vor meinem inneren Auge sah ich bereits Magenta und die anderen vier mit diesen Magazinen vor dem Ald/Mart stehen, während ich mich durch mein Erbrochenes kämpfe, um mir noch einen Schluck Cognac aus dem Altglas unserer ehemaligen Nachbarn genehmigen zu können.
So saß ich dann am dritten Tag vor dem Ablaufen der Frist auf meinem Gymball und ging in Gedanken noch mal die Ansprache durch, die ich mir für den einberufenen Familienrat zurechtgelegt hatte.
Meine lieben Töchter, es gibt Zeiten im Leben eines Menschen ...
In den letzten Wochen hatte sich aus gegebenem Anlass bei mir ein Hang zur Melodramatik eingeschlichen, den ich so bislang von mir noch nicht kannte.
Es gibt etwas, das ich euch sagen muss ...
Plasti, Magenta, Drown, Polypanie und mein Küken, Fluff, saßen Seite an Seite auf unserer Familien-Sitzecke und brabbelten fröhlich in die klimatisierte Stubenluft, als könnte ihnen nichts und niemand ihre Ausgelassenheit nehmen. Ich wusste insgeheim, dass ich es konnte und war nicht glücklich damit.
„Meine Lieben ...“, ich schluckte und startete einen zweiten Versuch, „es gibt ...“
Ich bedauerte meine Entscheidung, die Idee mit den Einzelgesprächen verworfen zu haben.
„Wir haben ein Problem“, platzierte ich nach einem überlauten Räuspern schließlich in die eintretende Still, zu meinem Verdruss begleitet vom atonalen Piepen unseres Hausanschlusses.
Plasti drückte den Annahmeknopf, da sie direkt neben der Anlage saß.
„Ja?“ Ihr Blick wanderte zu mir, nicht ohne erkennbare Enttäuschung, weil es sich nicht um den Nachbarsjungen handelte, der ihr seit einiger Zeit nachstieg.
„Ja, Moment, der ist da.“
Sie reichte mir das Set, während ihre Augen zur Decke wanderten, als meinte sie, dass ich das Telefon manipuliert hätte, um sie davon abzuhalten, mit dem Sohn eines Kerbelbauern auszugehen. (Womit sie zumindest im Ansatz nicht ganz Unrecht hatte.)
Noch bevor ich etwas sagen konnte, drang eine von leisem Knistern begleitete, männliche Stimme durch den Hörer.
„Mögen Sie Musik, Herr Huffman?“
Nach ein paar Stunden Fahrt auf der E3 nahm ich die letzte Kurve, die uns von unserem Ziel trennte. Ein gigantischer Komplex aus Beton und Glas schob sich hinter den @dver/screen-Lärmdamm in unser Blickfeld und ließ mich eine Zeit lang das Blinzeln vergessen.
Die Fahrzeit hatte ich genutzt, um meinen Kindern die Situation zu erörtern, in der wir steckten. Wider Erwarten, ohne mir Vorwürfe wegen des langen Verschweigens gefallen lassen zu müssen. Im Gegenteil, sie waren sich einig, dass es heldenhaft von mir war, die Bürde des Wissens auf mich zu nehmen, um sie vor Trauer und Frustration zu bewahren.
„Was wäre ich nur ohne Euch“, brachte ich mit belegter Stimme noch hervor, bevor ich merkte, dass ein verschwommenes Sichtfeld einen sicheren Fahrstil nicht begünstigt.
Also riss ich mich zusammen.
„Gemeinsam schaffen wir das“, bemerkte Poly, die immer das letzte Wort haben musste.
Ganz die Mutter, dachte ich bei mir und drehte die Musik wieder auf. Gemeinsam singen war doch eine sinnvolle Beschäftigung und eine lange Fahrt lag vor uns.
