Was ist neu

Zähne

Mitglied
Beitritt
16.12.2020
Beiträge
23
Zuletzt bearbeitet:

Zähne

Als ich die Schatulle öffnete, waren darin Zähne in verschiedenen Größen. Milchzähne meiner Brüder und auch der ein oder andere von mir. Das Kästchen wurde schon von meiner Großmutter genutzt und so befanden sich darin auch die Zähne meines Onkels, zweier Tanten und die meines Vaters. Es waren genug um den Boden komplett mit einer Schicht aus den abgerundeten weißen Steinchen zu bedecken, die einst die Münder meiner Verwandten geziert hatten. Gedankenverloren wühlte ich mit einem Zeigefinger darin. Schob sie zu einem Haufen zusammen und sah zu, wie die oben liegenden Exemplare an den Seiten hinunterkullerten. Plötzlich hielt ich einen Backenzahn zwischen zwei Fingerspitzen, der im Vergleich zu den anderen einem Koloss unter Zwergen glich. Wie er mir bei dem ersten Blick in diese aufwändig gestaltete Schachtel verborgen bleiben konnte, blieb mir schleierhaft. Mir war nicht klar, wie groß Zähne sein konnten und ich betastete unweigerlich meine eigenen mit der Zungenspitze, war aber der Meinung, dass ein solcher Prügel unmöglich in meinem Gebiss Platz finden konnte, ohne mein Gesicht mit einer Beule zu verunstalten.

Von unten trommelten die Geräusche tobender Schritte bis in das Zimmer und ich verschloss das hölzerne Zahnsärgchen hastig, schob es weit nach hinten auf der mit Bildern voll gestellten Kommode und stand in der Mitte des Raums, als Ben und Jo herein gepoltert kamen. Jo hielt sich ein Stofftaschentuch ins Gesicht und Ben, der zuerst hereingesprungen kam, rief lauthals: »Ein Opfer für den Knochengott in der Kiste! Hey Maggi, was machst du hier? Willst du sehen, wie wir dem Knochengott ein Opfer darbringen?« Ben grinste bis über beide Ohren und klopfte Jo kräftig auf die Schulter. »Unser guter Johann hier hat heute seine Fausttaufe überstanden und wie ein Mann eingesteckt.« »Wer?«, warf ich in den überschäumenden Wortschwall meines Bruders ein und ließ mir keine Regung aus Jo’s Gesicht entgehen, das verkniffen auf einen Punkt auf der Kommode starrte. Seine Lippen waren zusammengepresst, unter dem rechten Auge glänzte eine breit geschmierte Träne. »Lincoln Weatherby hat unserem Helden hier mit drei gezielten Schlägen in die Oberstufe befördert. Eine Ehre, aber keine Sorge Jo, das macht der Knochengott alles wieder gut. Nicht wahr, mein Bester?« Jo antwortete nicht, erst jetzt fiel mir auch die immer größer werdende Schwellung, die sich über Wange und Schläfe ausbreitete, deutlich auf. Sie würde ganz sicher in den nächsten Tagen noch in allen Farben des Regenbogens aus seinem Gesicht scheinen. Jo war kein großer Kämpfer, das wusste sogar ich, als seine fünf Jahre jüngere Schwester. Genauso wenig galt das für Ben, deswegen wunderte ich mich, dass der so aufgeregt war. Eine Prügelei gehörte nicht zu den Dingen, mit denen man ihn normalerweise in Verbindung brachte, denn etwas Anderes wurde nicht daraus, auch wenn man es Taufe nannte. Eher mit Angeln, Abenteuerromanen und Kricket. Jo unterdessen, der nur ein Jahr jünger war als Ben, liebte Musik, sein Pferd und Bücher aller Art.

