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Wolfgang

Seniors
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10.10.2006
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Wolfgang

Ich hab schon ewig nicht mehr an ihn gedacht, aber dann erst gestern wieder. Weiß gar nicht mehr, wieso. Irgendwas lag in der Luft. Hat man ja manchmal. Schwache Momente, wenn dich alles aus der Bahn werfen kann. Wenn du bei irgendeinem Frauenfilm auf einmal anfängst und dich fühlst, als hättest du zwei Eimer fettiges Zeug gegessen und dann Rauch in die Augen bekommen. Oder wenn du denkst, dass irgendjemand so ein Räuchermännchen angezündet hat, diese kleinen Dinger, die so ganz weihnachtlich riechen und die dich irgendwie von der Seite erwischen. Aus einem toten Winkel. Es ist ja mehr ein Stolpern. Man stolpert manchmal kurz.
Und als ich gestern stolperte, muss ich kurz an ihn gedacht haben. Hab schon ewig nicht mehr an ihn gedacht, aber dann erst gestern wieder.

Es war nicht schwer, rauszukriegen, wo er wohnt. Mädchen wissen so was. Es gibt irgendwelche Mädchen, wahrscheinlich die, die sowieso dageblieben wären und die jetzt verheiratet sind und auf das erste Kind warten, die wissen so was. Die bleiben mit allen in Kontakt. Die schreiben kleine Listen. Die tragen Namen in ihre Büchlein ein und Telefonnummern und schicken Rund-Mails raus und treffen dich beim Einkaufen und sagen: „Hast du gehört?“ oder: „Weißt du schon das Neuste?“ Aber an normalen Tagen geht man dann an ihnen vorbei, natürlich höflich, also eigentlich bleibt man kurz stehen und hört ihnen auch zu, aber nicht so richtig. Man sagt dann so was wie: „Jetzt muss ich aber wirklich weg, muss noch ins Lidl rüber, Cornflakes kaufen.“ Nein, das sagt man natürlich nicht. Man hört aufmerksam zu und nickt auch und alles, aber man sagt selbst nichts oder nicht viel, damit sie sich blöd vorkommen mit ihren Listen und ihren Fragen und ihrem Ehering. Man gibt ihnen zu verstehen, dass man jetzt ein eigenes Leben hat, ein ganz eigenes. Und dass das alles früher war. Viel früher. Und nicht mehr heute. Meistens sind diese Mädchen mit ihren Listchen wirklich lästig. Außer wenn man gerade gestolpert ist, dann ruft man sie auch einmal an und fragt: „Hast du was von Wolfgang gehört?“

Man selbst hat viel von Wolfgang gehört. Aber nicht mehr an ihn gedacht. Schon ewig nicht. Manche sagen, Wolfgang ginge es nicht gut. Wenn man sich trifft zu Bier und Schnitzel, einmal im Jahr. Ein gemeinschaftliches Stolpern, das ist schon okay. Das ist was anderes. Die sagen dann, Wolfgang ginge es nicht gut, und schauen einen an, so als müsste ich wissen, was mit Wolfgang ist. Nur weil ich damals neben ihm gesessen hab. Weil wir das waren, was man damals so Freunde nannte. Weil ich ihn auf Partys gefahren habe. Und weil ich mit ihm geredet hab über seine Freundin und was er später mal machen will und so. Deshalb schauen sie mich dann mit ihren Schnitzeln an und die Mädchen mit ihren Listen spitzen die Ohren und hören genau zu, aber ich sage dann immer: „Nein, ich habe von Wolfgang nichts gehört.“ „Ihm soll es ja nicht so gut gehen“, sagen sie dann. „Ja“, sage ich. „Genau wie der Eintracht, nachdem der Scheiß-Heynckes alles kaputt gemacht hat.“ Damals mit dem Okocha und dem Yeboah. Dieser Arsch.