Das Gebäude nahm nun die gesamte Seite zu unserer Rechten ein, was meinem ersteigerten Mercedes Serum eine leichte Schräglage einbrachte, da jedes meiner Mädchen einen Blick auf das Monstrum werfen wollte.
„Knorke! So was hab ich noch nich gesehen!“, kreischte Fluff.
Damit hatte sie nicht ganz Unrecht. Bei uns auf dem Land war das größte Gebäude die zehnstöckige Scheune bei den Sojafeldern, was nicht ihren antiquarischen Ausruf entschuldigte, der schon zu meinen Zeiten angestaubt war. Mehr als ein Kopfschütteln widmete ich diesem verzeihlichen Fehltritt aber nicht und orientierte mich weiter an der spärlichen Ausschilderung, die einen über das Gelände lotsen sollte.
Ich parkte den Wagen in dem dafür vorgesehenen Park a Noster, was mir größtes Geschick abverlangte, da jedes Deck nur ein paar Sekunden auf dem Grund verweilte, um dann seinen Weg nach oben fortzusetzen. Nachdem wir das Auto verlassen hatten, mussten wir noch eine Zwangsrunde mit dem schwindelerregenden Gebilde drehen, um wieder im Erdgeschoss anzukommen. Erinnerungen an Sicherheitsvorschriften schossen mir durch den Kopf, die ich seinerzeit mal in einem Schulbuch gesehen hatte. Vor der Auflösung der Ämter, hätte es eine solche Anlage nicht gegeben.
Es gab in den Parkkabinen zwar auch zur Hausseite hinführende Ausgänge, die man auf der jeweiligen Etage nutzen konnte, aber wir sollten uns am Empfang melden und der war wie gewöhnlich unten.
Ich gab meinen Namen und den Termin-Code, den der geheimnisvolle Anrufer mir durchgegeben hatte, in den Empfangsassistenten ein, berieselt von tropfenden Klängen aus den unsichtbaren Lautsprechern der Maschine.
„Herr Professor Doktor Brandenburg Doppel-Junior erwartet Sie bereits seit dreißig Sekunden“, unterbrach eine freundliche aber bestimmte weibliche Stimme das Geplänkel.
„Ja, entschuldigung das Parken hat etwas länger ...“
„Lift 24, Etage 73, Raum 10756“
Der Aufzug hatte in etwa die Größe unserer Wohnung, in Grüppchen standen die Fahrgäste beisammen und gaben sich ihren mehr oder minder wichtigen Unterhaltungen hin. Die akustische Untermalung schien hier von überall her zu kommen und sich in seiner Intensität und Rhythmik unseren Bewegungen anzupassen.
Nach längerem Suchen, bemerkte ich, dass es anscheinend keine Knöpfe zu betätigen gab und beschloss, mich abwartend der Dinge auszusetzen die da kamen.
Irgendwann wird er wohl auf die dreiundsiebzigste gelangen, dachte ich mir.
Die Grüppchen verflüchtigten sich mit jeder Etage, in der wir hielten, bis ich auf Höhe der fünfzigsten schließlich alleine mit dem synthetischen Klängen war, an die ich mich zweifelsohne zu gewöhnen begann. Dass der Lift nun bis zu meiner Zieletage durchfuhr, ließ mich in dem Glauben, dass ich wohl erkannt wurde und auf dem schnellstmöglichen Wege zu meinem Termin befördert werden sollte. Die Mädchen wollten sich unten ein wenig umsehen, ich sollte sie anscannen, wenn ich sie brauchte. Ich war über die Tatsache, alleine zu sein zugegebenermaßen nicht ganz unglücklich, sie konnten einem mit ihrem endlosen Geschnatter schon ganz schön die Konzentration rauben, und die brauchte ich bei diesem Treffen. Herr Brandenburg Doppel-Junior hatte zwar ein paar Sachen angedeutet, aber sich ziemlich fachmännisch ausgedrückt und ein Fachmann in solchen Dingen war ich nun mal wirklich nicht.
