Wolkensohn (überarbeitet)
Die Wolken haben uns vor langer Zeit geboren, heißt es. Seitdem jagen wir auf unseren Schwingen durch die Lüfte, hoch in den Himmel hinauf, dorthin, wo die Sterne zum Greifen nahe und doch unendlich weit entfernt sind.
Hier oben war es, wo sich mein Schicksal entschied.
Die Dämmerung setzt ein. Meine Flügel beginnen schwer zu werden und zittern leicht, als ob ein Gewicht sie herunterziehen würden. Jedes Mal, wenn ich versuche, mit der Luftströmung zu gleiten, drifte ich ab und muss mehr Kraft aufwenden, um dem Adler nachkommen zu können. Wenigstens kühlt sich meine gerötete Haut wieder ab, wie die sengende Sonne hinter dem Meer verschwindet. Eine solch lange Strecke bin ich in meinem Leben noch nie am Stück geflogen. Aber ich werde nicht aufgeben. Nicht jetzt, nach einer Verfolgungsjagd über den halben Ozean.
Ob der Schneeadler auch müde ist? Er scheint langsamer zu werden, oder narrt er mich nur? Schon mehrere Male hat er mich nahe an ihn heran gelassen, nur um kurz darauf wegzujagen. Meine Unterlegenheit wird mir schmerzlich bewusst. Er treibt ein Spielchen mit mir, was mich wütend macht. Adler sind intelligente Wesen, ich kann es in ihren Augen sehen. Und in ihrer Anwesenheit spüre ich noch etwas anderes, ungreifbares. Magie? Die Wolkenmutter muss ihre Adler sehr lieben, dass sie nicht einmal uns Wolkensöhnen diese Kräfte geschenkt hat.
Dieses Mal wendet er und stellt sich mir. Nur die Sterne und die schmale Mondsichel sind Zeugen unseres Aufeinandertreffens. Die Luft ist kristallklar und kalt. Atemwölkchen entweichen mir. Ich habe Durst. Tief unter uns glitzert schwach das Meer, und in nicht allzu weiter Entfernung kann man den dunklen Küstenstreifen eines mir unbekannten Landes erkennen. Wir beginnen uns zu umkreisen, vorsichtig, tasten einander mit den Blicken ab. Ich löse das Seil von meinem Gürtel und knote eine Schlinge, ein Auge stets auf den Adler gerichtet. Mein Herz pocht wie wild vor Anstrengung und Aufregung. Ich versuche zu vergessen, dass ich einen ganzen Tag geflogen bin, und sammle all meine verbliebenen Kräfte bis zur letzten Faser meines ausgelaugten Körpers.
Der Schneeadler kreischt drohend auf. Ich zögere und weiche einige Flügelschläge zurück. Was soll ich machen? Der größte Vogel, den ich jemals gefangen habe, war ein junger Schwan, aber hier bäumt sich ein riesiger Raubvogel vor mir auf. Einen Angriff vortäuschen? Ich muss herausfinden, auf welche Weise und wie schnell er reagiert, seine Kräfte abschätzen. Nicht in die Reichweite der Klauen ... pass auf ... Mut, hab Mut, spreche ich mir zu. Luft holen. Ich stürze an ihm vorbei, um ihn von hinten zu erwischen. Umsonst. Er hat meine Absicht vorzeitig erraten und dreht sich flink wie ein Falke. Diese Geschwindigkeit schüchtert mich ein, die Wendigkeit verunsichert mich, aber immer noch haben Stolz und Ehrgeiz Oberhand.
Verzweifelt rufe ich mir in Erinnerung, was mir die alten Jäger beigebracht haben. Schau dem Adler in die Augen, in den Augen kannst du erkennen, was sie denken. Du hast zwei Gliedmassen mehr. Benutze sie! Und nutze dein Wissen! Welches Wissen? Ich Augenblick weiß gar nichts. Da ist nur noch eine gähnende Leere in meinen Gedanken, die hilflos in einem Wirbel gefangen sind. Handeln ist das einzige, was ich tun kann.
Erneut will ich einen Angriff starten, als der Schneeadler urplötzlich hervorschnellt und mit seinem blauen Schnabel nach mir schnappt. Haarscharf sausen sie an meinem Kopf vorbei. Erschrocken weiche ich zurück, ringe ums Gleichgewicht. Beinahe hätte ich meine Schlinge verloren.
