Wolfsnacht
Ich war damals knapp 18, und ich besaß einen Kalender. Es sind immer diese zwei Dinge, die mir zuerst einfallen, wenn ich an jenen Sommer zurückdenke, und obwohl schon so viele Jahre dazwischenliegen, kommt die Erinnerung immer wieder hoch, jeden Tag - aber vor allem nachts. Einen Kalender besitze ich immer noch.
Mark war ein verrückter Kerl, er war so alt wie ich, und manchmal zweifelte ich daran, dass er mein Cousin war, dass wir so was wie die gleichen Gene in uns trugen. Seit ich denken kann, verbrachte ich im Sommer eine, manchmal auch zwei Wochen bei ihm auf dem Dorf. Wir waren ein eingeschworenes Team, zwei Kameraden, eine Mission. Verrückte Zeiten waren das damals. Manchmal passiert es mir, dass ich im Bus oder in der U-Bahn sitze, an eines unserer Erlebnisse von damals denke, und erst ein abruptes Bremsen oder der Lärm der Großstadt reißt mich aus meinen Gedanken. Erst dann bemerke ich das verschmitzte Lächeln in meinem Gesicht, und den verwirrten Blick des Unbekannten mir gegenüber, der mich ansieht, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf. Aber das ist mir egal. Wie sollte ich ihm auch erklären, dass ich gerade an unsere große Klettertour denken musste, als Mark auf die Idee kam, sich mit einem Strick um die Hüfte, über den kleinen felsigen Abhang abzuseilen, und sich dabei als großer Bergsteiger zu fühlen. Wie sollte er unseren Mut verstehen, als wir dort oben standen und nach unten sahen, unseren Stolz als wir schließlich unten waren, und unser Lachen, als ich plötzlich so ungelenk und hilflos in der Wand hing, und fünf Minuten weder vor noch zurück konnte. Er wusste nichts, von jenem Augusttag, als wir Krebse aus dem Bach fischten, um ihnen als Mutprobe, den kleinen Finger zwischen die Scheren zu stecken. Tausend Erinnerungen, tausend kleine Geschichten, und je mehr Zeit vergeht, desto kostbarer erscheinen sie mir.
Mark war ein verrückter Kerl, die Ideen waren fast immer von ihm. Er zog mich durch eine Kindheit voller Abenteuer, und auch wenn es immer nur wenige Tage waren, so scheinen sie mir heute als Jahre, fröhliche Jahre, voller Sommer, voller Lachen. Aber ich schweife ab. Es gäbe noch soviel zu sagen...
Die Idee wurde im Gasthaus geboren, oder besser gesagt vor dem Gasthaus. Es war im August gewesen, Mitte August, und wenn ich meinen Kalender von damals aus der Schachtel ganz hinten im Schreibtischschrank hervorholen würde, könnte ich auch den genauen Tag sagen.
Der August war heiß und fast alle Tische vor dem Gasthaus waren besetzt. Ich saß gemeinsam mit Mark, Peter und Birgit dort. Peter arbeitet als Mechaniker in der Werkstatt seines Onkels, war Marks bester Freund und ungefähr zehn Meter achtundneunzig groß, er war ein Riese, maß genau zwei Meter. Ich erinnere mich noch genau an den Sommer, als ich Peter nach einer einjährigen Pause wieder begegnete - und plötzlich zu ihm aufblicken musste, als wollte ich den Gipfel des Mount Everest erspähen, während wir ein Jahr zuvor noch Auge an Auge standen. "Das nennt man dann wohl Wachstumsschub", sagte ich statt einer Begrüßung und Peter lachte nur. Ich muss wohl ein sehr dummes Gesicht gemacht haben, damals. Wie dem auch sei, ich habe mich daran gewöhnt, mir bei Gesprächen mit ihm den Nacken zu verrenken. Birgit war seine neue Freundin - in jenem Sommer. Sie war nett, lachte viel, redete viel, Peter nannte sie Kleine, sie nannte ihn Kleiner und Mark sagte manchmal, wenn er scherzhafte Streitgespräche mit ihr führte, Brigitte zu ihr. Wir hatte viel Spaß zusammen, und wir waren jung.
"Wie wär's mit einer Party?" sagte Mark.
Peter, Birgit und ich diskutierten gerade lebhaft darüber, was denn der beste Kinofilm der letzten Monate gewesen sei, als uns Mark uns mit diesem Vorschlag unterbrach. Wir sahen ihn alle erstaunt an, nicht wegen des Vorschlags an sich, sondern weil er so überraschend kam. Aber so war Mark eben.
"Was willst du machen?" fragte Peter und nahm einen Schluck von seinem Bier.
"Eine Party!"
"Und warum?"
"Ist doch egal, Schatzilein", sagte Birgit und strahlte plötzlich. "Machen wir eine Party! Endlich mal ein guter Vorschlag."
"Wir feiern einfach den Abschied von unserem Tommy-Boy hier", sagte Mark und legte demonstrativ die Hand um meine Schultern. Er grinste mich dümmlich an, es war bereits sein drittes Bier, während ich noch immer an meinem ersten herumschlürfte. Ich grinste ebenso dümmlich zurück.