An meinem Ziel angelangt, empfing mich ein freundlich aussehender Mittfünfziger, mit dichtem weißen Haar und einem ebensolchen Laborkittel.
„Herzlich willkommen, Herr Huffman.“
Wir schüttelten uns die Hände, während er mich durch seine offensichtlich stark belinsten Augen neugierig musterte.
„Bitte folgen Sie mir in mein Büro“, bat er mich, sich schon in die Richtung drehend, die er einzuschlagen gedachte.
Wir gingen schweigend durch kunstbehangene Korridore, von denen, so fiel mir auf, keinerlei Türen abzweigten. Die Berieselung war hier etwas gedämpfter, aber durchaus noch wahrnehmbar, das Tropfen war mittlerweile in ein etwas dichteres Plätschern übergegangen.
Nichts für Blasenschwache, dachte ich bei mir und musste unwillkürlich grinsen.
„So, da wären wir.“
Er betätigt einen Knopf, trat durch einen sich geräuschlos öffnenden Eingang und
deutete auf eine upgegradete Version meines Gymnastikballes, während er sich selbst hinter einen mit allerlei Bildschirmen und Konsolen bedeckten Schreibtisch setzte.
Der Raum hatte zwar keine Fenster, war aber von einem angenehm natürlich wirkenden Licht erfüllt das unterstützt von den mit wabernden Blasen gefüllten Glasbehältern und der auch hier vorhandenen akustischen Untermalung, in mir das Gefühl aufkeimen ließ, mich im Freien aufzuhalten.
Vielleicht auf einem Picknick. Wieder brachten mich meine aberwitzigen Gedanken zum Lächeln.
„Kommen wir gleich zur Sache, Herr, ähm, Huffman. Ich habe über eine Quelle, die ich an dieser Stelle nicht nennen will, erfahren, dass Sie dringend eine Wohnung für Sie und Ihre fünf Töchter brauchen.“
„Das stimmt, genau. Wer ...?“
„Ich will hier wie gesagt nicht über die Herkunft dieser Information reden. Wie Sie vielleicht gemerkt haben, handelt es sich bei unserem Unternehmen keineswegs um eine Immobiliengesellschaft. Vielmehr haben wir durch Zufall eine Entdeckung gemacht, die den Wohnungsmarkt der Zukunft revolutionieren könnte, wenn wir die finalen Schritte der Forschung abgeschlossen haben werden.“
Herr Brandenburg Doppel-Junior lehnte sich mit einem in meinen Augen etwas übertrieben wichtigtuerischen Gesicht auf seinen Schreibtisch und fixierte mich.
„Und hier kämen Sie ins Spiel.“
„Ich? Was kann ich ...?“
„Der finale Schritt unserer Forschungen ist die Untersuchung der Langzeitfolgen, wofür wir noch einige Probanden-Parteien benötigen und die Struktur ihrer Familie liegt uns in dieser Form noch nicht vor.“
„Okay, und was müsste ich tun?“
„Sie müssten samt Ihren Töchtern, unter absolutem Stillschweigen, in eine unserer Musterwohnanlagen ziehen und sozusagen zur Probe wohnen. Sie würden dann monatlich Berichte abliefern und sich unseren Fragen stellen.“
„Mehr nicht?“
„Mehr nicht.“
„Und wenn die Forschungsergebnisse vorliegen?“
“Haben Sie die Chance zu Sonderkonditionen in Ihrer Wohneinheit wohnen zu bleiben. Über eine Einstellung als Hausmeister könnte man sich dann auch noch unterhalten, wenn Sie bis dahin keine Arbeit in der Umgebung gefunden haben sollten.“
Trotz einem gesunden Maß an Skepsis, kam mir das Ganze vielversprechend und zumindest vorübergehend als eine Lösung unseres Problems vor.