Konzentrier dich, verdammt! Was hat er als nächstes vor? Ich suche seinen Blick und fixiere die Augen so gut es geht. Mit einem weiteren Frontalangriff rast er auf mich zu. Diesmal bin ich besser vorbereitet. Ich lasse mich ein Stück fallen, senkrecht hinab wie ein Stein. Es ist an ihm, überrascht zu sein. Den Rücken gegen unten gerichtet werfe ich die Schlinge nach ihm. Er muss direkt hinein fliegen. Aber im letzten Augenblick schlägt er kräftig mit den Flügeln und segelt rechts über mir vorbei. Verfehlt! Wofür hast du geübt? Nicht klein beigeben. Noch ein Versuch, noch eine Chance.
Wäre mein Vater jetzt stolz auf mich? Ich halte den Adler in Schach. Oder werde wenigstens nicht von ihm verletzt. Schweiß rinnt an meinem Körper herab. Ich merke, wie meine Konzentration nachlässt. Die Müdigkeit senkt sich wie ein Stück Blei auf mich. Dennoch versuche ich mein Bestes, greife an und weiche aus. Für einen Zuschauer muss der Kampf zwischen dem Schneeadler und mir eher aussehen wie ein Tanz oder ein bestimmtes Ritual. In gewisser Weise ist es das auch. Ich muss seine Anerkennung erringen, um im Kreis der Jäger aufgenommen zu werden. Was wird Firlyn denken?
Jäh streifen die weißen Schwingen meine Schulter, und ich schüttle sofort all die Gedanken ab. Meine Aufmerksamkeit darf nur dem Kampf gelten, das Einzige, was jetzt zählt. Aber der Adler hat den Moment meiner Unachtsamkeit genützt. Ich kann nicht mehr schnell genug zur Seite springen. Seine Klauen erwischen mich im Gesicht. Ich schreie vor Schmerz und schäme mich zugleich dafür. Warmes Blut behindert meine Sicht. Voller Zorn stürze ich auf den Adler, ohne auf all die Regeln zu achten, die ich gelernt habe, auch wenn ich damit weitere Blößen zeige. Ich will nicht, ich kann nicht verlieren! Was soll ich denn noch machen, um seine Anerkennung zu gewinnen? Mit bloßen Händen schlage ich wild um mich, fasse nach seinen Flügeln. Ein weiteres Mal greifen sich messerscharfe Krallen tief in meine Haut. Auch der Adler ist entfesselt, wie ein Sommergewitter, das sich über Narkhad entlädt. Von der kühlen, berechnenden Art ist nichts mehr zu sehen. Seine Kampfeslust ist entfacht. Mir ist schwindlig, weiß nicht mehr wo oben und unten ist. Ich sehe nur die schneeweißen Flügel, die heftig flattern, dazwischen ein Stück Himmel. Meine Finger krallen sich fest und packen eine Feder. Sie ist ganz weich, so anders als die Kampfeshärte des Raubvogels ... Ein Moment lang wird mir schwarz vor Augen. Ich spüre nur noch einen stechenden Schmerz in meinem rechten Flügel. Ich falle. Falle und Falle. Das Meer rast auf mich zu.
Es schaukelt, als ich meine Augen aufschlage. Nur mit Mühe kann ich den Brechreiz unterdrücken, der sich in diesem Moment aufdrängt. Verschwommen nehme ich schmale Lichtstreifen wahr, die durch eine Luke in den dunklen Raum fallen, in dem ich mich befinde. Kein frischer Wind bläst mir ins Gesicht. Mir wird klar, dass ich nicht auf den fliegenden Felsen von Narkhad bin. Keine zugige Luft begrüßt mich, stattdessen erwartet mich ein fauliger, abgestandener Gestank von Salzwasser, Tang und Fischen.
Panisch flattere ich mit meinen Flügel und tobe wie ein Wahnsinniger, kann diese beklemmende Enge nicht ertragen. Ich glaube ersticken zu müssen. Blindwütig werfe ich mich gegen die feuchten, kalten Gitterstäbe, die mich umgeben. Dabei schlage ich mich blutig, doch sie bewegen sich nicht, ich kann so fest an ihnen rütteln wie ich will.