Ich dachte an die Zahnbox und fragte mich, ob darin der Knochengott wäre, von dem Benedict die ganze Zeit sprach. Jo griff tief in seine Hosentasche, drückte dabei aber weiter das Taschentuch auf seine Wange. »Maggi«, sagte er, »Du musst jetzt ganz stark sein.« Und holte etwas aus seiner Tasche, das er fest in seiner Faust umklammert hielt, als wäre es ein Insekt, dass, wenn er der Hand nur eine kleine Lücke erlaubte, den Weg nach draußen finden würde und wegflog. Mir war ein bisschen flau im Magen, als Jo das sagte. Er schaute mich dabei an und Ben, der immer noch grinste, schien für ihn gerade nicht zu existieren. Großvater sagte das sonst, bevor er ein Kaninchen erschlug. Wer essen will, muss auch dazu bereit sein, waren seine Worte. Dann hielt, wer gerade da war, das Kaninchen an den Hinterläufen, dass es kopfüber hing und Großvater zog ihm das Fell ab. Ich hasse das, aber Kaninchen esse ich am liebsten.
»Links, rechts und dann die Gerade. Pow! Wie im Comic, man konnte die Sternchen sehen! Du hast dagestanden wie eine Reklametafel für Tierfutter und Lincoln das Tier hatte dich zum Frühstück.« Ben war nicht zu bremsen. Jo, der ihn augenscheinlich ignorierte, sah nun noch finsterer drein. »Verstehst du? Hatte dich zum Frühstück!« Ben lachte über seinen eigenen Witz und kriegte sich nicht mehr ein, er lachte so sehr, dass er vor Anstrengung in die Knie ging und sich die Seite hielt. »Aber die Zähne hat er sich nicht an dir ausgebissen«, johlte der ältere Bruder weiter. »Verstehst du, die Zähne ausgebissen. Die Zähne«, flüsterte er, jetzt am Boden liegend, als würde ihm zu lachen Schmerzen bereiten. Ich fand schon immer, dass Jo der erwachsenere der Beiden war und versuchte nun auch mit größter Bestimmtheit Benedict keine Beachtung zu schenken. »Ich kann stark sein«, sagte ich zu Jo und kam mir dabei plötzlich sehr dämlich vor, es hatte viel älter und vernünftiger klingen sollen, dem Moment angemessen, aber meine Stimme hörte sich an, als hätte ich unserem Vater gerade gesagt, dass ich jetzt keine Angst mehr vor dem Kleiderschrank im Keller hatte – was wie alle wussten, nicht stimmte. Ich hatte furchtbare Angst vor dem Schrank und seinem Inhalt und genau wie im Keller, wenn ich dem Schrank den Rücken zukehrte, spürte ich eine feine Hand, die unter meinem Kleid zwischen den Schulterblättern in meinen Nacken kroch und dort ihre Finger ablegte.

Jo sah mich an, als wäre ich eine Matheaufgabe, als er die Lösung hatte, steckte er seine Faust wieder in die Hosentasche und nahm auch das Taschentuch herunter, in dem sich wohl Eis befunden haben musste. Dann zwinkerte er mir zu, wie unser Vater es tat, wenn er mir den Vorzug gab und die Jüngste neben ihm vorne beim Beifahrersitz einsteigen durfte, während die dummen älteren Brüder sich noch darum stritten, wer diesmal dort sitzen sollte. Dann sagte er in einer Tonlage, die ich noch nie bei ihm gehört hatte: »Ich werds nicht tun, Jo.« Der hörte sofort auf zu kichern und richtete sich auf. »Was soll das heißen?«
»Ich machs nicht«, wiederholte Jo. Ben richtete sich vollends auf, es war, als stecke ihm etwas im Hals fest, denn sein Gesicht lief rot an und sein Mund verzog sich, als versuchte er zu sprechen, doch die Wörter hatten sich verklemmt. Ich kannte diesen Ausdruck, blieb aber stehen, wo ich war. Ich konnte schließlich stark sein, das hatte ich zumindest eben noch behauptet und einen von Bens berühmten Wutanfällen gegenüber zu stehen erforderte Stärke. Johann hatte sich neben mich gestellt und wir sahen beide zu, wie der Vulkan dabei war auszubrechen. »Bevor du etwas sagst«, holte Jo aus, um der Explosion irgendwie zuvor zu kommen. »Wenn es wirklich funktioniert, wäre es Mord.«