„Was sind denn das für Wohnungen?“
„Ja, Herr Huffman, gut dass Sie das fragen.“
Er betätigte einen Knopf, der mir verborgen blieb und eine Grafik mit vielen Wellen und Zahlen öffnete sich aus der Luft heraus.
„Wir sind, wie gesagt, eher durch Zufall darauf gestoßen ..." Er hielt eine dramatische Pause in dem Moment wohl für angemessen. "... sind darauf gestoßen, wie wir Musikdateien wohnbar machen können.“
Es fiel mir schwer meine Überraschung zu überspielen, zumindest fühlte sich mein Gesicht keineswegs so an, als würde es dabei mitmachen.
„Wie bitte?“
„Ich und mein Team haben bei der Arbeit an neuen Komprimierungsverfahren für Audiodateien entdeckt, dass es möglich ist, den entstandenen Platz sinnvoll zu nutzen. Was natürlich dem eigentlichen Zweck, dem Verkleinern der Datei etwas entgegen wirkt, da der Raum ja wieder gefüllt ist.“
Er nickte mir mit einem freudigen Lachen erwartungsvoll zu, als hätte er einen Witz erzählt, den ich erst noch kapieren müsste.
„Verstehen Sie?“
Ich verstand nicht, nickte aber. Wenn die so etwas geschafft haben, warum nicht. Für mich zählte nur die Möglichkeit, ein Dach über den Kopf meiner Mädchen zu bekommen.
„Wie sehen die Wohneinheiten denn aus, möbliert?“
„Eigentlich unterscheiden sie sich nicht sonderlich von normalen Wohnblocks, sie sind unterteilt in Spuren und werden vermietet in Takten. Für Sie und Ihre Familie haben wir eine Acht-Takt-Einheit auf einer Spur Ihrer Wahl vorgesehen, wenn Sie sich auf unseren Vorschlag einlassen sollten. Nach neuesten Standards eingerichtet.“
„Klingt doch ganz gut. Was haben Sie für Objekte zur Auswahl und wann können wir einziehen?“
Seine Miene gefror für einen Augenblick, löste sich aber schnell wieder aus ihrer Starre.
„Nicht so hastig, Herr Huffman, erst die Formalitäten.“
Nachdem ich den Geheimhaltungsvertrag unterzeichnet hatte, schickte ich meiner Ältesten, Drown, die frohe Botschaft und bat sie, mit den anderen hinaufzukommen, was sie auch prompt erledigten. Unten war es wohl doch langweiliger als angenommen.
Herr Brandenburg Doppel-Junior präsentierte uns die zur Verfügung stehenden Objekte mit dem nötigen Einfühlungsvermögen, da er merkte, dass die fünf Halbstarken noch nicht so ganz von dem Projekt überzeugt waren.
„Das geht doch gar nicht.“ War die einstimmige Meinung.
„Ich könnte da als Hausmeister arbeiten.“
„Zunächst einmal müsste ich wissen, wie Sie selbst Ihre Lebensgewohnheiten einschätzen und wie Sie sich Ihren neuen Lebensraum vorstellen“, unterbrach der Professor den wild diskutierenden Tumult.
„Gab es schon Pannen bei den vorausgegangenen Versuchen? Wenn ja, welche?“ Plasti war schon ein schlaues Mädchen.
„Nun, da will ich ehrlich sein. Wir hatten im vergangenen Jahr einen alleinstehenden Herren in der Effektspur eines Radiohead-XXL Songs untergebracht, der warf sich nach zwei Monaten, den Aufzeichnungen zufolge, wegen des Fehlens von Aussicht die Schlagzeugspur hinunter.
„Das ist ja schrecklich.“ Diese Geschichte machte mir meine Überzeugungsarbeit nicht gerade einfacher. Ich bedachte unser Gegenüber mit einem halbvorwurfsvollen Blick.
„Wie vermeiden Sie so etwas in Zukunft?“, versuchte ich die Situation etwas zu entspannen.