Ein heftiger Ruck wirft mich wieder zu Boden. Alles dreht sich. Ich habe keine Kraft mehr, mich gegen mein Gefängnis zu wehren und bleibe liegen.
Erschöpft betrachte ich meine Umgebung genauer und erkenne Umrisse von verschiedenen Gegenständen, die sich hier stauen, hauptsächlich Kisten und Behälter unterschiedlichen Zwecks. Jetzt höre ich über mir dumpfe Schritte und schwache Rufe in einer fremden, rauen Sprache. Die hölzernen Planken unter mir knarren und ächzen, dazu mischt sich das Plätschern von Wellen.
Mir dämmert, wo ich mich befinde. Von oben habe ich sie schon oft beobachtet und bin sogar einmal nachts mit einigen anderen jungen und verwegenen Wolkensöhnen nahe heran geflogen. Schiffe, das Mittel, welche die Dhinnai benutzen, um das Wasser zu überqueren.
Erst jetzt bemerke ich, dass meine linke Faust immer noch krampfhaft etwas fest umschlungen hält. Es ist eine leuchtend weiße Feder, diejenige des Schneeadlers.
Am nächsten Tag werde ich an Land gebracht. An Land, wie merkwürdig sich das anfühlt. Im Vergleich zu Narkhad ist alles unerschütterlich fest und unbeweglich. Wie unheimlich, nichts rührt sich. Der Boden, der nicht mehr aufhört, bleibt, wo er ist. Ich verstehe nicht, wie die Dhinnai hier leben können, an die Erde und auf festem Grund gefesselt. Fühlen sie sich nicht gefangen hier unten, so wie ich mich in diesem Käfig?
Von einem ruckelnden Karren aus beobachte ich, wie sich Häuser nähern, sich anhäufen und immer größer werden, bis wir uns mitten in diesem Wirrwarr aus Stein und Ziegeln befinden. Bodenmenschen starren mich neugierig an, alte wie junge gleich erstaunt. Glauben sie, ich sei ein Engel, ein überirdisches Wesen, das nun von Sterblichen bezwungen wurde? Aber Wolkenkinder sind keine Engel und genauso sterblich wie die Dhinnai. Im Gegensatz zu den Seraphim haben wir nur ein Flügelpaar an Stelle von zwei oder gar drei. Wenn sie mich dennoch für einen Engel halten, haben sie selbst vor den Gesandten ihres Gottes keinen Respekt.
Vor einem großen Gebäude hält der Wagen an. Grobe Hände zerren mich gewaltsam heraus, ich leiste ihnen nicht einmal mehr Widerstand. Sie stecken mich in eine dunkle Zelle. Nacktes, totes Gestein starrt mir entgegen, noch schlimmer als die Gitter. Die Enge raubt mir fast den Verstand, ich stemme mich verzweifelt gegen die Mauern, schlage dagegen, aber es hat keinen Zweck. Meine Hände tasten fieberhaft über den kalten Stein, suchen eine Ritze einen Spalt. Nichts.
Ich atme schwer und lehne mich gegen die Wand. Meine Gedanken schweifen fort, zum Himmel über Narkhad. Zu Firlyn. Denkt sie an mich? Ich will nicht, dass sie es tut und meinetwegen leidet, ich will bei ihr sein und sie trösten, sie in meinen Armen halten. Was habe ich ihr angetan mit meiner Waghalsigkeit? Müdigkeit senkt sich über mich. Firlyn, murmle ich immer wieder, bevor ich in einen fiebrigen Halbschlaf falle.
„Silfar, ist dir klar, was du tust?“
„Ja ...Verstehst du denn nicht?“ Ich muss Firlyn beweisen, dass ich es wert bin, von ihr geliebt zu werden. „Stell dir vor, wenn ich das Vertrauen dieses Adlers genieße ... Die anderen Wolkentöchter werden vor Neid erblassen, sobald sie sehen, was für einen Adler dein Verlobter bezwungen hat!“
„Bezwingen? Wie redest du nur von diesen Stolzen Wesen? Silfar, Adler können nicht bezwungen werden, du kannst nur ihre Anerkennung gewinnen!“
„Das meine ich auch. Wenn ich erst einmal ...“
„Es ist gefährlich! Und was willst du wem beweisen? Den anderen, was für ein großartiger Jäger aus dir du werden wird? Du willst doch nur im Kreis der Jäger aufgenommen zu werden!“
„Nein, ich tue es für dich!“
Sie merkt, dass ich nicht die ganze Wahrheit sage und lacht schelmisch. Was mache ich falsch?
