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Woodstock am dritten Tag
Der Bass von Jack Casady buddelte sich durch den Boden in meine Hände. Mein Körper wummerte.
Sie taten gut, die Schallwellen von innen. Als würden Jefferson Airplane ihre Musik direkt durch meine Arme leiten und meinen Bauch als zusätzlichen Lautsprecher nutzen. Ein Werdegang, den ich mir durchaus vorstellen kann.
Die Sonnenstrahlen hatten sich den Tag über an meinen Beinen ausgetobt. Sie waren vom Schweiß benetzt und ich streckte sie von mir. Es störte mich allerdings nicht. Auch nicht die Grashalme an meinen Waden, die mit einem Jucken wohl sagen wollten: „Bleibst du noch lange … ?“
Selbst der strenge Geruch von Collin, meinem Kumpel, kam mir süßlich vor, als ich oben auf dem Hügel des Woodstocks neben ihm hockte. Festgewurzelt, wie Bäume es sind. Es war der dritte Tag. Ich roch also ähnlich gut. Feine Nasen werden was anderes behaupten, aber für mich waren wir zwei zerfließende Süßhölzer.
Durch das Loch, zwischen Zeh und Zehen, nahm ich Grace auf der Bühne in den Fokus. Es kam mir vor, als könnte ich sie durch mein Zehloskop besser erkennen. Ich kicherte. Collin schaute mich an und ohne zu wissen, was der Grund für die Kicherei war, stieg er mit ein.
„Schau mal“, sagte ich und streckte ihm den Fuß rüber. „Was siehst du?“
Collin beugte sich nach vorne. Wie ein Jäger auf der Pirsch blickte er durch das Loch. Sein Schnurrbart kitzelte mich am Fuß. Als Zielfernrohr hatte ich es nicht leicht, still zuhalten. Würde es den Gewehren von Jägern ähnlich ergehen, geht es mir durch den Kopf, gäbe es sicher weit weniger tote Rehe.
Ich spürte, wie er in seinem Ausguck umher schwenkte.
„Ich kann Marty Balin und Grace Slick erkennen“, antwortete Collin. „ ... und die anderen natürlich. Wie heißen die noch gleich?“
Meine Antwort blieb aus, da ich zu beschäftigt war, mich zusammenzureißen. Ich wollte wissen, was er noch entdeckte - aber sein Bart kitzelte wie blöde!
„Da seh' ich Zwei, die sich küssen. Und daneben liegt wer, alles von sich gestreckt und wird mit irgendwas gefüttert“, beschrieb Collin.
„Da ist noch'n Typ, schwingt seine Arme auf und ab, dreht sich wie ein Kreisel, während andere einen Kreis um ihn bilden … !“
„Ah!“, lachte ich. Das Kitzeln war zu stark geworden.
Collin bäumte sich auf und lachte ebenfalls.
„Mein Bart?“
Ich nickte, kratzte mir den Fuß und musste an ein Reh denken, das sich im Kreis dreht. Es blieb verschont! Wobei es vermutlich kein Jäger erwischt hätte. Tanzende Rehe zu schießen klang für mich furchtbar schwer.
Wir saßen bis in den späten Nachmittag auf dem Hügel, Jefferson Airplane lauschend. Das Trommeln des weißen Kaninchens entsprang den Lautsprechern und wummerte mit vibrierenden Wogen über das Woodstock. Die Sonne schlich sich bereits an den Horizont, was der Hitze jedoch keinen Abbruch tat.
Erst jetzt bemerkte ich meinen Durst. Die Schweißtropfen wanden sich um meine Beinhaare, um kurz danach auf die Grashalme zu tropfen.
Ich gieße sie, giggelte ich. Allerdings war ich unsicher, ob es zu ihrer Freude oder zu ihrem Ärger geschah.
Wie viel Körpersaft haben sie wohl schon von mir getrunken? Ging es ihnen gut? Erlöst sie in baldiger Zukunft mein Ausdörren? Also natürlich ... wenn ich tot bin!
Aber auch schon davor?
Ich betrachtete meine nassen Beine. Es fühlte sich an, als würde ich zerfließen. Tropfen für Tropfen. Es erinnerte mich an meine Veranda, wenn der Regen kurz am Dachblech haftete und danach mit seinem Sturz fortfuhr. Mich beeindruckte die Ausdünstung meines Körpers. Eine Wasserquelle! Sie kam aus meinen Poren. Die Schweißtropfen sausten wie Skifahrer durch meinen Wald haariger Tannen und stürzten den Vorsprung zu den Grashalmen hinab. Ich schaute eine Weile zu. Als würde ich zerfließen, dachte ich, bis mich die Angst packte. Ich zerfließe!
Ich schloss meine Augen. Ein mit Kraft bepackter Atemzug füllte meine Lunge. Wir sollten in den Schatten und etwas trinken. Der Sonnentag hatte uns nur leicht ausgetrocknet, alles halb so schlimm!
Der Gedanke spross durch mich hindurch und lotste mich aus der Panik. Ich musste nur noch Collin einweihen. Er musste auch Durst haben!
Ich öffnete die Augen und schaute zu ihm hoch.
„Collin, können wir in den Schatten? Mir ist nicht gut ... “
Er drehte den Kopf und schaute ins Leere, dann zu mir hinunter. Seine Brille umrahmte zwei apfelgroße Augen, und das Gestell, das von den Ohren gezogen wurde, schob sich die Nase hoch.