„Ja, die Objekte werden nur noch voll besetzt, so dass soziale Kontakte und eine Infrastruktur entstehen können, und wir haben für den Übergang Abstand von sogenannten depressionsfördernden Musikaufzeichnungen genommen, um den Testpersonen das Einleben zu erleichtern. Außerdem haben wir das Platzmanagement nochmals überarbeitet und jedem Bewohner eine Einheit von mindestens eins Komma fünf Takten bei hundert Bpm zugesichert, bei schnelleren Liedern, dementsprechend mehr. Geigen- und Synthesizerspuren haben wir zu Grünflächen mit Spielplätzen und Treffpunkten für Erwachsene ausgebaut. Alles ganz human.“
„Widerspricht das nicht den herkömmlichen Komprimierungsmethoden. Da ging es doch ausschließlich um ...“ Auch mein fiesester Blick konnte die Mädchen nicht aufhalten, unangenehme Fragen zu stellen. Der Professor zog sich etwas zurück und wirkte nicht mehr ganz so euphorisch.
„Zu unseren Arbeitsweisen kann ich Ihnen leider keine detaillierteren Informationen geben, das Risiko der illegalen Verbreitung ist einfach zu groß und unser Geldgeber, die RIAA International, hat ein großes Interesse daran, dass Musik wieder gewinnbringend genutzt wird.“ Das Aufleuchten kurzer Verwirrung in seinem Blick zeigte mir, dass er schon mehr verraten hatte als ihm lieb war.
„Wie ist es mit der Lärmbelästigung ?“, jetzt fing Magenta auch noch an. „Hören wir ständig den Abschnitt in dem wir uns befinden?“
„Also Mädels, ich muss doch wirklich ...“
„Gute Frage, Frau Huffman.“ Magenta war sichtlich berührt von dieser erwachsenen Betitelung, wie ihr stolzer Blick in die Runde verriet. “Die Wohneinheiten sind so gut es geht lärmisoliert und es wird auch vorerst ausschließlich Liedgut verwendet, das in den Abspielstatistiken gegen null tendiert. Sie müssen sich also keine Sorgen machen.“
Die entstehende Pause nutzte ich, um mich geräuschvoll in Bewegung zu setzen. Jemand musste hier ja ein Signal setzen.
„Nun gut ...“
Wir lebten keine drei Wochen in der neuen Wohnung, als der uns mittlerweile beherbergende Song das erste, und so hofften wir auch letzte mal gespielt wurde.
Plasti hatte sich gegen den Umzug entschieden, wie ich vermutete, um bei ihrem Kerbel-Fritzen sein zu können.
„Sie ist fünfzehn, ich kann sie zu nichts zwingen“, hatte ich in dem neu einberufenen Familienrat argumentiert und meine Entscheidung, auf jeden Fall die uns gegebene Chance zu nutzen, auch gegen bockige Mienen und verweinte Augen, durchgesetzt.
Der Umzug konnte also beginnen. Aufgrund der streng limitierten Menge an erlaubten Sachen, beschränkte sich unsere Habe auf ein paar Reisetaschen mit persönlichen Gegenständen.
Unsere Wohneinheit stellte sich als relativ geräumige, aber um so weniger gemütliche Acht- Zimmer-Wohnung mit Blick auf die sogenannten Grünflächen heraus. Diese sogenannten Grünflächen waren zwar eindeutig grün, aber keinesfalls aus irgend einem natürlichen Stoff und schon gar nicht aus dem erwarteten Gras. Vielmehr handelte es sich um etwas, das ich vielleicht noch höflich als Flächengrün bezeichnen würde.