„Vor allem für dich“, versichere ich ihr.
Firlyn verdreht die Augen. „Gib endlich zu, dass du deinen Stolz nicht verbergen kannst.“
Ich laufe rot an.
„Sieh doch nur, wie riesig seine Schwingen sind!“, lenke ich ab und deute auf den Schneeadler hinab, der gerade sein Gefieder putzt. Von unserem Versteck schauen wir auf die nahen Horste hinunter, die an den Klippen des höchsten Gipfels verteilt sind. Ich sehe in Firlyns Augen dasselbe Leuchten, das in meinen zu erkennen sein muss. Sie teilt dieselbe Leidenschaft für die anmutigen Vögel, die hier oben um die Felsen segeln. Fast alle Wolkenkinder haben eine Schwäche für Adler, und so bewundern wir schweigend den Vogel, der etwas abseits von den Horsten sitzt und sein Gefieder putzt. Es ist ein besonders großes Exemplar seiner Rasse wie man sie nur selten zu Gesicht bekommt.
Plötzlich erhebt er sich und steigt in den Himmel auf. Und da entdeckt er uns. Sein Blick trifft meinen. Ein Schaudern läuft durch meine Flügel, als ich in seine gletscherblauen Augen sehe.
Herausfordernd kreist der Adler einige Male über unsere Köpfe hinweg und entfernt sich schließlich langsam. Ich springe auf.
„Ich muss ihm nach! Das ist meine Gelegenheit!“
Das Leuchten aus Firlyns Augen verschwindet auf einen Schlag, ihr Ausdruck ist ernst und traurig geworden. „Silfar, bitte nicht! Tu es nicht! Bleib hier! Es gibt andere Schneeadler, nicht so große, aber mit Bestimmtheit genauso treue Gefährten, wenn du erst einmal ihr Herz gewonnen hast! Mein Herz hast du auch gewonnen, und das nicht mit deiner Kühnheit, sondern mit deiner Art.“
„Ich kann nicht anders, Firlyn. Das ist der Moment, auf den jeder Wolkensohn wartet. Versteh es doch endlich! Die anderen ...“
„Was scheren mich die anderen! Sollen sie doch auf den Boden fallen!“ Sie bricht in Tränen aus, was mich zutiefst verwirrt. Wolkenkinder weinen nicht, nicht meine tapfere Firlyn. Ich versuch sie zu trösten, aber sie weicht mir aus, entzieht sich meinen Armen.
„Du bist genauso ein Narr wie mein Bruder!“, schreit sie mich an. „Er ist einem Schneeadler gefolgt, der beinahe ebenso groß wie dieser war und ... verdammt noch mal, Silfar! Er ist nie zurückgekommen! Ich will dich nicht verlieren!“
Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Wie kann ich ihr es nur erklären?
„Ein ehrenvoller Tod, hat es geheißen. Was hat meine Mutter davon? Was habe ich davon!“ Mit diesen Worten wendet sie sich ab und fliegt ohne sich umzudrehen davon.
Unschlüssig stehe ich da, blicke ihr nach und dann in die Richtung, in die der Adler geflogen ist. Dieser hat seinen Flug verlangsamt, als ob er auf mich wartete. Ich zögere kurz.
„Verzeih mir, Firlyn“, murmle ich. Die Tränen, die mir aufsteigen wollen, unterdrücke ich, kontrolliere das Seil, hole Atem und springe los, der kleiner werdenden Silhouette des Adlers nach.
Es fühlt sich an wie mein erster Flug. Ich bin wieder ein kleiner Wolkensohn. Abspringen, Flügel spreizen, Flattern. Aber meine Flügel sind zu schwach. Ich kann nicht in der Luft gleiten, die Schwerelosigkeit ist verflogen.
„Er ist nie zurückgekommen!“, echot Firlyns Stimme durch meinen Kopf.