"Manche Leute brauchen wohl dauernd einen Anlass, sich zu besaufen. Wann willst du denn die Party machen? Ich fahre erst in einer Woche."
"Morgen", sagte Mark knapp. "Is doch scheißegal, feiern wir einfach deinen Abschied vor."
Er kicherte.
"Also an deiner Stelle wär' ich jetzt beleidigt", meinte Birgit. "Er kann's anscheinend gar nicht erwarten, dass du abhaust."
"Ich bin's gewohnt..."
"Selber Arschloch", sagte Mark, nahm seine Hand wieder von mir und kicherte weiter.
Peter sah wortlos zu, wie Mark einen weiteren Schluck von seinem Bier nahm.
"Klar, dass so ein Vorschlag von dir kommt", sagte er dann. "Du solltest weniger trinken, mein Freund. Es ist erst vier Uhr und du bekommst schon ganz glasige Augen."
Peters Ratschlag war natürlich scherzhaft gemeint. Trotzdem hatte seine Stimme, seine Art etwas Väterliches an sich, und seit wir größenmäßig neben ihm wie seine Kinder aussahen, war dieser Eindruck noch viel stärker.
"Ich hab' nicht zuviel getrunken. Das liegt nur an der Hitze..."
"Jaja. Genau. Das wird der Grund sein."
"Jetzt mal im Ernst, Jungs", unterbrach Birgit die beiden. "Machen wir diese Party jetzt? Oder war das nur so'ne besoffene Idee?"
"Jaja, dann machen wir eben eine, hab' ja nie gesagt, dass ich was dagegen habe", sagte Peter.
Mark hatte sich von seinem Gekicher wieder erholt und blickte einigermaßen ernst.
"Sehr gut. Ich weiß' nämlich schon genau den richtigen Ort dafür."
"Na, Tommy, is' das nicht ideal? Der Hammer?" fragte Mark.
"Sehr....romantisch, würd' ich mal sagen."
Mark sah mich fragend und voller Erwartung an.
"Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Scheiß auf die Romantik! Das ist der beste Platz für eine Party, den man sich vorstellen kann!"
"Hab' ja nicht gesagt, dass es schlecht ist. Ich hab nur noch nie in der freien Natur Party gefeiert."
"Tja, auf'm Dorf muss man erfinderisch sein", grinste Mark.
Eigentlich hatte er recht. Der Platz war wirklich gut. Links der See, der Wald und die Lichtung mit der kleinen Hütte, vor der wir jetzt standen. Das ganze hatte etwas Malerisches aus dem Urlaubsprospekt an sich, und wenn ich an den Samstagabend dachte, wenn es dunkel war, ein Lagerfeuer brannte und die Musik lief, gefiel mir die Vorstellung plötzlich ganz gut.
"Komm, wir gehen mal rein", sagte Mark und öffnete die Tür.
Die Einrichtung bestand eigentlich nur aus zwei Dingen. Einer Art selbstgezimmerten Theke, und aus einem großen an die Wand genagelten Brett, das anscheinend ein Regal sein sollte. Mark ging hinter die Theke und grinste mich an.
"Na, was sagst du? Sogar eine Bar gibt's hier."
"Ja, eine Bar - und Miss Februar", sagte ich und deutete auf das Bild, das links neben der Theke an die Wand geklebt worden war.
"Mich stört's nicht", sagte Mark, ging einen Schritt näher und sah es sich genau an.
Ich blickte zur Tür hinaus, über die Lichtung zu dem schmalen Feldweg, über den wir gekommen waren. Ein Schatten huschte über den Weg. Irgendetwas war in den Sträuchern neben dem Weg verschwunden, etwas Schwarzes, und es hatte sich sehr schnell bewegt. Etwas irritiert trat ich einen Schritt näher an die Tür, und ließ den Strauch, hinter dem das schwarze Ding verschwunden war, nicht aus den Augen. Mark war noch immer dabei, Miss Februar eingehend zu betrachten. Ich wartete darauf, noch etwas zu sehen, Zweige, die sich bewegten, einen Schatten - irgendetwas. Aber nichts. Die Lichtung lag friedlich in der heißen Nachmittagssonne, Insekten summten, und vom See hörte man das leise Gluckern der Wellen, die ans Ufer schlugen.
Ein sanfter Schlag traf mich in die Seite. Ich zuckte zusammen und sah Mark neben mir stehen.
"Na, was gibt's denn da so Interessantes?" fragte er.
"Da draußen war irgend etwas."
Mark hatte wohl meinen ernsten Gesichtsausdruck bemerkt, denn er begann zu grinsen.
"Da draußen war also was? Das nennt man hier Wald, Tommy. Und im Wald gibt's Tiere, da sieht man immer was..."
"Idiot", sagte ich und grinste auch, obwohl es mir ein wenig Mühe machte. "Das weiß ich auch, aber es hat nicht ausgesehen wie ein Tier."
"Und wie hat...es...dann ausgesehen?"
