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- 30.06.2004
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Wollien
Für gnoebel
„Käpt’n, wir haben einen bewohnbaren Planeten gesichtet!“ Leutnant Fluse kam aufgeregt in die Kommandozentrale der „Shorn 1“ gestürmt, wo Kapitän Krummhorn gerade gemütlich beim Wiederkäuen war. Erschrocken fuhr er hoch, verschluckte sich jäh an einem Büschel Gras und begann, vernehmlich zu husten. Peinlich berührt blieb Fluse stehen, blickte zu Boden und scharrte verlegen mit den Hufen.
„Fluse, wie oft habe ich ihnen gesagt, Sie sollen hier nicht so unvermittelt herein platzen?“
„Verzeihung, Sir, aber der Planet ...“
„Na gut, dann erzählen Sie mal von Ihrem Planeten!“
„Sir, er ist einfach ideal. Grüne Wiesen, so weit man blicken kann. Schlappohr hat es Ihnen auf den Schirm gelegt, sehen Sie!“ Fluse nickte zu dem ausrangierten 17 – Zoll – Monitor hinüber, der ihnen als Sichtschirm diente. In grober Pixelgrafik ruckelten sanft gewellte Hügel vor Krummhorns Nase vorbei. Seine Laune hob sich sofort.
„Ja, sieht sehr gut aus. Irgendwelche Anzeichen von Lebensformen?“
„Nein Sir, Schwarznase hat ihren Scanner drüber laufen lassen. Keine Hunde, keine Schäfer. Alles wie leergefegt.“
Krummhorn nickte, dann sah er Fluse scharf in die Augen. „Und ... gibt es irgendwo ...“
Fluse strahlte über das ganze Gesicht. „Nein Sir, kein Zaun weit und breit. Kein erzwungenes nächtliches Hürdenlaufen mehr.“
Krummhorn konnte sich eines zufriedenen Lächelns nicht erwehren. Dann weckte etwas auf dem Monitor seine Aufmerksamkeit. „Fluse, was ist das? Dieses eiförmige Dings da?“
Fluse trat so nahe an den Schirm, dass seine Nase unversehens dagegen stieß und eine feuchte Spur hinterließ. Verlegen versuchte er, seinen Fehler wieder gut zu machen und fuhr mit der Zunge über die Mattscheibe. Das gab dem altersschwachen Monitor nun endgültig den Rest und mit einem Flackern und einem Knall verließ ihn der letzte Lebensfunke. Krummhorn verdrehte entnervt die Augen.
„Entschuldigung, Sir“, Fluses Gesicht war rußgeschwärzt und sein verzeihungsheischender Augenaufschlag hätte Bambi alle Ehre gemacht.
„Schon gut, wir brauchen ihn ja sowieso nicht mehr. Werden schon rausfinden, was das für Dinger sind. Können ja nicht allzu gefährlich sein. Schließlich schlüpfen weder Schäfer noch Hunde aus Eiern. Lassen Sie Befehl zur Landung geben, Fluse!“
Während der Leutnant aus der Zentrale eilte, wandte sich Krummhorn dem schiffsinternen Logbuch zu.
3. Jahr nach der großen Rebellion. Endlich! Nach langer Irrfahrt haben wir eine neue Heimat gefunden. Ich taufe sie auf den Namen Neu-Irland.
***
Ungefähr 472 Jahre später.
***
„Zielplanet erreicht, schwenken ein auf eine stabile Umlaufbahn“ Die mechanische Stimme dröhnte in den Ohren der Anwesenden. Die automatische Sprachausgabe war mal wieder viel zu laut eingestellt. „Reikson, drehen Sie das Ding leiser, und Higgins, zu mir!“ Kapitän Douglas war es gewohnt, zu schreien und die Crew war es gewohnt, angeschrieen zu werden. Jamie Higgins, die gleichzeitig Bordärztin und Funkerin war, eilte zu ihrem Kapitän. Douglas stand reglos in der großen Glaskuppel, die den Blick auf einen weiten weißglänzenden Planeten freigab.