Ich werde nach unten gezogen, meine Flügel gehorchen mir nicht mehr, ich kann sie nicht bewegen.
„Er ist nie zurückgekommen! Er ist nie zurückgekommen! Was hat seine Mutter davon?“, hallen Stimmen von überall her. „Ein ehrenvoller Tod! Ehrenvoller Tod!“
Keuchend reiße ich die Augen auf. Bin ich tot? Einen Augenblick lang bin ich mir nicht sicher, aber dann holen mich die Schmerzen holen mich zurück in Realität. Ich bin noch im Diesseits, doch das erleichtert mich keineswegs.
Sie führen mich hinaus auf einen großen runden Sandplatz, wo Krieger der Dhinnai gegeneinander kämpfen. Die grelle Sonne blendet mich zuerst, ich kann nur ihre Waffen, mit denen sie aufeinander einschlagen, klirren hören. Keuchen und Stöhnen, Schmerzensschreie. Als sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt haben, sehe ich die Funken von aufeinander prallenden Schwertern. Staubtrockener Sand wirbelt auf, der Geruch von Schweiß und Blut hängt in der Luft. Das Metall ihrer Rüstungen und Waffen leuchtet im Sonnenlicht, doch dunkle Flecken von Blut trüben den Glanz. Verwundete krümmen und wälzen sich auf dem Sand. Ich verstehe nicht, wieso sie so etwas tun, Angehörige desselben Volkes! Ihre Schreie hallen durch die leeren Ränge der Arena und dringen in meinen Kopf ein, als wollten sie sich für ewig dort einnisten. Es tut mir weh, dem grausigen Geschehen zusehen zu müssen. Andere Dhinnai lachen rau. Wie kann ihnen Blut und Leiden nur eine solch seltsame Freude bereiten? Sie rufen sich Worte voller Hass zu und schreien sich an. Ihre Sprache gleicht entfernt unserer, manche Worte kommen mir vertraut vor, aber sie klingt schwerfälliger, sowie es ihr Körperbau ist.
Meine Wächter weisen grinsend auf die Kämpfer in der heißen Sonne. Einer packt mich an meinen Haaren, zieht mich zum Gittertor hin und presst mein Gesicht dagegen. Er macht fuchtelnde Gesten. Ich glaube zu wissen, was es bedeutet. Auch ich soll die Dhinnai unterhalten, indem ich gegen Ihresgleichen antrete. Sie geben mir die Gelegenheit, meine Gegner zu beobachten, damit ich sehe, was mir bevorsteht. Die Dhinnaikrieger sind allesamt stämmig und träge, aber von ungeheuerlicher Kraft. Verglichen mit ihnen bin ich schmächtig, obwohl ich einer der kräftigeren Wolkensöhne bin. Sie kämpfen mit Waffen, die mir nicht vertraut sind, Schwerter, Lanzen und manchmal Dreizacke.
Noch am gleichen Tag werde ich in einen Raum mit Furcht einflößenden Gerätschaften gebracht. Ich werde unsanft gepackt und pralle mit meinem Gesicht hart gegen die schartige Holzbank. Sie halten alle meine Glieder fest und drücken mich gegen das raue Holz, das meine Haut aufschürft. Einer von ihnen kommt mit einer schweren Axt auf mich zu und grinst mich an. Was haben sie mit mir vor? Wollen sie mich töten? Tapfer blicke ich mit offenen Augen dem Mann mit der Axt ins Gesicht. Wenn ich sterben sollte, dann als aufrechter Wolkensohn. Keiner wird meinen Stolz brechen, nicht die Dhinnai und nicht der Tod. Doch als der bullige Kerl vor mir zuerst meinen rechten Flügel auf die Platte presst, errate ich mit Bestürzung seine Absicht. Nein! Ich versuche zu flattern, will mich aufbäumen, aber sie sind zu stark. Hilflos sehe ich zu, wie sich das Metall sich nähert. Der Mann hebt die Axt mit einer schwerfälligen, beinahe zähen Bewegung. Das Rauschen des Blutes in meinen Ohren vermischt sich mit dem Herzklopfen und dröhnt in meinem Kopf. Das scharfe Eisen saust nieder und schlägt mit einem dumpfen Geräusch auf. Ich schreie. Schrill und verzweifelt. Eine kleine, helle Feder wirbelt auf und verweilt einen Moment in der Luft. Ein roter Fleck klebt an ihr. Mit geweiteten Augen schaue ich ihr nach, wie sie sinkt und aus meinem Blickfeld verschwindet. Es ist, als ob mit den Flugfedern ein Stück meiner Seele abgeschlagen wird. Die körperlichen Schmerzen kann ich unterdrücken, aber nicht diejenigen, welche mir die Wunde bereitet, die in mein Herz gerissen wurde.