Wie sollte ich es ihm beschreiben. Ein Schatten, ein flüchtiges Zucken im dämmrigen Dickicht des Waldes, so kurz - und irgendwie konturlos. Wie sollte man etwas beschreiben, von dem man selbst nicht genau wusste, ob man es überhaupt gesehen hatte?
"Vergiss' es", sagte ich.
Den Samstag Vormittag verbrachten Mark und ich damit "Saufzeug" zu kaufen, wie er es nannte. Ich saß alleine im wagen, Mark hatte im letzten Moment bemerkt, dass er vergessen hatte, Zigaretten zu kaufen und war nocheinmal losgetrabt, welche zu holen. Auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt herrscht an diesem Vormittag Hochbetrieb, ein ständiges Kommen und Gehen. Durch den Rückspiegel beobachtete ich die vorbeifahrenden Autos. Gelangweilt stellte ich das Autoradio an, und kurbelte das Fenster hinunter. Der Morgen war trüb gewesen, es hatte beinahe nach Regen ausgesehen, aber dann hatte es aufgeklart, und jetzt brannte die Sonne von einem fast wolkenlosen Himmel ins Auto. Es schien ein weiterer heißer Sommertag zu werden.
Ich sah wieder in den Rückspiegel. Eine Frau war gerade dabei, ihren Hund neben der Eingangstür des Supermarktes anzuleinen. Der Kleine schien etwas irritiert und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, worauf die Frau irgendetwas zu ihm sagte, und mit dem Zeigefinger zu Boden deutete. Der Hund setzte sich, und die Frau ging weg. Ich lächelte und sah auf die Uhr. Mark war schon seit fast zehn Minuten weg, und ich fragte mich, wie lange es dauern könne, Zigaretten zu kaufen.
Ein Auto fuhr in die Parklücke neben mir. Ein alter silbergrauer Mercedes. Verstohlen sah ich hinüber, doch im nächsten Moment dröhnte ein schrilles Pfeifen durch Marks Wagen. Ich zuckte zusammen, meine Hand griff hastig zum Radio. Ich stellte es ab und das Pfeifen verstummte. Der ganze Parkplatz muss es gehört haben, dachte ich. Verwirrt sah ich das Radio an, als ich hörte wie neben mir vier Autotüren beinahe gleichzeitig zugeschlagen wurden. Aus dem Mercedes waren vier Männer ausgestiegen. Beinahe hätte ich begonnen, laut zu lachen. Die vier sahen alle gleich aus! Ich verfolgte sie so unauffällig wie möglich mit meinen Blicken. Sie gingen langsam über den Parkplatz auf den Supermarkt zu. Alle vier trugen dieselbe Art abgetragener Jeans, kurze, schwarze Lederjacken, dunkle Sonnenbrillen - sie hatten sogar alle die gleiche Frisur und die gleichen pechschwarzen Haare. Und sie waren groß. Bestimmt an die zwei Meter, auf jeden Fall noch größer als Peter. Ist hier irgendwo ein Vierlingstreffen, dachte ich damals, oder ein Easy-Rider-Lookalike, und musste schließlich doch lachen. Ich konnte es plötzlich kaum mehr erwarten, Mark von der Begegnung erzählen zu können.
Durch den Rückspiegel beobachtete ich, wie die vier Männer den Eingang des Supermarktes erreichten. Der Hund saß noch immer artig an seinem Platz und starrte sie hechelnd an. Einer der Männer blieb stehen und streichelte dem Hund über den Kopf und zuerst bemerkte ich die Veränderung kaum. Vielleicht hatte es an der Entfernung gelegen, oder daran, dass ich nicht erwartet hatte, dass etwas passieren würde, was es zu bemerken galt. Aber dann sah ich es. Der Hund schien plötzlich seltsam ruhig. Kein Schwanzwedeln mehr, die Zunge hing aus seinem Maul, aber da war auch kein Hecheln mehr, der ganze Körper sah aus, als wäre er irgendwie...erstarrt. Plötzlich verging mir das Lachen.
Die Männer verschwanden im Supermarkt und im nächsten Moment wurde die Fahrertür aufgerissen und Mark ließ sich schwerfällig in den Sitz fallen.
"In dieser Trafik herrscht vielleicht Hochbetrieb", sagte er. "Als ob am Montag Zigaretten abgeschafft würden."
Vor kaum einer Minute hatte ich es kaum erwarten können, Mark von diesen seltsamen Männern zu erzählen, und irgendwie wollte ich es immer noch, doch alles was ich herausbrachte war:
"Dein Radio ist kaputt."
"Kann nicht sein", sagte Mark.
Mit ernstem Blick schaltete er das Radio ein. Eine Frauenstimme verkündete die Wetteraussichten für den Sonntag.
"Willst du mich verarschen?" grinste er mich an. "Geht doch!"
Birgit hatte ganze Arbeit geleistet. Ihre Aufgabe war es gewesen, die Leute für die Party einzuladen, und jetzt wimmelte es von Freundinnen und Freunden und deren Freundinnen und Freunden. Mark hatte es sich nicht nehmen lassen, die "Bar" zu übernehmen, gemeinsam mit Sabine, die er ab und zu auch mal "Sau-Biene" nannte. Er liebte solche Scherze.