Ich schaute erschrocken zu ihm auf. »Was meinst du, was wolltet ihr machen?«
Ben und Jo wandten sich mir gleichzeitig zu, bevor Jo weitersprechen konnte, rief Ben: »Aber es wäre nicht nachweisbar und er hat es verdient!«
»Ich komme darüber hinweg.«
»Du? Du kommst darüber hinweg? Du hattest mir etwas versprochen Jo. Er hat es verdient, das weißt du.« Ben wirkte immer noch wie ein brodelnder Berg, nur ohne Lava. Seine Augen wurden zu überlaufenden Brunnen. Wie oft kam das vor, dass so tiefe Brunnen überliefen, fragte ich mich.
»Du weißt, was er mir angetan hat und wir haben das Kästchen. Wir sind die Einzigen, die dem ein Ende setzen können.«
»Es ist nur eine Geschichte«, sagte Jo.
»Selbst wenn, dann müssen wir es wenigstens ausprobieren.«
»Ich will aber nicht.«
»Du musst!«, brüllte Benedict. Dabei troffen ihm die Tränen aus den Augen und liefen in seine Mundwinkel.
Ich verstand überhaupt nicht, worum es ging und bei seinem Anblick stiegen mir selber Tränen hoch. Mein lieber Bruder, ich wollte ihn trösten und in den Arm nehmen, aber ich hatte Angst vor dem Vulkan, also blieb ich einfach nur stehen und sah hilfesuchend zu Johannes. »Es gibt andere Wege Ben und ich will nicht schuld sein, das einer stirbt.«
»Dann mache ich es eben«, sagte Ben. »Du musst mir nur den Zahn geben und ich lege ihn in die Box.« Die Nebelhand in meinem Nacken packte zu, mich fröstelte. Das Kästchen hinter mir auf der Kommode, ich war mir plötzlich sicher, dass es offen stand und etwas daraus nach mir griff. Etwas mit sehr vielen Zähnen. Ich hatte es zugemacht, das wusste ich. Dem Drang widerstehend nachzusehen, fragte ich: »Was bedeutet das?«

Jo antwortete für Ben: »Das bedeutet, dass Großmutter uns erzählt hat, dass dieses Kästchen dort auf der Kommode, in dem sie unsere Zähne sammelt, ein Schrein für den Knochengott ist.« Er atmete tief ein, sammelte sich. »Und jedes Mal, wenn du einen Zahn hineintust, erfreut das den Knochengott, so, dass er zum Dank über deine Feinde hinwegfegt und ihre Knochen bricht, dass sie daran sterben.«
»Aber da sind ganz viele Zähne drin«, erwiderte ich weinerlich. Die Nebelhand schien mir in die Gelenke zu fahren. Jede noch so kleine meiner Bewegungen fühlte sich kalt und störrisch an. »Milchzähne, das sind nur Babyzähne, die machen nur, dass der Knochengott ein Auge auf den hat, dem der Zahn gehörte und ihm alle Knochen heil bleiben«, brummelte Ben. »Deswegen hat sich noch keiner von uns oder unseren Onkeln und Tanten etwas gebrochen.« Das stimmte, jedenfalls soweit ich es beurteilen konnte – ich hatte noch nicht davon gehört, dass sich jemand bei uns etwas … »Moment, was war mit Thomas? Der hat sich letztes Jahr die Nase gebrochen. Die Ladebordwand. Wisst ihr noch?« Ben funkelte schelmisch und zog etwas Rotz hoch, bevor er sagte: »Nasen bestehen zum größten Teil aus Knorpel, wir haben das natürlich recherchiert, Maggi. Es ist ja schließlich nicht der Knorpelgott.«