„Ich glaube auch … “ sagte er. „Ich glaub', du bist eine Pfütze geworden“.
„Oh … ok“, erwiderte ich. Nun bin ich wohl wirklich zerflossen. Mir war nicht bewusst, dass ich das kann. „Mein zweiter Tipp wäre, dass du ein Riese geworden bist“, fügte ich hinzu.
Collin grinste.
„Nö, war mir grad' nicht nach! Sag mal, … wie fühlst du dich, so als Pfütze?“
„Schwer zu sagen … „
Ich schaute umher und sah die Gräser wie Bäume emporwachsen. Boden und Wind streichelten mich. Der eine ruhig und vertraut, der eine flüchtig und erfrischend. Elemente, die einander gut taten. Die Erde, die Luft und … ich.
Auf mir ein Spiegel an Wolken, getragen von einem tiefblauem Himmel. Mit ihren Strahlen ergänzte die Sonne das Glitzern auf dem Bild.
Ich fand mich wunderschön!
Die Furcht hatte keine Lust tief zu tauchen. Wozu auch, ich bin eh ein Nichtschwimmerbecken!
Es war kühl und warm zugleich. Eine Erfrischung, die nie wieder zu schwinden schien.
Ein Finger unterbrach meine Ekstase.
„He!“, sagte ich.
Es war Collin.
„Du bist so glasig! Und wo ist eigentlich dein Gesicht?“
Das war eine gute Frage. Pfützen mit Gesichtern gab es keine und ich stellte wohl keine Ausnahme dar.
„Ich mal dir eins!“
Collins Finger glitt erneut durch das glasklare Wasser. Er stocherte drauf los. Zwei Punkte und ein Strich, der wie der Querschnitt einer Obstschale aussah, zierten nun den Boden.
„Fertig, dein neues Lächeln!“
Jetzt hatte ich endlich das passende Gesicht.
„Zum Glück bist du nicht schlammig und braun, wie die meisten Pfützen.“
„Es gibt auch n' paar, die nich' schmutzig sind“, warf ich ein. „Wenn es gerade erst geregnet hat zum Beispiel. Dann sind sie immer klar.“
„Das doch Quark. Im Schlamm nich'!“
„Aber für'n kurzen Moment? In dem Moment, als der Regentropfen den Lenden des Himmels entsprang? Da war er klar!“
„Das sind ja auch noch Regentropfen und keine Pfützen.“
„Aber sind sie das nicht auch schon, wenn sie herabfallen? Ihr Weg ist vorherbestimmt!“
„War mein Weg doch auch nich', als ich aus meiner Mutter … getropft bin!“
„Wenn doch, wissen wir, dass du bis zum Woodstock getropft bist. Derzeit wärst du allerdings sicherlich eine Schlammpfütze!“
Collin und sein Dreck im Gesicht blickten mich an.
„Wann ist es eigentlich 'ne Pfütze? Wie viele Tropfen braucht es dafür?“, fragte Collin.
„Weiß' nicht. Seh' ich aus wie 'ne Pfütze?“
Collin musste lachen und ich selber grinste unverändert.
Das Blau in meinem Wasserspiegel wurde mittlerweile vom Abendrot übertüncht. Die Sonne hatte mich mit ihren Strahlen zu sich gezogen, und der Boden saugte mal mehr, mal weniger an mir. Ich betrachtete Collin von oben und von unten. Sickerte tiefer und tiefer. Flog höher und höher. Mein Blick fing das ganze Festival ein!
„Willst du eigentlich immer noch in den Schatten“, fragte Collin, „weil ich weiß nich' wie wir dich dahin bekommen.“
„Jetzt geht’s. Der Durst is' auch weg!“ antwortete ich.
„Hast du eigentlich Durst, Collin?“
„Schon, aber die Musik und die Sonne drückt mich an den Rasen.“
„Nimm doch n' Schluck!“
Collin zog eine Augenbraue hoch.
„Ich bin keine Schlammpfütze, hast du selbst gesagt!“
„Aber was passiert dann mit dir?“, fragte Collin.
„Mit mir passiert alles.“, sagte ich „Alles was mit einer Pfütze halt passiert.“
Collin's Blick ragte in den Himmel und er strich über seinen Schnurrbart.
„Also kann ich auch in dich hineinspringen?“
„Das passiert auf jeden Fall mit Pfützen!“, jubelte ich.
Er beugte sich hinunter, stützte seine Hände auf den Boden und saugte mich ein. Schluck für Schluck. Der Boden, die Sonne, Collin, alles. Alles nahm mich auf. Spätestens bald. Ich sah Innen, ich sah Außen. Ich sah eine Pfütze und einen durstigen Collin, der mich trank. Den Durst anscheinend gestillt, stieß er einen zufriedenen Seufzer aus. Ich musste super schmecken! Mit einem Satz sprang er nach vorn. Ich wurde in alle Richtungen verteilt, bewässerte noch mehr Grashalme und verlor mein Grinsen und fast meine ganze Pfütze am Tanz von Collin. Doch es war mir gleich.
Ein Grinsen oder ein Lächeln, ein Weinen oder ein Brüllen, all die Gesichtsausdrücke konnten schon lange nicht mehr mein Gefühl ausdrücken.
„Go ask Alice!“, schallte es aus den Lautsprechern.
Ich sah Collin dabei zu wie er wie ein Kreisel tanzte, während Grace auf der Bühne vom weißen Kaninchen sang. Der dritte Tag war der beste Tag, wie ich fand!