Das Problem ist, du fasst gestern einen Entschluss, und musst ihn heute einlösen. Aber du bist ja nicht mehr der von gestern. Du bist der von heute. Heute stolperst du nicht mehr. Heute könnte Julia Roberts kommen und ganz süß gucken und Bambi könnte sterben und ein riesiges Stadion könnte zu einem Song mitsingen und es wäre mir egal. Felsenfest würd ich da stehen und sagen: „Ach, Gottchen. Kommt doch mal runter.“ Aber jetzt steh ich vor dem Haus, in dem Wolfgang wohnt. Ist ein großes Haus, so ein anonymes. Eins mit Klingelschild. Eins, in dem der Wolfgang, den ich mal kannte, nie wohnen würde. Jetzt stehe ich vor dem Haus und frage mich, was zum Teufel ich sagen soll. „Tja, Wolf, schöne Scheiße, dass dir deine Freundin weggestorben ist. Und das mit dem Koks danach, du, das war aber ne Scheiß-Idee. Schwamm drüber, lass zu nem Eintracht-Spiel fahren.“ Soll ich sagen: „Weißt du noch, damals in Spanien. Die Nutte im Museum. Riesen Sache, oder?“ Und wenn er grade drauf ist? Soll ich dann Requiem for a Dream mit ihm gucken? Fear and Loathing in Las Vegas? Soll ich mir auch so eine, so eine Line reinziehen? Wenn er Geld von mir will. Wenn er weinen will. Wenn er reden will. Wenn er will, dass ich stolpere, dass ich tröste, mit ihm rede.
Das Versprechen von gestern bindet mich nicht. Das Versprechen von gestern gilt nicht. Und wenn mich das nächste Mal einer fragt, wie es Wolfgang so geht, dann sag ich: „Ach, er wohnt ganz schön, hab ich gehört. Du kannst ihn ja mal besuchen.“

 

Hey Rosa,

täusch dich mal nicht, diese "billigen" Geschichten in den Frauenzeitschriften sind auch von besseren Autoren verfasst, als wir es sind. :)

Ist schade, dass dir die Geschichte nichts geben konnte, wenn dir das Thema gar nichts gibt. Leider weiß ich jetzt aus deinem Kommentar nicht, ob dir die Umsetzung des Themas nicht gefällt oder das Thema an sich.
Mit deiner Kritik am Stil, geht es mir da ähnlich. So richtig hilfreich ist das nun leider nicht für mich.

Und wo ich dich grad sehe, ich hab dir vor einigen Monaten eine Kritik zu deiner Geschichte geschrieben, zu der du noch nix gesagt hast: http://www.kurzgeschichten.de/vb/showthread.php?t=37145
Hast du wahrscheinlich nur übersehen. :)

Gruß
Quinn

 

Hallo erstmal,

ich habe mir einfach wahllos eine deiner Geschichten rausgesucht, da ich schon einige deiner Kritiken gelesen habe und diese sehr sachlich und kompetent fand.
So genug der Schleimerei.
Oder halt, doch noch ein wenig davon:
Ich fand die Geschichte sehr sehr schön. Sie war ruhig erzählt. Irgendwie bedächtig. Man merkte dem Erzähler die Depression an, die bedrückte Stimmung. Das hat mir besonders gefallen. Also, dass schon durch die Art der Erzählung die Stimmung so gut transportiert wurde. Gleichzeitig war sie sprachlich aber sehr leicht (damit meine ich nicht niveaulos, sondern fließend) zu lesen.
Nur eine Kleinigkeit. Müsste es nicht heißen: "in Lidl" anstelle von "inS Lidl"?
Einzig den Titel fand ich nicht so gut. Er passt sicher zur Geschichte, aber im Gegensatz zum Rest erscheint er mir etwas "herkömmlich" und hat auch nicht wirklich eingeladen.
Allerdings wird deine berechtigte Frage lauten, wieso ich mir dann ausgerechnet diese Geschichte von dir ausgesucht habe. Insofern: touché.

