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Won ton on
Mein linker Fuß traf den vollen Aschenbecher, mein rechter Arm war bis zur Schulter eingeschlafen. Nur knapp hatte ich die halbvolle Rotweinflasche neben meinem Bett verfehlt.
Hier sollte mal jemand aufräumen, dachte ich, während ich mir die Asche vom Fuß wischte. Ein schrilles Läuten zehrte wie eine entzündete Zahnwurzel an meinen Nerven. Ich schlug auf den noch klingelnden Wecker. In meinem Kopf hallte es "No not now" von Frank Zappa - immer und immer wieder. Die passende Musik fürs Leben.
Zu früh. Mein Hals schmerzte von zuviel Alkohol und unzähligen Zigaretten am Vorabend. Meine Haare stanken nach kaltem Rauch, mein T-Shirt nach Schweiß. Ich griff nach der halbvollen Packung American Spirit. Der erste Zug beruhigte meine Nerven. Ich überlegte. Was hatte mir gestern noch einmal den Tag versaut? Richtig, ich war schwanger.
Ich konnte die Riege der Bilderbuch-Trächtigen kreischen hören: "Schwanger und Zigaretten! Oh mein Gott, Sie bringen das Kind um!" Und ich konnte mich sehen, wie ich schlaftrunken im fleckigen Kimono auf den Scheiterhaufen unfähiger Mutterschaft gezerrt wurde, um den qualvollen Tod einer Egoistin zu sterben und dabei verzweifelt protestierte: "Nein, nein, ES bringt MICH um!"
Die Küche ähnelte in frappierender Weise meinem Schlafzimmer. Auf allen verfügbaren Ablageflächen stapelten sich Teller, Gläser, Tassen, Besteck und Essensreste. Mit dem Unterarm schob ich etwas Geschirr beiseite, um den Weg zur Espresso-Maschine frei zu legen. Ich räum das später auf, huldigte ich prophylaktisch den Geist meiner Mutter.
Der fortschreitende Prozess der embryonalen Zellteilung, der sich ungefragt in meinem Unterleib abspielte, und auch der Drang zu kotzen, waren Rasmus‘ Schuld. Ich fühlte mich wie das zuerst sterbende Besatzungsmitglied in Alien, Teil 1, kurz vor dem Frühstück. Das ist also die Männergeburt, hatte ich damals im Kino gedacht. Die weibliche Realität war wesentlich schlimmer.
Ein Kind vom schönen Rasmus - so hatte ich ihn genannt, als ich ihn nur vom Sehen kannte. Vom blöden Arschloch Rasmus, dachte ich wütend und trat gegen den Kühlschrank. Ein stechender Schmerz durchzog meinen linken Fuß. Ich trat noch einmal dagegen. Flaschen und Gläser klirrten. Der Schmerz wurde schlimmer. Vom Vollidioten Rasmus mit seiner Groß-und-Stark-Nummer, dieser bekloppten Hornbrille und seinem romantischen Dackelblick - "Baby, ohne Kondom ist es doch viel schöner".
Wann werden sanft säuselnde Espresso-Maschinen erfunden? Das Geräusch des durchlaufenden Kaffees drohte meinen Kopf zu zersprengen. Ein Morgen wie jeder andere, versuchte ich mich zu beruhigen. Ein bisschen besoffen, ein bisschen erschlagen, ein bisschen schwanger.
Als ich in den Spiegel blickte, entdeckte ich entsetzt, dass mir jemand ein Schild an den Kopf genagelt hatte. Dort stand es, in Blut geschrieben: "Schwanger! Handle with Care!" So wie sich mein Körper anfühlte, sollte dringend "This Side Up" hinzugefügt werden. Denn im Moment wusste ich nicht, wo oben und unten war.
Kurz spielte ich mit dem Gedanken, mich krank zu melden, verwarf die Idee aber sofort. Das würde einen Tag allein mit meinem Gehirn und diesem Schild bedeuten.
Keines der Gesichter in der U-Bahn ähnelte Rasmus. Wie hatte ich mir das auch vorgestellt? Ich steige in den Wagon und da sitzt er?
"Hey, wie geht’s?" Küsschen, Tätschel.
Zwischen Schlesischem Tor und Gleisdreieck hätte ich dann meine Hand auf seinen Oberschenkel gelegt. Eine garantierte Methode, seine Aufmerksamkeit zu erlangen.
"Hey, ich bin voll schwanger ey", hätte ich gesagt, locker, unbeteiligt, im Viva-Moderatoren-Ton.
"Hey, das finde ich voll cool", hätte der schöne Rasmus darauf geantwortet, mich geküsst und mir einen Scheck überreicht. Einen Scheck? Hm, warum nicht?