Taumelnd falle ich hin, als sie mich in die Zelle zurückwerfen. Wie betäubt bleibe ich liegen und starre auf den Boden. Die Steinplatten vor meinen Augen verschwimmen zu undeutlichen, verwischten Mustern, während Tränen hemmungslos über meine Wangen rinnen. Es dauert lange, bis ich es wage, die Stellen abzutasten, an der nun die schönen Federn fehlen.
Was kann ich schon mit gestutzten Flügeln anrichten? Was ist ein Wolkensohn wert, der nicht fliegen kann? Ich schluchze und hasse mich dafür. Mich, der nicht einmal weinte, als Firlyn davonflog. Ist mein Stolz wichtiger als meine Liebe? Durch meinen Leichtsinn habe ich nicht nur meine Flügelspitzen, sondern auch Firlyn verloren. Nun habe ich nichts mehr zu verlieren, höchstens mein Leben noch, aber was zählt das?
Ich werde mich rächen. Am anderen Ende der Arena befindet sich die Loge des Kaisers. Er ist der Häuptling der Dhinnai und derjenige, den ich töten werde. Mit meinen verstümmelten Flügeln kann ich zwar nicht mehr fliegen, aber dennoch ziemlich hoch springen, hoch genug um die Loge zu erreichen. Ich habe die Speere der Dhinnai beobachtet, sie sind schwerer als unsere Harpunen, aber nicht so schwer, dass ich sie nicht werfen könnte. Es genügt, wenn ich einen einzigen einmal mit aller Kraft schleudere. Was danach geschieht, ist mir gleich. Jeder Pfeil, den die Bogenschützen auf mich abfeuern werden, wird zu spät meinen Körper durchbohren, denn ihr Kaiser wird dann bereits tot sein. Ob Firlyn für mich weinen wird, weiß ich nicht, sie soll es nicht tun, denn sie hätte einen besseren als mich verdient, einen weiseren Wolkensohn, der sie niemals allein auf den schwebenden Felsen von Narkhad gelassen hätte.
Es ist soweit. Ich kann ihre Stimmen und Schritte hören. Sie schließen das Gitter auf und holen mich heraus. Ich leiste keinen Widerstand, als sie mich hinaufführen. Sie lassen mich eine Waffe auswählen. Ich nehme den Speer und trete auf den Sand hinaus. Gleißendes Licht erwartet mich, tausend Augenpaare richten sich auf mich. Mein Blick gilt der Loge, der ich mich nun langsam nähere. Die drei anderen Kämpfer, die unschlüssig meinen Angriff abwarten, beachte ich nicht. Ein letztes Mal schaue ich in den Himmel hinauf, sehe aber nur helles blau, keine Wolken, höchstens ein bisschen Dunst, einen feinen Schleier. Gerade will ich mich wieder auf die Loge konzentrieren, als ich oben einen schwarzen Punkt erblicke, der zuerst hoch über unseren Köpfen kreist und sich plötzlich rasend schnell dem Boden nähert. Der Punkt nimmt Gestalt an, sodass ich erkennen kann, um was es sich handelt. Ich sehe, dass er nicht schwarz, sondern weiß ist. Unwillkürlich ziehe ich die Adlerfeder hervor, sie glüht und ist doch nicht heiß, ein seltsamer Schimmer geht von ihr aus. Wie ist das möglich? Aber es ist keine Einbildung. Ich beginne zu begreifen, was Treue für einen Adler bedeutet. Mein Herz schlägt höher, denn mit einem Male tauchen weitere dunkle Punkte am Himmel auf und stürzen sich auf uns herab, Todesengeln gleich. Ich muss grinsen. Jetzt zeigen wir den Dhinnai, was es heißt, mit einem Wolkensohn zu kämpfen.