Wir befanden uns in einer bearbeiteten Audiodatei aus den frühen Jahren dieses Jahrhunderts von einem gewissen Tobias Regener. Ich habe im Netz nicht viel über ihn herausfinden können, nur dass er wohl bei einem Talentwettbewerb gewonnen hatte und ziemlich nett war. Wir befanden uns im Gitarrenpart direkt hinter dem zweiten Refrain, also im letzten Drittel. Und hatten von einem ganz gewiss eine Menge: Ruhe.
Wie meine verbliebenen Töchter zu sagen pflegten.
„Es ist so langweilig hier.“
Sie verließen, wohl aus Trotz, sehr selten unsere Wohnung. Lieber räumten sie auf, versuchten den Empfang des Fernsehers in Gang zu bekommen und lasen in den Büchern, die sie sich aus der kleinen Bibliothek am Anfang des Liedes ausgeliehen hatten.
Auf der Gitarrenspur lebten hauptsächlich ältere Leute, wahrscheinlich Fans aus alten Tagen, die sich irgendwie die Teilnahme an dem Projekt erkauft hatten. In der Nachbarschaft munkelte man, dass die komplette Bassspur einem der RIAA-International-Funktionäre gehörte, der aber nur zur Entspannung vorbeischaute, nachdem er wilde Partys in den aktuellen Charts gefeiert hatte. Ein anderes Gerücht besagte, dass Tobias Regener persönlich irgendwo im Backgroundgesang lebte, aber das blieb für immer unbestätigt und würde im Nachhinein betrachtet auch meine Theorie, die ich bezüglich des Folgenden hatte, über den Haufen werfen.
Wir saßen an jenem Morgen in der dritten Woche unseres Aufenthalts gemeinsam am Frühstückstisch und aßen die frisch erwärmten Brötchen aus dem kleinen Supermarkt im Intro, als Polypanie plötzlich aufmerksam ihren Kopf neigte.
„Hört Ihr das?“, fragte sie in die Runde. Auch ich spitzte meine Ohren und hörte ... ja, was hörte ich?
„Ganz leise Musik.“ Die anderen nickten.
Wie gebannt saßen wir auf den Pappstühlen der Essgarnitur, unsere Schmierwerkzeuge fest umkrallt, so dass sich zumindest bei mir langsam Durchblutungsstörungen bemerkbar machten, und lauschten den lauter werdenden Klängen einer längst vergangenen Epoche.
Als das Lied bereits länger als eine Minute lief, bemerkte ich erst, wie laut es wurde. Langsam, aber bedrohlich steigerte sich der Pegel, schwoll weiter an und steigerte sich zu einem Getöse, das die Gläser in den ebenfalls aus Pappe bestehenden Wandschränken klirren ließ. Noch war es nicht bei unserem Bereich angekommen, irgendwo vor Minute 2:43, aber ich ahnte, dass dort etwas auf uns zukam, wie wir es noch nicht erlebt hatten.
„Legt Euch auf den Boden! ... Eure Ohren schützen!“, schrie ich, in der Hoffnung noch gehört zu werden. Ihren Reaktionen nach hatten sie. Ich rannte, vom Druck der Schallmauer stark verlangsamt, in den Schlafbereich, um den Mädchen und mir unsere Decken als Lärmschutz zu besorgen. Doch da donnerte das überdimensionale Gitarrensolo, dessen Gäste wir waren, bereits in seinen ersten Takt und schleuderte mich mitsamt der Decken durch die offene Tür in den berstenden Gläserschrank. Die Küchenmöbel, die laut dem Professor zu unserer modernen Ausstattung gehörten, gesellten sich zu mir, klebten neben mir an der Wand und sanken ebenfalls gemeinsam mit mir Richtung Boden, als die Geräuschwalze ihren nächsten Takt erreichte und ihr verheerendes Theater in Drowns Zimmer fortsetzte.
Es wurde wieder leiser. Der Rat, den ich meinen Töchtern zugerufen hatte, schien von Nutzen gewesen zu sein. Sie rappelten sich zwar stöhnend, aber unverletzt auf und blickten sich von Schrecken gezeichnet in dem Durcheinander um, das vor zwei Minuten noch unsere spärliche Küche gewesen war.