„Sind Sie sicher, dass Sie das Notsignal von hier empfangen haben, Higgins?“, blaffte Douglas ungehalten. „Dieser Planet ist doch eine verdammte Eiskugel. Was soll denn hier um Himmels willen leben?“
Jamie starrte auf die endlosen glitzernden Flächen hinab. „Das Signal stammt von hier, Käpt’n, da bin ich sicher. Ich hab’ Jonas schon angewiesen, einen Wärmescan zu machen. Wenn da unten etwas lebt, finden wir es!“
„Na hoffentlich. Machen Sie schon mal das Landungsschiff klar. Sie, ich, Jonas, Reikson und Marley gehen runter. Lander und Watersen bleiben hier und halten Funkkontakt. Und sagen Sie Jonas, er soll seinen verdammten Scan mitbringen.
Das Landungsschiff setzte mit einem vernehmlichen Ruck auf der vereisten Oberfläche des Planeten auf. Jamie kämpfte verzweifelt gegen die aufsteigende Übelkeit an. Sie hasste Landungen. Eigentlich hasste sie es sogar, durchs All zu fliegen. Genau genommen wurde ihr schon beim Anblick eines Raumschiffes auf weite Entfernung übel. Ihren Dienst auf der „Esmeralda“ verdankte sie einzig und alleine der Tatsache, dass Onkel Albert ihren Eltern eingeredet hatte, Weltraumärztin sei ein einträglicherer Beruf, als Schäferin. Dass sie dabei ausgerechnet auf der „Esmeralda“ gelandet war, einem eher drittklassigen Raumtransporter, heiterte sie nicht im Geringsten auf.
„Los jetzt, alle raus aus dem Schiff!“ Douglas riss sie aus ihren Gedanken. Seufzend zurrte Jamie die Gurte ihres Raumanzuges fest und kletterte hinter dem ewig plappernden Jonas aus dem Landungsschiff. Draußen erwarteten sie endlose weißschimmernde Schneefelder. Kein bisschen Grün, weit und breit. Traurig dachte sie an die Wiesen auf ihrem elterlichen Bauernhof zurück.
„Und hier, Sir, sehen Sie die Wärmesignatur. Sie zeigt eindeutig, dass sich unter dem Eis, also hier, in der Nähe dieser Metallkonstruktion, ein kuppelförmiges Gebilde befindet, das Wärme absondert. Also ein sehr großes Gebäude, vielleicht ein Tempel einer frühen außerirdischen Rasse, oder ...“ Jonas war wie immer nicht aus seinem Redefluss zu reißen. Enthusiastisch wedelte er dem Kapitän mit dem Computerausdruck seines Scans vor den Augen herum. Reikson schraubte völlig vertieft an seinem Bewegungsmelder und Leutnant Marley war wieder mal dabei, vor dem Kapitän eine möglichst gute Figur zu machen. Jamie fragte sich manchmal, wie es einem Menschen nur möglich war, einen klobigen Raumanzug figurbetont zu tragen. Ganz zu schweigen davon, dass ihr eigenes Haar nie so fluffig und leicht wirkte, wie direkt aus der Shampoowerbung entsprungen. Vor allem nicht unter dem verdammten Helm.
„Genug jetzt, Jonas! Higgins, könnten diese Metallteile vielleicht das Raumschiff sein, das den Funkspruch abgesetzt hat?“
Jamie starrte auf den Ausdruck. Sie konnte rein gar nichts erkennen. Was für Jonas augenscheinlich eine Art Offenbarung darstellte, erschien in ihren Augen als wirres Muster aus schwarzen und weißen Flecken und Linien. Trotzdem nickte sie überzeugt. Kapitän Douglas war niemand, dem man so etwas bedenkenlos erzählen konnte. „Ja, Käpt’n, kann gut sein“
„Dann nichts wie los. Wir haben schließlich noch anderes vor!“ In strenger Marschordnung setzte sich die kleine Gruppe in Bewegung.