Rosarot ist jede Theorie. Statt dessen starrte ich in verlebte, graue U-Bahn-Gesichter, deren letztes Lachen auf Ballermann 6 unter den Tisch gerutscht und für immer verloren gegangen war. Eine Frau um die 50, in einem verwaschenen Trenchcoat, nestelte ständig an ihrer Handtasche. Sie schien etwas zu suchen. Verlorene Jugend? Guten Liebhaber? Leben ohne Kinder? Seit fast zwei Wochen hatte ich Rasmus nicht mehr gesehen.
"Überleg‘ doch mal, wie alt du bist!" meinte Ginda und nippte an ihrem Mittagspausen-Milchkaffee. Mit Glück hatten wir noch einen Fensterplatz im Café Stillos ergattert. Die Sonne schien durch die schmutzigen Scheiben des kleinen Cafés gegenüber von unserem Büro. Von hier aus hatte ich den Eingang fest im Blick, nur für den Fall, dass mein Chef einmal früher von seinen ausgiebigen Ausflügen zurückkehren sollte.
Ich wusste nicht nur, wie alt ich war – ich spürte es. Und wieder einmal stellte sich die Frage, warum Frauen beste Freundinnen brauchten. Sind sie nicht das Gift, dass das berühmte Fass zum Überlaufen bringt? Wollen sie nicht mit ihren netten, selbstlosen Tipps einzig dafür sorgen, dass dein eigenes Leben genauso beschissen verläuft wie ihres?
"Halloho" – Ginda klopfte sich mit dem Finger an ihre solariumgebräunte Stirn und seufzte. Mit einer leichten, eleganten Bewegung wischte sie sich ein Goldlöckchen aus dem Gesicht und sang: "Letzte Möglichkeit." Ginda war so sensibel.
Auch ich seufzte und ließ meinen Blick abwesend über die vorbei eilenden Passanten gleiten, in der Hoffnung, Rasmus zufällig zu entdecken. Einmal musste ich es Ginda sagen.
"Ginda, du erzählst Scheiße," entgegnete ich. "In vitro kann ich mich noch bis 60 befruchten lassen. Und dann such ich mir `nen Nobelpreisträger aus." Nicht so ´nen Looser, führte ich den Satz in Gedanken zu Ende.
"Ich könnte auch meine Stammzellen verkaufen", sinnierte ich weiter und hielt inne: "Sag mal Ginda, wie lange trägst du schon dieses rosa Seidenkleid?" Ginda lächelte und wich meinem Blick aus. Es mussten Wochen sein.
"Sagst du es ihm oder nicht?" hatte Ginda gefragt. Seit ich im Bad gestanden und auf den zweiten, deutlich erkennbaren Punkt des Schwangerschaftstests gestarrt hatte, fragte ich mich ebenfalls, ob mein Embryo einen Vater haben sollte. Ich hätte von Ginda einen Rat erwartet, etwa wie: "Sag es Rasmus." Oder: "Treib ab." Oder: "Du schaffst das schon." Oder: "Verkauf es an einen Filmstar." Nichts. Obwohl ich sie bereits über zehn Jahre kannte, weigerte sie sich, die Verantwortung für mein Leben zu übernehmen.
"Alkohol ist keine Lösung", belehrte mich die therapieerfahrene Ginda, die ich noch zu einem spätabendlichen Ausflug in die Microbar überredet hatte. Eine Mischung aus Latino-Techno und Trash versuchte das Hämmern in meinem Schädel zu überdröhnen. Dicht drängte sich die junge, hippe Szene, durchsetzt mit fahlen Drohnen, die sich für zugehörig hielten. Die amberfarbene Beleuchtung schmeichelte meinem unter Schlafentzug leidenden Teint. Ausgiebig bewunderte ich meine plötzliche Pfirsichhaut im Spiegel hinter den Alkflaschen, während ich Pina Colada schlürfte. Und zwischen Nylon-T-Shirts, Lederjacken, Fellimitat-Mänteln und Seidenpolos hielt ich Ausschau nach Rasmus.
Was wusste Ginda schon vom Leben? Natürlich war Alkohol eine Lösung. Wenn auch keine dauerhafte. Ich zündete mir eine Zigarette an. Ein tiefer Zug am pure tabbacco. Wow. Meine bloßliegenden Nerven dankten es mir, während mein Magen sich umdrehte.
"Du rauchst?!" Ginda schrie entsetzt auf.
"Hast du was gegen Raucher?" Ein gutaussehender Braunlockiger schob sich geschickt zwischen uns. Lässig drapierte er seine Hände in den obligaten Jeans im Dirty-Used-Look und schenkte Ginda ein zahnspangengeformtes Musterlächeln.