»Ist das wahr?«, fragte ich Jo. »Oma betet zu dem Zahngott.« Bestürzt sah er mich an, Großmutter war die christlichste Person, die wir kannten, gleich nach Pater Willem. Ich war wieder den Tränen nahe, ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Herzeputtel, wie ich sie seit eh und je nannte, wenn wir allein miteinander waren, so eine sündige Frau sein sollte. Jos Bestürzung aber verwandelte sich ob meines sichtlichen Schreckens über diese Abgründe in eine Pose der Überzeugung. Seine Brust füllte sich und mit einer Hand umfasste er meine Schulter. »Maggi, danke! Das ist der Beweis. Diese Geschichte kann nur ein Gespinst, eine Phantasie unserer lieben Oma sein. Sie hat uns gefoppt. Wie schon so oft.« Nun konnte er sein Grinsen nicht mehr zügeln und sprach weiter zu Ben. »Zu glauben, dass die Geschichte wahr ist, wäre als zweifelten wir an ihrer Gottesfürchtigkeit. Wir sind darauf hereingefallen wie dumme Schuljungen und ich bin der dümmste, weil ich mich absichtlich habe schlagen lassen.« Ben zuckte zusammen, seine Augen, die rot und gereizt aussahen, blinzelten ungläubig. Meine Gefühle befanden sich im Widerstreit, die Erleichterung über Jos Verlautbarung und das ungute Zupfen an meinem Nervenkostüm in Verbindung mit Benedicts Aussehen, dessen Mienenspiel entartete, erschöpften mich.

»Wenn es denn so ist, wirst du wohl nichts dagegen haben, wenn du mir Deinen Zahn überlässt und ich ihn in die Kiste lege«, sagte Ben und streckte die Hand aus. »Über Großmutters Glauben ist jeder Zweifel erhaben, aber Tradition will gelebt werden. Der Zahn kommt in die Kiste, wie es Brauch ist.« Nun machte er sogar einen Schritt, kam mit der fordernden Hand näher und stach seinen Blick in Jos, wie einen Degen.
»Nein!« Das war Jo, während er an Ben vorbei sprang und einen Vorstoß zur Tür machte. Doch keine Finte, die der Eine dem Anderen unterzujubeln versuchte, war je von großem Erfolg gewesen. Sie kannten einander zu gut und Ben stürzte sich auf seinen Bruder, umschlang ihn, verlangsamte ihn, rang ihn nieder. Jo wehrte sich mit seinen langen, dünnen Gliedern und ihre Bewegungen sahen aus, als ob zwei Kleiderbügel, die ineinander verhakt waren, sich voneinander befreien wollten. Ohne nachzudenken, griff ich nach Johannes’ Arm und rief: »Nun gib ihm schon endlich den Zahn, es kann ja nichts passieren«, woraufhin er seine Anstrengungen zu verdoppeln schien. Ben nagelte Johannes am Boden fest. Schwer atmend brachte keiner von ihnen ein Wort heraus. Jo gelang es sein Knie anzuziehen und war nicht mehr zu halten. Sie schrien. Ich bemühte mich zwischen sie zu kommen. Wollte sie trennen. Rollte mit ihnen über den Boden, spannte mich, drückte, klemmte und wie von einem Federmechanismus ausgelöst, schnellte mir Johannes’ Ellenbogen ins Gesicht. Kurz war mir schwarz vor Augen, dann alles ganz hell und gleißend der Schmerz. Stöhnend drehte ich mich zur Seite, ohne zu wissen, wo oben und unten ist.
»Maggi!« Ein Aufschrei. »Das ist Deine Schuld!«, kam von Ben. »Komm bloß nicht näher!« Eine Hand schob sich unter meinen Kopf und hob ihn an. Benedict schaute auf mich herunter, er hatte meinen Kopf auf seine Oberschenkel gelegt. »Geht’s Dir gut, Kleine?« Jo kläffte er an: »Siehst Du, was Du anrichtest? Ist es das wert, um so einen Unmenschen zu schützen?« Als Jo antwortete, war seine Stimme brüchig. »Das wollte ich nicht. Und ich schütze keinen Unmenschen, ich will nur nicht ...«
»Hau besser ab!«
Jos Gesicht arbeitete, ich sah ihm an, dass er gerne mehr gesagt hätte. Ich war ihm nicht böse, aber mein Kiefer pochte so. Schließlich ging er, ohne ein weiteres Wort. Die Tür knallte. Der Geschmack von Blut füllte meinen Mund. Ben, der vorsichtig über mein Gesicht streichelte, verfluchte leise die Ungerechtigkeit der Welt.
Zaghaft tastete ich mit meiner Zungenspitze zur Quelle des Schmerzes und keuchte auf. »Oh, lass mal sehen«, sagte Ben.