„Das soll ein Raumschiff sein?“ Käpt’n Douglas starrte enttäuscht auf die verrosteten Überreste von etwas, das Jamie wie die wilde Kreuzung zwischen einem Traktor, einem Mähdrescher und diversen Teilen einer Melkmaschine vorkam. Hier und da konnte sie auch Reste eines Elektrozaunes ausmachen. Das Ganze war einmal knallgrün angestrichen gewesen und irgendjemand hatte eines dieser „Wir müssen draußen warten“ – Schilder an die Flanke gelötet.
Als ihr klar wurde, dass Douglas eine Antwort erwartete, zuckte sie mit den Schultern. „Keine Ahnung, was das ist, Käpt’n. Aber Sie haben sicher recht, wie ein Raumschiff sieht es nicht aus.“ Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass Marley dazu übergegangen war, ihre Lippen nachzuziehen und Jonas mit einem irren Ausdruck von Glücksseligkeit in den Augen das grüne Monstrum vor ihnen musterte. Douglas nahm eine gefährlich dunkelrote Farbe an.
„Wir können ja Jonas’ Wärmesignatur untersuchen“, schlug sie hastig vor, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. „Vielleicht gab es ja Überlebende, die sich dorthin retten konnten ...“ Auch wenn das extrem unwahrscheinlich ist, bei diesem Wrack. Wer weiß, wie lange das schon hier liegt. Den Gedanken behielt sie lieber für sich.
In Douglas’ Kopf schien es zu arbeiten. Dann nickte er schließlich. „In Ordnung, gehen wir! Jonas, Sie zeigen uns den Weg, und Reikson, stellen Sie endlich das verdammte Ding ab!“
Reikson sah etwas beleidigt von seinem Bewegungsmelder auf, der sich die letzte halbe Stunde damit vergnügt hatte, bei jeder stiebenden Schneeflocke ein deutliches Knacken von sich zu geben. „Ich hab’s doch gleich“, brummte er, etwa zum tausendsten Mal auf ihrer Wanderung. „Nur der Knopf hier noch“. Mit einer beinahe schon zärtlich zu nennenden Bewegung legte er einen weiteren Schalter um. Eine unheilvolle rote Lampe begann hektisch zu blinken und das geigerzählerartige Knattern verwandelte sich in einen durchdringenden hohen Pfeifton. Hastig schaltete Reikson das Gerät ab. „Ich glaube, jetzt geht’s“.
Nur wenige Schritte von dem Wrack entfernt stießen sie auf einen Tunnel. Mitten im Eis tat sich eine mannshohe Öffnung auf, die sich schnell zu einem schräg nach unten verlaufenden Gang erweiterte. Auf dem Boden lagen Heureste herum.
„Ein exakt runder Querschnitt, Sir, das weist auf eine hochentwickelte außerirdische Rasse hin, die hier wahrscheinlich schon vor Jahren ... “
Niemand hörte auf Jonas. Reikson murmelte etwas von „keinerlei Bewegungen“ in seinen Kragen hinein, Marley versuchte, gleichzeitig gelangweilt und umwerfend auszusehen, was ihr ganz vorzüglich gelang, und Douglas lauschte aufmerksam in den Gang hinunter.
„Higgins, hören Sie das auch?“
Jamie beeilte sich, an seine Seite zu kommen. Selbst, wenn da nichts zu hören war, würde sie etwas hören, ganz sicher.
„Ich bin mir sicher, da war ein Geräusch. So ein merkwürdiges ... “
Dann hörten sie es alle. Ein vernehmliches Blöken hallte den eisigen Tunnel herauf.
„Schafe?“ Marley meldete sich zum ersten Mal zu Wort.