"Hey hey hey!" Ginda versuchte, den Eindringling beiseite zu schieben. Zu groß war ihr Entsetzen über meinen mangelnden Schutz des ungeborenen Lebens, als dass sie sich nun eigenen Fortpflanzungsabsichten hätte widmen können.
Ich lächelte der Braunlocke zu und bot ihm eine Zigarette an. Ginda biss sich auf die Unterlippe. Jetzt konnten noch Wetten angenommen werden. Würde sie "Sie ist schwanger!" schreien - oder nicht?
Braunlocke verwickelte Ginda in ein Gespräch, dem ich wegen der lauten Musik nicht folgen konnte. Statt dessen suchte ich weiter nach Rasmus. Immerhin war die Microbar einst unser Stammtreff gewesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er in genau diesem Moment durch die Tür kam, war groß, redete ich mir ein, starrte auf den Eingang, hob erwartungsvoll den Kopf, sobald ein ihm ähnelndes Männchen die Bar betrat, um gleich darauf enttäuscht auf meinem Barhocker zusammenzusacken. Erdnüsse und ein weiterer Pina Colada reparierten die kleinen Wunden.
"Noch einen!" rief ich dem Barkeeper zu und fragte mich, ob ich Rasmus nicht einfach eine Nachricht in der Mailbox hinterlassen sollte. Mein Kopf sackte auf den Tresen. Bleierne Müdigkeit befiel mich. Nur kurz die Augen schließen. Ginda zischte vorwurfsvoll: "Du säufst zu viel."
"Ich weiß", murmelte ich und fiel in einen tiefen Schlaf. Wir waren am Meer, sonnig, warm. Das Meeresrauschen klang wie Salsa. Rasmus war da. Er lächelte, breitete die Arme aus. Ich hatte ganz vergessen, wie schön er war. Sein jungenhaftes Gesicht, die halblangen, leicht zerzausten blonden Haare, die tiefbraunen Augen, Vater meiner Kinder.
"Nimm mich!" rief ich ihm zu. Ginda rüttelte mich an der Schulter.
"Hör auf rumzuschreien!" Sie klang besorgt. Arme Ginda. Braunlocke, der mittlerweile zur Familie zu gehören schien, beugte sich ebenfalls über mich.
"Sollen wir dich nach Hause bringen?" fragte er in diesem besorgten, väterlichen Tonfall, den ich nicht ausstehen kann.
"Wollt ihr euch nicht lieber selber nach Hause bringen?" lallte ich und nahm einen weiteren Schluck. "Ich bleibe hier und sterbe."
Bis zwei Uhr nachts hing ich auf meinem Barhocker und wartete auf Rasmus. Vergebens. Siebenmal versuchte ich ihn anzurufen. Doch sobald ich seine Stimme bei der Mailbox-Ansage hörte, legte ich auf. Ich kam mir vor wie ein blöder Teenager. Aber es ging nicht. Statt dessen schossen mir bei jedem Versuch Tränen in die Augen. Ich hasste das.
Die Microbar hatte sich geleert. Ginda und Braunlocke waren vor Stunden gegangen. Wahrscheinlich hatte ich sie beleidigt. Jemand bestellte mir ein Taxi und setzte mich hinein.
Auf der Fahrt herrschte hoher Seegang, mindestens Windstärke 9.
"Orkanböen?" fragte ich den Taxifahrer, bevor ich "Mir is schlecht" stammelte und die Wagentür aufriss. Der Taxifahrer war nett. Er hielt mir sogar die Haare zur Seite, als ich halbverdaute Erdnüsse und Pina Colada in den Gulli kotzte.
Meine Wohnung war der übliche Alptraum. Kein Wunder, dass ich so lang gebraucht hatte, um den Schlüssel im Schloss zu lancieren. Überall Müll, schmutziges Geschirr, Klamotten. Ich stolperte über den Wäschekorb am Eingang, fing mich wieder, indem ich mich an der Wandgarderobe festklammerte. Sollte ich das Kind behalten, müsste ich mal aufräumen, dachte ich. Ich war so müde. Unendlich müde. Des Lebens müde. Der Reisverschluss meiner Stiefel hakte. Ausziehen kann ich mich auch morgen, dachte ich.
"Und morgen rufe ich ihn auch an", versprach ich der Wand. Endlich. Ich ließ mich der Länge nach auf mein Bett fallen. Doch statt der weichen Mattratze spürte ich etwas Hartes, Warmes unter mir. Es schrie und versetzte mir fast einen linken Haken. In meinem Bett schlief Rasmus. Ich war zuhause.
[Beitrag editiert von: Endorphina am 03.02.2002 um 11:48]