Die kleine Hütte war überfüllt mit jungen Leuten von Birgits Einladungsliste. Viele von ihnen kannte ich höchstens flüchtig oder hatte sie noch überhaupt nie gesehen. Ich stand in die Ecke zwischen Eingangstür und Theke gedrängt. Neben mir prangte Miss Februar und vor mir stand ein Mädchen, das sich als Daniela vorgestellt hatte. Sie hatte genauso wie ich schon einiges getrunken, und versuchte mich hartnäckig zum Rauchen zu überreden.
"Na komm schon....nur eine...! Wie heißt du noch mal?"
"Tom."
Sie begann schallend zu lachen und übertönte dabei noch den Lärm aus lauter Musik und duzenden Stimmen.
"Was is'n daran so lustig?" fragte ich und lachte auch.
"Tom und Jerry", sagte sie wie als Begründung.
Grundlos lachten wir weiter, als sich Peter plötzlich zu uns durchdrängte. In seinen Händen balancierte er zwei Becher, die er uns überreichte.
"Soll ich euch bringen. Kommt von Mark. Für das glückliche Brautpaar."
Daniela brach wieder in schallendes Gelächter aus und sprach und lachte gleichzeitig
"Brautpaar? Du spinnst wohl, ich kenn' ihn ja erst seit einer Viertelstunde."
Peter grinste uns zweideutig an und verschwand wortlos wieder in der Menge.
"Was hältst du davon, wenn wir rausgehen. Hier wird's mir schön langsam zu eng", sagte ich.
"Nichts dagegen....aber draußen rauchst du eine, ja?"
"Jaja, schon gut", sagte ich und grinste. Warum war sie bloß so versessen darauf, dass ich rauchte.
Erst als ich durch die Tür trat - mit Daniela im Schlepptau, sie fand es lustig, dass ich sie an der Hand nahm und durch die Menschenmassen zerrte - erinnerte ich mich wieder daran, was ich vor zwei Tagen gesehen hatte. Obwohl der Alkohol bereits seine Wirkung zeigte, fühlte ich mich in diesem Moment wieder nüchtern. Mein Blick schweifte über die vom Lagerfeuer erhellte Lichtung zu jener Stelle im Wald, wo ich den Schatten gesehen hatte. Aber der Wald war nur ein großes Dunkles etwas, ein einziger großer Schatten und ich begann mich selbst dafür zu schelten, dass mich in diesem Moment solch sonderbare Gedanken beschäftigten, Gedanken über ein dunkles, flüchtiges Etwas, das wahrscheinlich einem Kind noch weniger Kopfzerbrechen bereiten würde. Noch dazu jetzt, wo ich Danielas Hand in meiner fühlte, und es so viele andere Dinge zu denken gab, viel schönere.
Ich zog sie bis zum Lagerfeuer und drehte mich zu ihr um.
"Da wären wir", sagte ich.
"Wo denn?"
"Draußen."
Und als ob ich es geahnt hätte, bekam Daniela wieder einen Lachanfall. In unserem Zustand schienen wir beide alles, was der andere sagte, lustig zu finden.
"Gib mir eine Zigarette", sagte ich.
Sie griff in ihre Hosentasche, holte die Packung hervor und hielt sie mir hin.
"Ich hab's geschafft. Er raucht!"
"Kriegst du eine Provision oder so was dafür, dass du andere zum Rauchen verführst?"
"Vielleicht..."
Ich nahm eine Zigarette, sie gab mir Feuer. Ich saugte mit einem tiefen Zug den Rauch ein, beugte meinen Kopf nach hinten, und stieß ihn genüsslich wieder aus. Mein Blick fiel über Danielas Kopf hinweg auf das Dach der Hütte. Zwei grün-leuchtende Augen bewegten sich dort im flackernden Schein des Lagerfeuers lauernd durch die Dunkelheit, blitzten auf, verschwanden, blitzten wieder auf. Mein befreiendes Ausatmen erstarb.
Im nächsten Moment setzte das Ding zum Sprung an, und trotz seiner riesigen Größe und des massigen Körpers überwand es die mehr als zehn Meter zwischen Hütte und Lagerfeuer mit der Leichtigkeit eines Adlers, der sich aus einer Felswand stößt. Der wuchtige Körper fegte Daniela von den Beinen und begrub sie fast ganz unter sich, nur mehr die weiße Hand ragte unter dem schwarzen Koloss hervor. Mit seltsamer Verwunderung stellte ich fest, dass noch immer die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger steckte. Das Ding drehte seinen Kopf zu mir. Seine langen spitzen Ohren waren aufgerichtet und zuckten aufgeregt, die Schnauze war halb geöffnet und schien aus tausenden spitzen Zähnen zu bestehen. Seine großen, grünen Augen leuchteten. Es beugte seinen Oberkörper nach vorne, und plötzlich befand sich sein Kopf direkt vor meinem. Mit stummen Entsetzen bemerkte ich, dass er größer war als ich, obwohl er vor mir kniete....auf Daniela kniete. Ich wollte schreien! Ich wollte....