„Unsinn“ Douglas’ Stimme klang unsicher. „Das können keine Schafe sein“
„Offensichtlich haben wir es hier mit einer außerirdischen Spezies zu tun, die sich auf ähnliche Art und Weise verständigt, wie die irdischen Hausschafe. Dies mag uns zwar sehr ungewohnt erscheinen, aber ich verweise hier auf die Psycho-Muscheln von ... “
„Halt die Klappe, Jonas. Los Leute, sehen wir uns die Schafe mal an!“
Mildes Sonnenlicht drang durch die Eisschicht und wärmte die saftigen Wiesen, die sich über den Hügel erstreckten. Von irgendwoher erklang das Plätschern eines Baches. Einige Büsche und Bäume ergänzten die Idylle. Von Schafen war weit und breit nichts zu sehen.
„Unglaublich. Und das unter dem ganzen Eis.“ Douglas hatte seine Sprache wiedergefunden. Er war der erste, der wieder etwas sagte, nachdem sie aus dem Tunnel heraus auf das Gras getreten waren.
„Ein physikalisches Wunder, meiner Meinung nach werden die Strahlen der hiesigen Sonne quasi wie durch eine Lupe gebündelt und auf diesen Fleck hier konzentriert. Nur so lässt sich erklären ... “
Jamie hörte nicht mehr weiter zu. Wie von selber setzten sich ihre Beine in Bewegung und sie steuerte auf die nächste Baumgruppe zu.
„Higgins! Wohin gehen Sie, verdammt?“
Sie wandte sich um. Eigentlich hatte sie nur einen kleinen Spaziergang machen wollen. Das alles hier erinnerte sie so angenehm an den Hof zu Hause. „Ich ... ich wollte mal sehen, ob ich irgendein Zeichen von Überlebenden finde“
„Aber nicht allein, verflucht. Dass es hier aussieht, wie im gottverdammten Garten Eden, heißt nicht, dass es nicht gefährlich ist. Marley! Sie gehen mit Higgins! Jonas und Reikson, Sie kommen mit mir. Wir treffen uns genau um 0714 hier, verstanden?“
„Geht klar, Käpt’n“. Nun gut, musste sie eben mit Marley klarkommen.
Die drei Männer stapften davon, in Richtung des Baches. Marley schloss mit einigen schnellen Schritten zu Jamie auf.
Das kleine Wäldchen war weiter entfernt, als Jamie gedacht hatte. Zudem entwickelte sich die zunächst angenehme Wärme der Sonne allmählich zu einer echten Plage. Die Raumanzüge der „Esmeralda“ waren eben nicht für eine gute Belüftung konstruiert. Jamie verspürte wiederholt das Bedürfnis, sich über die Stirn zu wischen, was aufgrund der doch recht engen Konstruktion des Helmes jedoch nicht möglich war. Wie schafft das Marley nur, erstens völlig frisch auszusehen und zweitens sich in dem Ding auch noch zu schminken? Die Antwort hätte sie vermutlich nicht zufrieden gestellt.
Entnervt hielt sie schließlich inne. „Hier wachsen Gras und Bäume, oder nicht? Also müsste doch die Atmosphäre für unsereins auch atembar sein.“ Marley zuckte nur grazil mit den Schultern.
Dann fiel Jamie ein, dass sie ja einen Experten für solche Angelegenheiten hatten. Sie stellte das Helmfunkgerät ein. „Higgins an Reikson. Higgins an Reikson“
„Reikson hier.“
„Hast du eine Atmosphärenanalyse unternommen?“
„Moment“ Ein Knacken im Mirkofon, dann einige Minuten Stille. Schließlich die Antwort: „Achtundsiebzig Prozent Stickstoff, einundzwanzig Prozent Sauerstoff, Nullkommaneundrei Prozent Argon und Nullkommanulldrei Prozent Kohlendioxid. Und einige Spurengase“
Marley seufzte. „Also nicht atembar“
Jamie musterte sie verächtlich und öffnete dann ihre Helmschrauben. War diese Frau denn nur wegen ihres Aussehens eingestellt worden?“
Frische, laue Sommerluft strömte in Jamies Lungen. Es roch so nach Land, dass sie wieder das Heimweh übermannte. Erleichtert wischte sie endlich den Schweiß von ihrer Stirn. Dann machte sie sich wieder auf den Weg zu dem Wäldchen, ohne auf Marley zu warten, die noch an ihrem Helm herumschraubte.