„Papa!“ Fluff entdeckte mich als erste, wie ich verdreht dalag, zwischen Scherben, Pappe und Blut, mit einem Pfeifen im Ohr, das, so glaubte ich zumindest in dem Moment, noch zum Gitarrensolo gehörte.
„Ist es vorbei?“, stöhnte ich, meinen Kopf in Fluffies Schoß geschmiegt. Sie strich mir sanft die blutigen Haare aus meinem Gesicht, während ihre Tränen das Blut auf meiner Stirn verdünnten.
„Ja, es scheint vorbei zu sein“, erwiderte Magenta, die scheinbar auch unverletzt geblieben war.
Sie brachten mich auf die Krankenstation in dem Bereich des Tracks, den es zuletzt erwischt hatte. Es wimmelte von Verletzten und hysterisch kreischenden Großmüttern, die nach irgend etwas zu suchen schienen. Ampullen und allerhand anderes medizinisches Zeugs lagen auf dem Boden verstreut und knirschten bei jedem getanen Schritt, zumindest für die Leute, die es geschafft hatten, sich während des Ereignisses die Ohren zuzuhalten. Da ich anscheinend am schlimmsten aussah, zogen sie mich trotz lautstarker Proteste mancher Mitpatienten vor und brachten mich ins Behandlungszimmer, in dem es nicht viel besser aussah, als im Vorraum. Die Behandlung war flüchtig, da es einfach zu viel zu tun gab, aber meine Töchter halfen, wo sie konnten, tatkräftig mit.
„Ich dachte, das Lied spielt keiner mehr!“, las ich von den Lippen einer älteren Dame ab.
„Hoffentlich kein Comeback!“, hörte ich es dumpf durch meinen Tinnitus.
Die anderen Bewohner unserer Siedlung waren, wie ich später erzählt bekam, größtenteils mit dem Schrecken davongekommen.
Aber obwohl es sich bei mir nur um ein paar oberflächliche Schnittwunden und eine geprellte Schulter handelte, sollte ich über Nacht zur Beobachtung bleiben. Dagegen hatte ich nichts einzuwenden, da meine behandelnde Ärztin einen wirklich netten Eindruck auf mich machte. Meine Töchter verabschiedeten sich noch mit einem Gute-Nacht-Kuss von ihrem Helden- Papa und machten sich auf den Weg, um unsere Wohnung aufzuräumen.
Als am Abend dieses Tages wieder Ruhe eingekehrt war (von einem leiser gewordenen Piepen in meinen Ohren mal abgesehen), blickte ich aus meinem Krankenbett durch die zerborstene Scheibe in der Tür direkt auf die Buchstabentafel für den Sehtest und freute mich auf mein erstes Date mit der netten Ärztin.
Wir hatten vereinbart, dass wir uns auf einen Kaffee im Park treffen wollten, sobald es mir wieder besser ging,
Sie hatte vor ein paar Jahren ihren Mann verloren und war mit ihren drei Söhnen in eine ähnliche Situation geraten wie wir.
Vielleicht war es Schicksal, vielleicht auch bloß Glück, aber ich glaubte, dass es die Frau meines Lebens werden würde. Sie wohnte auch nur ein paar Takte von uns entfernt.
Benebelt von den Schmerzmitteln, aber in freudiger Erwartung auf das, was kommen würde, plante ich die Zukunft in meiner neuen Umgebung und ließ mir meine Stimmung auch nicht von der Tatsache verderben, dass seit dem Zwischenfall kein Kontakt mit Herrn Brandenburg Doppel-Junior mehr aufgenommen werden konnte.
Ich hoffte, dass dieser Zustand irgendwann mal ein Ende haben würde. Schließlich schuldete mir der Professor noch siebenhundert Kröten für den Mercedes.