Er streckte seine Hand aus und nahm die Zigarette, die noch immer schlaff in meinem Mundwinkel hing und vor sich hin glühte. Leises Fauchen drang aus seiner Kehle, dunkel und bedrohlich, wie aus einer anderen Welt. Er legte die Zigarette in seine riesige Hand, schloss sie zur Faust und ich hörte das leise Zischen. Ein wohliger Schauer schien durch seinen Körper zu laufen, und er knurrte zufrieden. Und dann verstummte plötzlich die Musik und ein ohrenbetäubendes Pfeifen dröhnte über die Lichtung und verwandelte den Wald in eine Hölle aus Lärm. Im selben Moment wandte der Wolf sich von mir ab, und erhob sich zu voller Größe, schien alles zu überragen, schien das einzige zu sein, was meine Augen in diesem Moment wahrnehmen wollten oder konnte. Er packte Daniela und hob sie hoch, ihr Körper hing schlaff in seinen Armen. Mit einer blitzschnellen Bewegung stieß sein Kopf hervor, Danielas Hals befand sich plötzlich zwischen den beiden mächtigen Kiefer. Er biss zu, der Kopf sackte nach hinten und als der Wolf das Maul wieder öffnete, fiel hinunter, und landete im feuchten, nächtlichen Gras. Ich schrie und sackte zusammen. Ich sah das Blut, das aus Danielas Hals in einer hohen Fontäne hervorschoss - und ich schrie noch immer, immer weiter und weiter.
Und dann waren sie da.
In der Dunkelheit des Waldes hinter der Hütte blitzten drei weitere grüne Augenpaare auf. Ich wollte weglaufen, aber meine Beine waren wie gelähmt. Durch einen Tränenschleier sah ich Peter mit entsetztem Gesicht aus der Hütte stürmen. Ich wollte ihm etwas zurufen, ihn warnen, doch alles was ich tun konnte, war wie von Sinnen zu schreien. Ein zweiter Wolf löste sich aus Dunkelheit, die ihn bis jetzt verborgen hatte. Mit einem riesigen Satz stand er plötzlich hinter Peter, überragte meinen Freund, den wir alle oft nur ‚Riese' nannten, um bestimmt einen halben Meter. Der Wolf packte ihn mit einer Pranke von hinten am Hals, mit der anderen holte er aus, schlug gegen seinen Rücken, durchstieß seinen Körper....Mit ungläubigem Entsetzten starrte ich auf die große Faust, die aus Peters Brust herausragte wie ein Fremdkörper. Blut tropfte an ihr hinunter, zwischen den Fingern hingen rote, lappige Fetzen.
Und dann hörte ich die Schreie der anderen, die plötzlich mitbekamen, was draußen vor sich ging. Ein schwarzer Schatten schoss auf die Hütte zu und krachte gegen die seitliche Wand. Durch die geöffnete Tür sah ich Körper, die von einer Seite auf die andere geschleudert wurden, andere stürzten, fielen gegen- und übereinander. Ein zweiter Wolf sprang gegen die andere Seite der Hütte. Plötzlich verstummte das Pfeifen, und dann gab es nur mehr der Lärm von duzenden wie wahnsinnig kreischenden Menschen und des zusammenkrachenden Daches, das die angstverzerrten Gesichter unter sich begrub. Ein seltsames Grau legte sich über die Bilder, ein Grau, das in mir war, langsam meinen Blick zu trüben begann. Mein Körper schwankte einige Male kraftlos hin und her, dann kippte ich zur Seite und fühlte noch den kühlen Waldboden an meiner rechten Wange. Gleichgültig nahm ich war, dass sich der Bretterhaufen, der noch vor ein paar Momenten eine Hütte gewesen war, seltsam rhythmisch bewegte, die zerborstenen Bretter hoben und senkten sich unter einer dunklen mordlüsternen Kraft, die jetzt im verborgenen ihr Werk verrichtete. Der Wolf, der Daniela getötet hatte, stand noch immer neben mir. Er starrte mich an, beobachtete mich, schien mein stummes Entsetzten noch mehr zu genießen, als alles andere, wozu er in diesem Moment die Möglichkeit gehabt hätte.
Ein Arm landetet direkt vor meinem Kopf. Sein oberer Teil steckte noch immer im aufgekrempelten Ärmel eines weißen Hemdes, und im schwachen Licht des Lagerfeuers konnte ich am Handgelenk das Ziffernblatt einer Armbanduhr erkennen. Der Sekundenzeiger näherte sich mit ruhigen festen Schritten gerade der vollen Minute...Die Welt um mich herum versank in leuchtendem Grün, dem Grün seiner Augen, die alles überstrahlten.