 

Hallo,

das ist aber eine angenehme Überraschung, dass die Geschichte noch mal auftaucht, hab sie eben auch noch mal gelesen, die gefällt mir heute auch noch gut. Paar Stellen fallen irgendwie aus dem Rhytmus und, du hast völlig Recht, der Titel ist echt doof.
Ich find das bei Titeln hier aber auch immer so eine Sache: So richtig Mühe gebe ich mir da meistens nicht. Mittlerweile schon eher, früher überhaupt nicht. Im "richtigen" Leben liegen Titel und Cover nicht im Verantwortungsbereich des Autors.
Ich finde das ist auch immer so abgekoppelt. Die guten Titel hab ich meist für schlechte Geschichten und manchmal fällt mir ein Titel ein und keine Geschichte dazu oder ein besserer Titel für eine alte Geschichte, ich denk da einfach nicht so viel drüber nach, es war mir nie so richtig wichtig.

Ist ja auch quatsch, auf jeden Fall: Danke, dass du die Geschichte ausgegraben hat! Schön, dass sie dir gefällt.
Quinn

 

Wenn wir nicht wüssten, dass es ein Morgen gibt, würden wir doch manche Entschlüsse gar nicht fassen.


Genau darüber,

lieber Quinn,

habe ich heute lange mit einem Freund geredet.
Und dann guck ich in die Geschichtenliste, und was finde ich?
Deine Geschichte.
Zufälle gibt's.
Deshalb auch von mir ein Danke an Renegade, dass er sie nach oben katapultiert hat.

Du hast dieses Gefühl des auf der Couch sitzen, ins Leere starren und nachdenklich auf der Lippe kauen sehr genau getroffen.
Am Ende dann diese Wutangst, so will ich es mal nennen, wenn man könnte, aber es dann doch nicht tut.

Deine Geschichte trifft mitten rein ins Schwarze.
Da kann sie so alt sein, wie sie will.
:)

Lieben Gruß,
PSS

 

Hey PSS,

schön dass dir die Geschichte gefallen konnte. Das hat mich gefreut.
Sorry, dass ich erst so spät antworte, um Danke zu sagen.

Danke
Quinn

 
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Hallo,


gestern hab ich mal wieder ganz deutlich gelesen, worauf es hier ankommt:
Die effektivste Art um Rückmeldungen zu bitten ist, den Leuten, von denen Du gern eine Kritik hättest, selber eine zu schreiben. Das erhöht deine Chance auf 50 % .
Ja, das ist ein sehr guter Rat. Aber das sind auch so Geschichten - neulich wurde eine noch ältere von mir kommentiert ... - Frollein Black sagte dazu neulich, das wär so wie sich alte Fotos anzugucken. :) Wie alt ist Wolfgang? 4 Jahre? Das war damals an zwei aufeinanderfolgenden Tagen geschrieben (am anderen Tag entstand "Mein Vater"), an denen ich mir fast vorgenommen hatte, an den Werkatzen zu arbeiten, einer Geschichte, die ich so als großen Wurf für ein Jahr geplant hatte, und die nie was geworden ist.
Aber klar: Ich werd dann auch wieder Geschichten von dir kommentieren, natürlich, aber nicht jetzt, weil ich mich hierfür revanchieren will, sondern weil du mit der Überarbeitung der Insel-Geschichte gezeigt hast, dass du ein interessanter Autor - in meinen Augen zumindest - bist.


Ich beginne mal mit einer Deiner Geschichten, die zwar schon ein wenig älter ist, aber eine der wenigen, die nicht in Horror oder Seltsam fallen. Man muss ja was anfangen können mit einer Geschichte, bevor man etwas dazu sagt.
Die in "Seltsam" sind oft ziemlich gut. Seltsam war auch so eine Idee von "magischer Realismus" eine Zeit lang, da stehen wirklich viele gute Geschichten auch. Ist schade, dass das so ein Fantasy-Feeling oft hat, "Seltsam" ist zusammen mit "Sonstige" eigentlich die "literarische" Abteilung auf der Seite - oder war das zumindest eine Weile mal, jedenfalls in meiner Wahrnehmung.