Irgendetwas an dem Wäldchen war seltsam. Jamie konnte es zunächst nicht genau bestimmen, aber es erschien ihre auf seltsame Weise falsch. Unnatürlich.
„Es ist so ruhig hier“ Der erste sinnvolle Satz, den Marley je in ihrer Karriere von sich gegeben hatte. Jetzt, wo sie es gesagt hatte, fiel es Jamie selber wie Schuppen von den Augen. In der Sommeridylle war kein Laut zu hören, keine summenden Käfer, kein Rascheln im Laub. Dann bemerkte sie die verletzten Bäume.
Prinzipiell bestand das Wäldchen aus einer Mischung von jungen Birken und Haselsträuchern. Doch die Stämme der Birken waren merkwürdig verformt, mit dicken Geschwulsten übersät und krank aussehend. Jamie kniete sich ins kurze Gras, um die Stellen genauer in Augenschein zu nehmen. Es schien fast so, als hätte irgendetwas die Rinde der Bäume wiederholt verätzt. Als sie noch näher heranging, entdeckte sie eine einzelne Wollfluse, die an der aufgeworfenen Rinde hängen geblieben war und im sanften Wind flatterte. Vorsichtig zupfte Jamie die Fluse ab, zog einen Probenbehälter mit Schraubdeckel aus der Tasche und verstaute sie darin. In dem Moment vernahm sie Marleys begeisterten Ausruf: „Sieh nur, Lämmchen!“ Ihre Stimme hatte jenen verzückten Klang, den die Mädchen in Jamies Klasse immer angestimmt hatten, sobald im Biologieunterricht Bilder von jungen Hasen oder Siebenschläfern gezeigt wurden.
Jamie fuhr auf, schlug sich ordentlich den Schädel an einem tief hängenden Ast ein und fluchte ungehemmt. Leider hinderte sie das daran, Marley eine Warnung über außerirdische Spezies, die eventuell wie Schafe aussahen, zukommen zu lassen. Die hatte sich nämlich bereits in Bewegung gesetzt, auf eine kleine stille Lichtung zu, auf der tatsächlich vier Wesen umher sprangen, die Lämmern zum Verwechseln ähnlich waren. Selbst Jamie musste für einen Moment lang eingestehen, dass die Wollknäuel unerträglich niedlich waren, wie sie auf ihren steifen Beinen herum hüpften und ab und zu auf ihre großen Nasen fielen.
Sie stülpte ihren Helm wieder auf und folgte Marley langsam. Die war am Waldrand stehen geblieben und in die Hocke gegangen. „Kommt doch her, meine Kleinen!“, lockte sie mit honigtriefender Stimme. „Hierher, meine Süßen, lasst euch doch mal kraulen!“
Die Lämmer hielten mit dem Hüpfen inne und starrten gebannt auf Marley.