Anfangs spürte ich nur das leichte Rütteln an meiner Schulter und für diesen kurzen Moment, diese winzige Ewigkeit dachte ich wirklich, ich sei tot. Ich wunderte mich sogar, dass sich tot sein so... normal anfühlte. Das Rütteln wurde stärker, und dann hörte ich die Stimme und erschrak. Nicht weil die Stimme besonders laut oder furchteinflößend gewesen wäre, sondern weil es Peters Stimme war. Ich riss die Augen auf und fuhr hoch. Peter, der neben mir kniete und sich über mich gebeugt hatte, zuckte erschrocken zurück und wäre beinahe nach hinten gefallen. Ich starrte ihn überrascht an, er sah mich an, und für einen kurzen Moment war uns wohl beiden sehr sonderlich zumute.
"Du lebst ja noch", sagte Peter ein wenig atemlos, und ich fragte mich, warum er atemlos und erschrocken wirkte, nachdem was ich gesehen hatte. Hatte sehen müssen.
Er lebt, stellte ich nüchtern fest und versuchte mir nichts von meiner Verwunderung anmerken zu lassen, und erst jetzt sah ich, dass Peter nicht alleine war. Um mich herum standen duzende von Leuten und musterten mich ernstem Gesicht. Neben Peter stand Daniela und obwohl das Licht des Lagerfeuers einen rötlichen Schimmer in ihr Gesicht zauberte, merkte ich doch irgendwie, dass sie leichenblass war.
"Was is los?" fragte ich und meine Stimme krächzte.
"Kannst du aufstehen? Hast du Schmerzen?" fragte Mark, der sich zum hinunterbeugte.
"Jaja, klar...nein...was ist hier los?" wiederholte ich.
"Sag mal, du machst vielleicht Sachen", sagte Peter und lächelte erleichtert. "Hast uns jetzt einen schönen Schrecken eingejagt."
"Du bist einfach umgekippt", sagte Mark.
"Umgekippt?" wiederholte ich dumpf und richtete mich auf. Ich fühlte mich seltsam leicht und schwerelos, der Boden unter mir schwankte ein wenig, wie ein Schiff auf ruhiger See.
"Geht's? Kannst du aufstehen?" fragte Peter.
"Ja, geht schon. Nur ein bisschen schwindelig...."
"Zuviel gesoffen, was? Is nicht gut, vor allem, wenn man's nicht verträgt", sagte Peter und grinste.
"Ja, wahrscheinlich..."
Ich schloss kurz die Augen und versuchte, das Schwanken aus meinem Kopf zu bekommen.
"Was heißt hier gesoffen? Unsre kleine Daniela hier ist schuld. Sie hat versucht dich zu vergiften", sagte Mark und alle Umstehenden lachten. Daniela wurde rot.
"Du bist ein Idiot, Mark", sagte sie.
Ich stand auf. Der Boden schwankte zwar noch immer, aber es wurde langsam besser. In meinem Bauch pochte leichte Übelkeit.
"Was war denn jetzt wirklich los", fragte ich.
"Es war meine Schuld...aber ich wollte dich nicht vergiften", sagte Daniela, sah mich mit gesenktem Blick an und versuchte zu lächeln. "Weil ich dich überredet habe. Du hast einen Zug von der Zigarette genommen, und plötzlich bist du umgefallen. Ich wusste ja nicht.... es tut mir leid, ehrlich."
Ich sah Peter an, der vor mir stand, groß wie immer. Nicht nur seine Worte, sondern auch sein Blick hatte in diesem Moment etwas Väterliches an sich. Aber sein Gesicht war nicht das, was mich interessierte, mein Blick wanderte tiefer, über seine Brust, seinen Bauch. Ein makellos weißes T-Shirt spannte sich über seinen Oberkörper...keine Schramme. Ich hatte es doch gesehen! Und Daniela? Sie lächelte mich noch immer unsicher an, und ihre Augen, so lebendig...all die anderen, sie lebten auch. Kein Schreien...nur betretenes Schweigen.
"Mir geht's gut", sagte ich, ohne es eigentlich zu wollen, es platzte einfach so aus mir heraus.
"Na klar geht's ihm gut", sagte Mark, der sich neben mich stellte und mir auf die Schulter klopfte. "Er is nur ein bisschen verweichlicht, der gute Tom..."
Und wie als Entschuldigung fügte er hinzu: "Er kommt aus der Stadt!"
Für die anderen schienen meine Worte so etwas wie eine Aufforderung zum Weitermachen gewesen zu sein. Einige gingen wieder zurück in die Hütte, andere blieben stehen und führten die Gespräche und Witzeleien fort, die sie zuvor unterbrochen hatten. Ich war froh darüber und setzte mich auf die Bank, die Mark und ich heute morgen neben dem Lagerfeuer aufgestellt hatten. Peter, Mark und Daniela setzten sich neben mich. Ich starrte ins Feuer. Gelb-orange flackerte es vor sich hin, und die Farbe hatte mit einem Mal etwas Beruhigendes an sich. Kein Grün, dachte ich zusammenhangslos.
"Willst du nach Hause?" fragte Peter.
"Ja, ich kann dich fahren", sagte Mark. "Müssen die Saufköpfe eben mal für ne halbe Stunde auf ihren Profi-Barkeeper verzichten."