Zunächst einmal: Der Stil gefällt mir gut, den mag ich wirklich gern. Kurz, knapp, lakonisch. Allerdings ist mir schon der zweite Absatz etwas zu lang, der zieht sich beim Lesen, und man weiß immer noch nicht, wohin es jetzt eigentlich geht. Bei uns sagt man übrigens „zu“ Lidl, aber das ist sicher regional unterschiedlich. Das mit den Schnitzeln finde ich auch nicht so gelungen, aber das haben ja schon mehrere gesagt.
Ja, also ich hab zu der Zeit versucht, Rollenprosa wirklich durch zuziehen, und mich zu fragen: Wie würde das jemand erzählen, dem das wirklich so geht. Und dann eben: Diesem Thema nur so ... schleichend sich nähren. Es ist ja schon ein Ton in der Geschcihte, der so ... sich selbst aus der Verantwortung stehlen. Also Rollenprosa ist immer ein schwieriger Kompromiss, finde ich. Auch die Frage: Was lass ich mir durchgehen als Marotte des Erzählers, dabei ist es einfach nur Faulheit oder eine persönliche Schwäche von mir, vom Autor. Ich tu mir bei Ich-Erzählern auch unheimlich schwer, da jetzt 5 Jahre später auch nur ein Komma zu ändern, weil ich keinen Zugriff mehr auf den Erzählern habe. Ich bin nicht der Erzähler dieser Geschichte. Lakonisch - ja, Angst, denke ich. Ich denke hinter Lakonie verbirgt sich oft Angst. Ich denke der Erzähler hier hat Angst.

Den letzten Absatz finde ich dann wieder sehr schön, besonders diese Aussage:
Das Versprechen von gestern bindet mich nicht. Das Versprechen von gestern gilt nicht.
Der Erzähler ist feige, er scheut das Zusammentreffen, er entlarvt sich selbst als unzuverlässig, egoistisch, als Sprücheklopfer, der doch zurückschreckt, wenn es ans Eingemachte geht.
Ja. Ich hab mal eine Weile das Ziel gehabt in Geschichten zu zeigen, dass der Leser sich mehr mit den negativen Eigenschaften der Figuren identifiziert als mit den guten. Aber das ist sehr schwer, weil jeder Leser mit einem Selbstbild an einen Text geht, das auch gefestigt ist.
Ich denke, die Analyse trifft es sehr gut. Aber für mich ist das hier im Text auch die Tragik eines reflexiven Menschen, dass uns die Moral, das Gewissen, das Nachdenken zu Handlungen zwingt, die wir nicht ausführen werden. Ich denke das ist eines der Themen unserer Zeit. Und das Problem mit so einer Geschichte ist letztlich, dass man draufzeigt und sagt: Ach, dieser Pharisäer.

Das ist irgendwie eine komische Geschichte, ich mag die heute noch gern, weil die in dieser formalen Gliederung einen bestimmten Sound hat. Strudel hat gesagt: Der erste Absatz, das Straucheln - und der Rest fällt ab. Für mich ist dann der zuweite, wo du sagst: Der ist zu lang und "Ich hab keinen Bezug dazu" - da ist für mich der Kern dieses ritualisiere Straucheln. Dass man sich trifft und dann zusammen "nostalgisch" wird .Das mochte ich da. Wer weiß - das ist halt schwierig, sowas, eine Idee, die bei einem selbst so stark wirkt, dann auf "fremde" einzuschätzen.

Das ist ja auch ein Text - von wann ist der? 2007 - meine Fresse. Also wenn ich mich in 6 Jahren nicht verändert hätte, dann wär ja alles umsonst gewesen die letzten Jahre. ;)

Weiß ich nicht, schwierig.
Den Spruch mit den Kommentaren hat Fliege übrigens von mir: :P Auch wenn sie das sicher abstreiten wird.

Danke für den Kommentar, gute Nacht.
Quinn

 

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