„Ja kommt doch, ich tu euch nichts!“
Dann ging auf einmal alles sehr schnell. Die Lämmer sahen sich an. Auf irgendeine Art schienen sie zu einer Übereinkunft zu kommen, dann raste eines von ihnen, ein weiß-braun geflecktes, in einem irrsinnigen Tempo auf Marley zu, sprang an ihr hoch, kletterte geschickt bis auf ihre Schulter, schlang seine Beinchen um ihren Kopf, drückte die Schnauze in ihr Ohr und wimmerte leise, für Jamie gerade noch verständlich: „Mama!“
Damit war für Marley alles zu spät. Sie schmolz förmlich dahin. „Ach wie nieeeeeeedlich!“, seufzte sie und streichelte das wollige Köpfchen des Lammes. Vorsichtig trat Jamie näher zu ihr. Die drei restlichen Lämmchen musterten sie misstrauisch, griffen jedoch nicht an. Vielleicht lag es an ihrem Helm. Rasch packte sie Marleys Ärmel und zog sie in den Schatten der Bäume. Die schien Jamie gar nicht wahrzunehmen. Versonnen summte sie ein albernes Kinderlied und streichelte das Lamm, das sich weiterhin krampfhaft an ihren Schädel klammerte.
„Marley, ja, es ist niedlich, aber nun setz’ es weg und lass uns zurückgehen!“
Marley gab leise Schnalzlaute von sich.
„Es könnte gefährlich sein, hörst du?“
Die einzige Antwort, die sie bekam, war ein gehauchtes: „Guziguziguuuu“
Jamie wusste keinen Rat mehr. Über Funk verständigte sie den Rest der Crew.
„Es handelt sich hier auf jeden Fall nicht um das gewöhnliche Hausschaf Ovis ammon aries, sondern um eine teilaußerirdische Lebensform, die sich möglicherweise aus Hausschafen entwickelt hat. Über die Herkunft der Schafe kann ich allerdings noch keine Aussage treffen.“ Ausnahmsweise lauschte die gesamte Crew gespannt Jonas’ Ausführungen. Na ja, beinahe die gesamte. Marley saß in eine Ecke, fütterte das Lamm auf ihrer Schulter aus einer Babyflasche und gab gurrende Laute von sich. Sie waren gesammelt auf die „Esmeralda“ zurückgekehrt, nachdem klar geworden war, dass nichts auf der Welt Marley von ihrem Lamm trennen konnte. Wenn man versuchte, es ihr wegzunehmen, brach sie in ein verzweifeltes Gejammer aus, das niemand der Crew ertragen konnte. Also hatten sie es ihr gelassen.
Jonas und der Biotechniker Lander hatten Analysen der Wollflocke vorgenommen, die Jamie gefunden hatte und hatten das Lämmchen einem Bioscan unterzogen. Es ließ das teilnahmslos über sich ergehen, so lange man nicht versuchte, es von Marleys Schulter zu entfernen. Nun teilten die beiden Wissenschaftler ihre Erkenntnisse dem Rest der Mannschaft mit.
„In der Wollflocke haben wir Reste einer starken organischen Säure entdecken können. Die Säure schadet der Wolle selber nicht, scheint aber in der Lage zu sein, ziemlich alles andere zu verätzen. Sogar die Haut der Wesen scheint darunter zu leiden. Sie werden von permanentem Juckreiz geplagt und versuchen, ihn durch Schubbern an Bäumen zu unterbinden. Daher stammen vermutlich die Geschwüre, die Higgins an den Stämmen entdeckt hat.
Offensichtlich entwickelt die Wolle dieser Wesen erst in höherem Alter diesen Säuregehalt. Vermutlich ist es den Muttertieren deswegen unmöglich, die Jungtiere zu ernähren, ohne sie zu verletzen. Die Jungtiere haben daraufhin eine bemerkenswerte Fähigkeit entwickelt. Sie verhalten sich wie Parasiten an nicht arteigenen Wirten. Sie scheinen eine Art psychische Kontrolle auf ihre Opfer auszuüben, die sie dazu zwingt, sich um die Jungtiere zu kümmern, bis diese alt genug sind. Dann wird der Wirt durch den langsam ansteigenden Säuregehalt der Wolle Schritt für Schritt abgetötet.“
Schweigen folgte auf diese Ausführungen. Alle blickten auf Marley, die das Lämmchen von ihrer Schulter genommen hatte und nun in ihren Armen wiegte. Sie sang leise „Schlaf, Kindlein, schlaf“
„Verdammt noch mal!“ Douglas brüllte so plötzlich los, dass alle zusammenfuhren. „Das Vieh muss doch irgendwie zu entfernen sein. Wenn nötig, mit Gewalt.“
Jonas wiegte nachdenklich den Kopf. „Das würde ich nicht tun, Käpt’n. Diese Wesen haben ihre eigene Form von Abwehr erfunden“ Damit hob er seine linke Hand. Sie war dick bandagiert. „Sie spucken Magensäure“
Schweigen.