"Nein. Geht schon wieder ....", sagte ich und lachte leise. "Scheiße, Mark hat recht, ich bin wirklich verweichlicht. Ich vertrage nichts..."
Mark stand plötzlich auf und klopfte mir wieder auf die Schulter.
"Nicht aufgeben Tommy, Übung macht den Meister. So, dann will ich mal wieder reingehen, und die Turteltäubchen alleine lassen."
Er warf Daniela, die vor lauter Überraschung gar nichts sagte, einen zweideutigen Blick zu, und trottete davon. Peter stand ebenfalls auf.
"Turteltäubchen, ach so...", grinste er. "Na dann will ich auch mal..."
Ein paar Sekunden später saßen Daniela und ich alleine auf der Bank. Sie sah mich an, schaute mir in die Augen und ich sah sie an. Dann begannen wir zu reden. Nichts Wichtiges, nichts Großartiges. Und natürlich erzählte ich ihr auch nichts von den Dingen, die ich gesehen hatte. Von den grünen Augen in der Finsternis... immer öfter wanderte mein Blick weg von ihr, an ihr vorbei, hinein in die Dunkelheit, die uns umgab.
"Schau mal die da", rief Mark plötzlich aus.
Erschrocken sah ich auf. Ich saß auf dem Beifahrersitz und war gerade dabei gewesen, die CD-Hüllen zu studieren, die in der Ablage unter dem Handschuhfach lagen. Es war kurz nach drei Uhr nachmittags und wir waren gerade auf dem Rückweg von der Hütte, wo wir das Auto mit leeren Flaschen und Bierkisten beladen hatten. Hundert Meter vor uns, am rechten Straßenrand, stand ein Auto. Ich erkannte den alten Mercedes sofort wieder...und auch die vier Männer, die daneben standen und uns neugierig entgegenblickten.
"Was sind denn das für welche", sagte Mark ernst.
Das sind sie, wollte ich sagen, das sind sie, und sie sehen immer noch so aus. Noch immer dieselben Lederjacken, die verwaschenen Jeans - und diese Sonnenbrillen. Ich sagte nichts. Einer der Männer trat vor uns auf die Straße und bewegte seinen ausgestreckten Arm langsam auf und ab, in seiner Hand hielt er etwas, das wie ein Fetzen Papier aussah. Sie wollten uns anhalten. Bleib nicht stehen, wollte ich sagen. Steig auf das verdammte Gas und fahr vorbei, egal was passiert. Ich wollte es wirklich sagen, es war kein Wunsch mehr, sondern ein panisches Flehen, dass da in mir brannte, aber ich brachte kein Wort heraus. Ich öffnete nicht einmal den Mund. Wortlos nahm ich wahr, wie Mark den Wagen sanft abbremste und direkt vor dem winkenden Mann stoppte. Ich hörte wie Mark irgendetwas zu dem Mann mit dem Zettel in der Hand sagte. Ich hörte nur die Worte, aber konnte sie nicht verstehen, wollte sie nicht verstehen. Meine Aufmerksamkeit galt einzig einem anderen der vier, der sich auf der Beifahrerseite - meiner Seite - dem Wagen näherte. Er kommt her, dachte ich. Er kommt zu mir...Beiläufig bemerkte ich, wie neben mir die Fahrertür geöffnet wurde. Mark stieg aus, während der Mann, der gewunken hatte, seinen Zettel auseinander faltete und ihn auf die Motorhaube legte. Landkarte..... Der andere Mann hatte inzwischen das Fenster auf meiner Seite erreicht. Er beugte sich zu mir hinunter und grinste mir entgegen. Ich starrte zurück, mein Gesicht spiegelte sich in seinen dunklen Sonnenbrillen.
"Hi", sagte der Mann und grinste weiter. Das Grinsen schien in seinem Gesicht festgefroren.
"Hi", antwortete ich kraftlos.
Der Mann fummelte an seiner Jackentasche herum und hielt mir plötzlich eine Schachtel Zigaretten vors Gesicht.
"Willst du?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Dann nicht."
Er steckte die Zigaretten wieder weg und schob seinen Kopf noch weiter durch das geöffnete Wagenfenster. Sein Kopf war nur mehr eine handbreit von meinem entfernt. Er grinste noch immer.
"Soll ich dir verraten, was wir hier machen?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Wir fahren ein bisschen rum, weißt du. Ein bisschen hier, ein bisschen da, wenn du verstehst. Das ist eigentlich alles was wir machen. Wir sind immer auf der Suche nach neuen Orten....und neuen Menschen."
Ich schluckte, starrte auf mein Spiegelbild in seinen Sonnenbrillen und bemerkte aus den Augenwinkeln, das die Landkarte wieder von der Motorhaube genommen wurde.
"Jetzt sind wir gerade wieder auf der Suche nach einem neuen Ort....und brauchen ein wenig Hilfe."
Er kicherte und wurde dann plötzlich ernst. Sogar das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht.
"Wir wären gerne zu euch gekommen", flüsterte er. "Jaaa...wir hätten euch gerne besucht, Kleiner..."
Er hielt kurz inne fügte dann, noch leiser flüsternd, hinzu:
"Zu früüüüh....."