 

Hallo @Rob F ,

vielen Dank für den Kommentar. Das hört sich doch gut, freut mich sehr, dass Du die Geschichte gerne gelesen hat.

Die Kommafehler werde ich schnellstmöglich prüfen und korrigieren. Was die benannten langen Sätze angeht hast Du recht, beim laut Lesen merke ich es. Die werde ich gleich noch mit verbessern.
Gerade fällt mir auf, ich habe eine super Ausrede für große Schachtelsätze - die verdeutlichen abstrakt auf der Metaebene, dass eine Schachtel im Text vorkommt. Nee, nur Spaß.

Ich wünsche Dir einen schönen Weihnachtsabend.
Schöne Grüße
Ebbe Flut

 

Hallo @Ebbe Flut,

jetzt komme ich quasi zum Gegenbesuch, was ja immer schwierig ist, finde ich, wenn man so einen netten Kommentar bekommen hat und selbst dann nicht gleichermaßen zurückgeben kann.

Was mir insgesamt aufgefallen ist, dass die Geschichte sehr fehlerfrei ist und auch wohldurchdacht und konstruiert wirkt. Allerdings sehe ich schon noch ein paar Schwächen, die ich versuche konstruktiv aufzuzeigen:

1. Perspektive

Es ist lange unklar, wer eigentlich die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt. Später erfährt man, dass es ein weiblicher Protagonist ist. Sie ist fünf Jahre jünger als der Bruder. Die Geschichte ist in der Vergangenheit erzählt, sodass also ein wenig Zeit zwischen dem Erlebten und dem Erzählzeitpunkt vergangen ist.

Dabei sehe ich einen gewissen Widerspruch, denn ich frage mich, wie alt die Erzählerin zum Erzählzeitpunkt ist. Die Sprache ist kompliziert, also kann sie kein Kind mehr sein, sondern muss schon im fortgeschrittenen Erwachsenenalter sein. Aber die Geschichte wirkt eher so, als ob sie durch die Kinderbrille erzählt.

Dieser Widerspruch sorgt aus meiner Sicht dafür, dass ich nicht richtig in die Geschichte eintauchen kann, weil ich stände an diesem Widerspruch hängenbleibe.

Man fragt sich auch, warum ein erwachsener Erzähler etwas über Zähne erzählt.

Ich würde also die Perspektive noch einmal überdenken.

Entweder richtig in die Kinderperspektive gehen (dann aber auch sprachlich) oder die Sicht auf das Erlebte an einen reflektierten Erwachsenen anpassen.

2. Spannungsaufbau

Du hast den Tag "Spannung" gesetzt. Die Spannung habe ich leider gar nicht gefühlt.

Dies liegt aus meiner Sicht einerseits am Aufbau, aber andererseits auch an der Erzählweise.

Exemplarisch gebe ich mal den ersten Absatz wieder:

Als ich die Schatulle öffnete, waren darin Zähne in verschiedenen Größen. Milchzähne meiner Brüder und auch der ein oder andere von mir. Das Kästchen wurde schon von meiner Großmutter genutzt und so befanden sich darin auch die Zähne meines Onkels, zweier Tanten und die meines Vaters. Es waren genug um den Boden komplett mit einer Schicht aus den abgerundeten weißen Steinchen zu bedecken, die einst die Münder meiner Verwandten geziert hatten.

Wenn Du das liest, dann sind das alles Fakten. Der Einstieg ist für mich sozusagen reiner Infodump.

Warum?

Ich erfahre weder etwas für die Protagonistin noch passiert etwas. Du zeigst auch keine Gefühle in den ersten Sätzen.

Damit weckst Du keine Neugierde.

Mein Tipp hier: Versetze Dich in die Protagonistin, in die Situation, in der sie gerade ist, in ihre Gefühle und beschreibe bzw. zeige diese.

3. Sprache

Bei der Sprache sehe ich zwei Themen, an denen man es noch besser machen könnte:

Präzision:

Insgesamt schreibst Du recht sicher, aber es gibt immer Stellen, an denen mir die Sprache zu unpräzise ist.