„Und was nun?“ Watersen, der schweigsame Android sprach den Gedanken aus, der ihnen allen im Kopf herumging.
Reikson sah auf. „Ich kann sie einfrieren, Sir. Sie und den Parasiten. Vielleicht wissen sie ja auf der Erde, was man machen kann.“
„Jemand eine bessere Idee?“ Alle schwiegen. „Dann machen Sie das, Reikson, und dann machen Sie und Watersen das Schiff klar um Abflug. Wir verschwinden hier so schnell wie möglich. Wenn wir erst die Erde verständigt haben, werden die hier schon Schluss machen, mit diesen Parasiten!“
Nachdenklich blickte Jamie Reikson nach, der Marley zur Kühlkammer eskortierte. Dann wandte sie sich ab. Sie hatte noch etwas zu tun.
Eine mechanische Stimme: „Eindringling in Sektor vier!“
„Wir können sie nicht zurückhalten“
„Verdammt, Reikson, nimm den Flammenwerfer aus meiner Nase“
„Verzeihung, Käpt’n“
„Wo sind sie jetzt?“
„Sie dringen in Sektor drei vor“
„Die Notschleusen?“
„Blockiert. Sie haben sich an dem Öffnungsmechanismus geschubbert“
„Verdammt!“
Die Stimme fuhr ungerührt fort: „Eindringlinge nun in Sektor zwei. Reaktorkern überlastet, Notabschaltung in T minus 5 Minuten“
„Wo stecken Jonas und Lander?“
„Ich glaube, die hat’s erwischt, Käpt’n. Die Parasiten. Ein schwarzer und ein weißer.“
„Watersen?“
„Ein Elterntier. Hat ihn unter sich begraben. Kein schöner Anblick“
„Higgins?“
„Verschwunden. Wir müssen davon ausgehen, dass sie auch tot ist“
„Machen Sie die Notkapsel klar!“
„Aye Käpt’n“
„Notabschaltung nun in T minus 3 Minuten“
„Äh, Käpt’n?“
„Was ist, beeilen Sie sich gefälligst!“
„Käpt’n, die Notkapsel ist verschwunden.“
„Verschwunden?“
„Muss sich aus der Verankerung gelöst haben“
„VERDAMMT!“
Zweieinhalb Minuten betretenes Schweigen.
„Na ja, wenigstens nehmen wir einige von diesen Viechern mit in den Tod.“
„Notabschaltung in zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins…“
Aus dem Fenster der Notkapsel beobachtete Jamie das interessante Feuerwerk, das die „Esmeralda“ abgab. Nur schade, dass sich an Bord auch einige der Wolliens befunden hatten. Aber es hatte sein müssen. Sie hatte doch nicht zulassen können, dass Douglas diesen wundervollen Planeten vernichten ließ. Es war gar nicht schwer gewesen, einige der Tiere in das Landungsschiff zu locken. Sie schienen Jamie unbegrenzt zu vertrauen. Und einmal an Bord hatte es sich als einfach erwiesen, die Tiere in die richtige Richtung zu lenken.
Zufrieden lehnte Jamie sich in ihrem Sitz zurück und erwartete die letzte Landung ihres Lebens. Von nun an würde sie eine echte Schäferin sein.