Die Worte waren kaum ausgesprochen, da zog er seinen Kopf aus dem Auto und spazierte gemächlich davon in Richtung des alten Mercedes. Ich blickte ihm mit großen, entsetzten Augen nach und hatte plötzlich, für einen kurzen Moment, das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Für einen kurzen Moment dachte ich wirklich, ich würde hier und jetzt aufhören zu atmen....und sterben.
Ich verstand, was er gemeint hatte.
Ich hatte Mark überredet, mich zuhause abzusetzen, obwohl wir ausgemacht hatten, gemeinsam zum Supermarkt zu fahren. Hatte ihm irgendetwas vorgelogen von wegen Übelkeit und dachte die ganze Zeit, er würde mir nicht glauben, er würde mir ansehen, dass da etwas anderes war. Vielleicht lag es an meinem bleichen Gesicht, dass er mir glaubte. "Du siehst echt nicht gut aus", sagte er nur. Ohne weiter nachzufragen, setzte Mark mich bei sich zuhause ab. Ich wartete noch kurz, bis er an der Kreuzung am Ende der Straße nach rechts einbog, und ging dann ins Haus. Im Garten hinter dem Haus hörte ich meinen Onkel und meine Tante miteinander reden. Sie erzählte irgendetwas von Blumenbeeten, und er sagte in regelmäßigen Abständen immer nur "ja.." "ja...". Ich war froh ihnen nicht begegnen zu müssen und lief die Treppe hinauf, in das kleines Zimmer, das immer für mich hergerichtet wurde, wenn ich Mark besuchte. Leise schloss ich die Tür und ging zum Bett, auf dem mein schwarzer Rucksack lag. Ich öffnete ihn, kramte hastig meinen Walkman und einige Cds zur Seite und griff nach meinem Kalender. Er war dick wie ein Buch, jeder Tag hatte eine eigene Seite, die meisten waren vollgekritzelt mit kurzen Tagebuchentragungen. Aber sie interessierten mich in diesem Moment nicht. Ich blätterte nach vorne. 17. August - der Samstag, die Party..."zu früh..." die Worte kreisten in meinem Kopf. Ich blätterte weiter. 18. August, 20. August...Montag, Dienstag, Mittwoch...die Tage zogen mit einer kleinen Handbewegung an mir vorbei. Und dann hatte ich gefunden, wonach ich gesucht hatte. Ich starrte auf die linke obere Ecke der leeren Seite. Dort stand in großen Ziffern "24" und darunter in jeweils mehreren Sprachen "August/Samstag". Aber das war nicht wichtig. Was mich wirklich interessierte war der kleine Kreis darunter, jener kleine Kreis, der vier Wochen vorher schwarz schraffiert unter dem Datum erschien, der sich zwei Wochen später in einen Halbkreis verwandelte, um schließlich an diesem 24. als voller weißer Kreis wieder aufzutauchen. Vollmond.
"Zu früh...", hatte er geflüstert.
Ja, es war tatsächlich zu früh gewesen.
Fast ein Jahr ist es jetzt her, dass Mark sich umbrachte. Fuhr in einer Sonntagnacht einfach auf eine Wiese kaum einen Kilometer vom dorf entfernt, übergoss sich mit Benzin und zündete sich an. Erst zu Mittag des nächsten Tages wurde er gefunden...jedenfalls das, was von ihm noch übrig war. Und seit einem Jahr weiß ich, dass es falsch gewesen war, zu schweigen, all die Jahre damit zu verbringen, zu verdrängen und nicht mehr daran zu denken. Aber hätte es etwas geändert? Hätte man mir geglaubt?
Mark hinterließ einen Abschiedsbrief. Ein weißes Blatt Papier mit seiner Unterschrift in der rechten unteren Ecke und dem Wort "NEIN" in großen Blockbuchstaben in der Mitte. Bis heute kann sich niemand, der ihn gekannt hatte, erklären, was er damit meinte...außer mir. Aber ich habe wieder geschwiegen, es war ohnehin zu spät, zu verrückt und zu böse.
Zwei Monate vor Marks Tod waren die getöteten Pferde Gesprächsthema Nummer Eins im Dorf. Das erste wurde Ende Juli im Nachbarort gerissen, das zweite vier Wochen später bei einem Züchter 15 Kilometer vom Dorf entfernt.
Ich verstehe, wozu du NEIN gesagt hast, alter Kumpel. Und ich nehme es Dir nicht übel, dass du einfach so gegangen bist.
Ich habe sie gesehen, aber dich haben sie erwischt. Manchmal ist das Leben grausamer, als Dinge mit grünen Augen, die sich in der Dunkelheit verstecken...
"Wir fahren ein bisschen rum, ein bisschen hier, ein bisschen da. Wir sind immer auf der Suche nach neuen Orten...und neuen Menschen."
Diese stehen noch immer in meinem Kalender von damals. Ich habe nie wieder reingesehen, und vielleicht werde ich es auch nie wieder tun.
[Beitrag editiert von: Martin am 04.04.2002 um 03:54]