Exemplarisch zwei Textstellen:

»Wer?«, warf ich in den überschäumenden Wortschwall meines Bruders ein und ließ mir keine Regung aus Jo’s Gesicht entgehen, das verkniffen auf einen Punkt auf der Kommode starrte.

Das Gesicht starrt verkniffen auf einen Punkt auf der Kommode? Das passt einfach nicht. Das Gesicht beschreibt einen Körperabschnitt. Als solches kann es einen Ausdruck haben, aber es starrt nicht. Der Mensch, der das Gesicht steuert, starrt.


Dabei troffen ihm die Tränen aus den Augen und liefen in seine Mundwinkel.

Ich glaube der Satz ist grammatikalisch falsch.

Nach meinem Sprachgefühl muss sich das "triefen" auf die Tränen beziehen, also entweder:

Tränen troffen (oder trieften) aus den Augen. (im Sinne von großen Tropfen rinnen herab)

Er troff (oder triefte) vor Tränen. (im Sinne von nass sein vor Tränen)

Die einfachste Lösung wäre aus meiner Sicht das "ihm" zu streichen.

Satzbau:

Verben würde ich für den Leser immer möglichst früh bringen, da ansonsten der Lesefluss so gestört ist und mehrteile Ausdrücke möglichst wenig weit auseinanderreißen:

Jo antwortete nicht, erst jetzt fiel mir auch die immer größer werdende Schwellung, die sich über Wange und Schläfe ausbreitete, deutlich auf.

Das "deutlich auf" würde ich also schon nach "Schwellung" bringen.

Du hängst ganz oft Sätze mit einem Komma zusammen, die aber nicht wirklich zusammengehören, so wie hier (nur eines von vielen Bsp.)

Jo sah mich an, als wäre ich eine Matheaufgabe, als er die Lösung hatte, steckte er seine Faust wieder in die Hosentasche und nahm auch das Taschentuch herunter, in dem sich wohl Eis befunden haben musste.

Der zweite Satzteil "als er die Lösung hatte" ist ein neuer Vorgang der vor allem auch erst nach einer gewissen Zeit einsetzt. Er sieht er und denkt (erster Satzteil) und dann findet er die Lösung und dann erst beginnt der zweite Satzteil.

Solche Vorgänge würde ich immer durch einen Punkt trennen. Mich irritiert das sonst nachhaltig (mal abgesehen davon, dass hier diese unschöne Wortwiederholung "als ... als" vorhanden ist.

***
So viel fürs Erste.

Man könnte sicher noch sehr viel mehr dazu schreiben, aber ich belasse es mal dabei. Hoffentlich kannst Du damit etwas anfangen.

Gruß
Geschichtenwerker

 

Hallo @Geschichtenwerker,

ich finde Deine Antwort sogar ausgesprochen nett. Wobei nett jetzt eine sehr schwammige Verallgemeinerung darstellt, für hilfreich, wertvoll, verständlich und nachvollziehbar. Ich werde mir die von Dir genannten Punkte nochmal im einzelnen und auf den gesamten Text bezogen anschauen und daran arbeiten.

Am schwierigsten zu verbessern erscheint mir Deine erste Anmerkung, also bzgl. der Perspektive. Die Protagonistin ist in meinen Augen eine Tochter aus höherem Hause und gehört zum Bildungsbürgertum des 19.Jahrhunderts. Das zumindest als Erklärung für die Sprache. Im Text kommt das nicht raus und kann zu Verwirrung führen, dass sehe ich jetzt auch. Mal sehen wie ich es angehe und dabei gleich den Infodump noch etwas reduziere.

Deine Tipps zu Verben im Satz, sind mir nicht neu, allerdings scheine ich einen Hang zu verschachtelten Sätzen zu haben. Ich empfinde die häufig als ganz natürlich, obwohl ich weiß, dass Schreibratgeber im allgemeinen davon abraten.

Du hast mir ein gutes Stück weiter geholfen.

Vielen Dank und schöne Grüße
Ebbe Flut

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom