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Zahltag
Ich mag meine Großmutter sehr. Ich mag sie wirklich. Wäre meine Familie eine, in der man seine Gefühle offen auslebte, würde ich sogar sagen, dass ich sie liebe. Aufrichtig. Doch das tut man in meiner Familie nicht. Bei uns liebt man bestenfalls seine Kinder und allenfalls noch den Ehepartner. Oder eben die blonde Nachbarin mit den kurzen Röcken und der verrückt auftoupierten Frisur. Oder den Jack-Russel-Terrier und sein Auto. Beide werden genauso oft ausgeführt und bekommen nur das Beste. Frische Innereien vom Metzger beziehungsweise Warmwachs einmal die Woche.
Ich sollte noch bei dieser Tankstelle da stehen bleiben und schnell ein paar Blumen kaufen. Auch wenn Oma nicht mehr gut sieht und es schon dem Ende zu geht, so wird sie sich doch über ein paar Blümchen freuen, oder? Zumindest über deren Geruch. Aber riechen Blumen, die man an einer Tankstelle kaufen kann, überhaupt gut? Oder überhaupt nach irgendwas? Egal. Ich werfe schnell den Blinker raus, halte an der Tankstelle und spring in den Shop rein. Oje, Frau Kerstinger! Seit wann arbeitet die denn hier? Guten Tag. Ja, was hätte ich den gerne? Einen Strauß Blumen. Ja, mir geht’s gut, danke. Und Ihnen? Verdammt, das war ein Fehler, hätte ich besser nicht fragen sollen. Jetzt erzählt sie mir von ihrem Hüftleiden, das kann dauern. Ah, hallo? Diesen Strauß bitte! Ist für meine Oma. Ja, ich geh sie besuchen, richtig. Es soll ihr schlechter gehen, ja, das stimmt wohl. Haben Sie richtig gehört. Ich? Ach, ich bin beruflich jetzt in Hamburg, nur alle paar Monate mal im Land. Na ja, und jetzt bin ich früher runtergefahren, Großmutter möchte mich sehen. Kann ich auch mit Bankomat bezahlen? Ja, gut! Genau. Deshalb bin ich hier. Markus und Christa haben mich angerufen, sie sagten, dass es ihr schlechter ginge, sie wolle mich noch... sie wolle mich eben sehen. Ja, ich bin mit dem Flugzeug geflogen, Bahn würde zu lange dauern. Nein, der Flug ist gar nicht so teuer. Nein, wirklich nicht. Auf Wiedersehen, Frau Kerstinger!
Mann, diese Straße ist vielleicht schlecht. So schlecht hab ich sie gar nicht in Erinnerung. Von einem Schlagloch ins nächste. Na, was soll’s, ist ja nur ein Leihauto. Aber dennoch, da bekommt man schon vom Hinschauen einen Bandscheibenvorfall. Scheiß alte Straße. Hm, alt. Wie alt ist Großmutter jetzt eigentlich? Vierundsiebzig? Fünfundsiebzig? Shit, ich weiß noch nicht mal ihr genaues Alter. Ich bin echt ein Arschloch! Wann war noch mal ihr Siebziger? Die große Feier im „Goldenen Kleeblatt“. Mit den großen Geschenkskörben, der Blasmusik, die ihr ein Ständchen gespielt hat, meiner Mutter. Moment, das muss zwei Jahre vor Mutters Tod gewesen sein, also vor sechs Jahren. Was? Dann ist Oma schon Sechsundsiebzig? Wahnsinn! Echt ein Wahnsinn, dass ich nicht auf Anhieb weiß, wie alt meine Oma ist. Pervers! Nein, typisch! Typisch unsere Familie. Okay, jetzt wird die Straße wieder besser, schöner. Und schön sind auch die Blumen. Selbst wenn sie nach nichts riechen, Oma wird sich freuen. Ganz bestimmt. Oma hat sich überhaupt und immer über die Dinge gefreut, die sie von mir bekommen hat. Wie damals, in der Volksschule, über diesen selbstgemachten Aschenbecher aus Ton. Dabei hatten weder sie noch Opa, der damals noch lebte, je geraucht. Aber Oma hat sich gefreut. Richtig gestrahlt hat ihr Lächeln, ich seh’s direkt vor mir. Hm, es ist schon komisch, ich war ihr mal so nahe. Und jetzt? Jetzt hab ich fast Angst. Angst davor, wie es ihr geht, wie sie aussieht, wie sie beisammen ist. Ich habe Angst davor, nichts mit ihr reden zu können, keine Gemeinsamkeiten mehr zu haben. Und das, obwohl ich ein Viertel ihrer Gene in mir trage. Scheiße! Das ist echt krank! Dabei hat sie mich immer als einzige verstanden oder zumindest versucht, mich zu verstehen. War zwar streng, aber auf die ihr eigene Art. Sie sagte mal, ich sei genauso ambitioniert wie sie in ihrer Jugend. Ambitioniert! Großmutter verwendete nie Fremdwörter und dennoch war sie es, die mir das Wort „ambitioniert“ erklärte. Und immer, wenn es Streit mit meinen Eltern gab, war sie für mich da. Aber damals war sie noch stärker, gesünder. Hatte Großvater. Ja, an ihm hing sie sehr. Wir konnten über alles reden. Na, fast alles. Über Sex und das Rauchen und das Trinken redete ich mit Oma natürlich nicht. Obwohl ich mir schon öfters von ihr Geld borgte um mir damit Zigarette zu kaufen. Oder Kondome. Ich bin mir fast sicher, dass sie wusste, wofür ich das Geld brauchte und dennoch steckte sie mir gelegentlich was zu. Ja, Oma und ich waren Verbündete. Und jetzt? Jetzt habe ich Angst, nicht mehr mit ihr reden zu können. Sie nicht mehr zu kennen, als wäre sie eine Fremde. Ich habe Angst, was Falsches zu sagen, etwas, das ihr zeigt, dass wir getrennte Wege gehen. Dass ich gegangen bin. Und wenn sie wirklich so schlecht beisammen ist, wie Christa gesagt hat, dann will ich ihr diese Verletzung nicht erneut zufügen. Sie erinnern. Hm, sie hat immer so an mir gehangen. Wahrscheinlich weil sie eben nur Christa und mich als Enkelkinder hat. Und da ich der jüngere bin, war ich immer ihr Nesthäkchen. Ihr viel näher als Christa. Dabei will es die Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Christa mit ihrem Mann jetzt auf sie schaut. Sich um sie kümmert, sie pflegt. Seit Jahren. Und ich? Ihr Schatz? Ich bin gegangen, weiß jetzt nicht mal mehr, was ich mit ihr reden soll. Hab Angst, Oma in die Augen zu schauen. Schlimm.
Da ist sie ja, die Hofeinfahrt. Endlich. Und Markus steht ja auch schon vor dem Haus, scheint auf mich zu warten. Hoffentlich kein schlechtes Zeichen! Nun, dieser Hof zwischen den beiden alten Häusern, leicht angeschneit, alles grau in grau, ziemlich trist, das würde ja genau passen. So ein deprimierender Wintertag, das würde wirklich genau passen...
„Hallo Markus!“
„Servus Gerald!“
Wir schütteln uns die Hände.
„Na, wie geht’s euch?“
„Danke, es geht. Könnte besser sein. Wie geht es dir im hohen Norden?“
„Immer viel zu tun, viel Arbeit. Hatte unlängst sogar eine Urlaubssperre...“ Ich versuch mich jetzt einfach mit ein paar Karrierefloskeln drüberzuretten, sonst glaubt der alte paranoide Haudegen noch, ich wollte sie im letzten halben, ach, was red ich, im letzten dreiviertel Jahr nicht besuchen kommen. Was meint er? Und wieso gehen wir in sein Haus? Ah, hat sich Oma doch endlich überreden lassen umzuziehen. Das war ohnehin keine Lösung! Meine fast achtzigjährige Großmutter in ihrem eigenen kleinen, schäbigen, kalten Häuschen. Oder besser, ihrer Bruchbude. Zwar neben dem Haus meiner Cousine und ihrer Mannes, aber trotzdem! Das war ja keine Lösung. Vor allem jetzt nicht, im Winter. Wo Christa dann auch in der Nacht hin- und herlaufen müsste.
„Hi Christa! Wie geht’s dir?“
„Servus Gerald! Danke, es geht. Und dir?“
Ich entscheide mich jetzt wieder für den gleichen Sermon wie zuvor. Vermutlich ist das der Grund, warum ich so selten hier bin, in meiner Heimat, hier, wo ich aufgewachsen bin. Weil ich ständig ein schlechtes Gewissen habe. Weil ich weggegangen bin, weil ich Erfolg habe. Obwohl, sind sechzig Stunden Arbeit die Woche wirklich ein Erfolg? Na, zumindest lebe ich nicht so, wie die hier. In der Einöde, einem kleinen Kaff, nein, noch nicht mal im Zentrum des kleinen Kaffs, sondern außerhalb. In der Einöde der Einöde. Schlimm!
„Hat sich Oma endlich überreden lassen und ist zu euch rüber gezogen?“
„Ja, aber... erst vor einer Woche. Davor hat sie sich gewehrt bis zum Letzten! Sie wollte einfach nicht von drüben weg.“
„Jetzt ist es für dich auch ein bisschen leichter, oder, Christa?“
„Ein bisschen!“ Ihr Kopf sinkt zu Boden. Stille. Jetzt erschlägt mich die diffuse Bedrücktheit dieses Ortes förmlich. Die warme, verbrauchte Luft steigt mir zu Kopf, hier in dieser abgenutzten Wohnküche, die vielleicht mal in den frühen Achtzigern modern gewesen ist. Mit einem gewölbten, fleckigen Linoleumboden, billiger dunkler Furnier, einem tropfenden Wasserhahn... ja, haben diese Leute denn noch nie eine Ausgabe von „Schöner Wohnen“ in der Hand gehalten? Nein, jetzt tu ich ihnen Unrecht. Sie haben nicht viel Geld, keine guten Jobs, kümmern sich aufopferungsvoll um Großmutter... ich bin ein echtes Arschloch!
Markus bietet mir Tee an, ich sage ja. Obwohl ich eigentlich keinen Tee trinke. Eher Espresso oder Macchiato. Aber Früchtetee ist okay. Nein, kein Zucker. Danke.
„Wie geht es ihr? Schlechter?“, stoße ich direkt hervor.
„Na ja... sie ist... es hat wohl einen Grund, warum sie jetzt bei uns im Haus ist.“ Er wirkt gefasster als Christa.
„Sie hatte vor einer Woche wieder einen Anfall. Der Arzt musste kommen, mitten in der Nacht. Ihr was geben. Sie hatte wieder diese extremen Rhythmusstörungen. Die Medikamente werden immer stärker.“ Nun sinkt auch sein Kopf zu Boden.
Ich räuspere mich, frage, ob sie denn jetzt schlafe oder ich sie besuchen könne. Christa will mich an der Hand nehmen, zieht ihre aber wieder zurück, meint nur, dass Oma ein wenig verwirrt sei. Verwirrter als bei meinem letzten Besuch. Vor mehr als einem dreiviertel Jahr. Und wieder. Wieder habe ich das schlechte Gewissen eines Deserteurs kurz vor der Offensive. D-Day.
Dann gehen wir hoch, die alte knarrende Treppe rauf ins Dachgeschoss des Hauses. Markus bleibt unten in der Küche, schaltet den Fernseher ein.
Kurz vor der Türe hält Christa inne, dreht sich zu mir um, flüstert mir ins Ohr „Sie wollte dich unbedingt sehen. Ich glaube, sie spürt, dass es dem Ende zu geht. Nimm dir Zeit für sie.“
Erst jetzt fällt mir ein, dass ich die Blumen im Auto habe liegen lassen.
Langsam bewege ich mich in das kleine muffige Zimmer im Dach. Es riecht nach alten Leuten, hat diesen typischen Geruch vergangener Epochen, eines bereits gelebten Lebens. Riecht nach Erinnern und Vergessen, Hilflosigkeit und Unsicherheit, nach Krankheit und Scham. Da liegt sie. In der Ecke des kleinen Zimmers, mit ihrem grauen, dünnen Haar, ihre braunen, vom Schlaf getrübten Augen. Neben ihr am Nachtkästchen steht ein kleines Radio. Ein uraltes Radio mit Batteriebetrieb. Es ist jenes braune Radio, das sie schon damals hatte, als ich als kleiner Bub bei ihr am Schoss saß und wir gemeinsam immer die Fünf-Uhr-Nachrichten hörten. Ich erkenne es wieder. Christa deutet mir, näher zu kommen.
„Oma, schau, wer da ist. Der Gerald ist extra aus Deutschland gekommen um dich zu besuchen! Siehst du ihn? Komm rein, Gerald!“ Christas Handbewegung wird ungeduldiger.
Als ich etwa drei Meter vor Omas Bett stehe, mit dem kleinen, bei einer verdammten Provinztankstelle erstanden Blumenstrauß, huscht ein Lächeln über ihren Mund, ihre Augen blitzen kurz auf.
„Na, Oma, freust du dich, dass es der Gerald geschafft hat.“
Großmutters Augen werden glasig. Meine auch.
„Hallo Omi! Wie geht’s dir?“ Gut schaust du aus, hätte ich beinahe gesagt, doch dies wäre zu offensichtlich als eine Lüge entlarvt worden.
„Schau, wie sie sich freut! Sie weiß nicht einmal, was sie sagen soll!“, meinte Christa, auch mit Tränen in den Augen, „Ich lass euch beide alleine.“
Kaum ist die Tür geschlossen, setze ich mich ans Bett meiner Großmutter. Schaue sie an während sie auf diese aufrichtige und echte Art lächelt, mit der sie immer gelächelt hat. Leider hat Oma viel zu selten gelächelt.
„Servus Gerald.“, sagt sie und greift nach meiner Hand, drückt sie schwach.
Ihre Stimme klingt kräftiger als ihr Äußeres erwarten ließe, ihre feuchten Augen schauen mich aufgeregt an. Ich bin mir nicht sicher, wie gut sie noch sieht, auf dem Nachtkästchen liegen dicke alte Krankenkassenbrillen. Keine Ahnung, ob sie diese noch braucht oder sie ohnehin nichts mehr helfen.
Nun rutscht meine Großmutter im Bett ein Stück hoch, sie will sich mehr aufsetzen, mit mir auf einer Augenhöhe sein.
„Sind die für mich?“, fragt sie und starrt dabei auf die Blumen in meiner Hand.
Natürlich sind sie für dich, sage ich. Ich würde dich doch nicht ohne ein kleines Mitbringsel besuchen kommen, lüge ich Arschloch daher. Was ist nur aus mir geworden? Ich besuche meine geliebte, im Sterben liegende Großmutter und alles, was ich ihr mitbringe sind ein paar beschissene Blumen von der Tankstelle. Die ich, noch dazu, zuerst im Auto vergessen habe. Vielleicht ist das der Grund, warum ich so gut wie nie hierher zurück komme, weil ich nicht mehr in eine solch ehrliche und aufrichtige Welt passe? Ich suche nach einer Vase, in diesem Augenblick kommt Christa wieder herein, in der einen Hand mein Tee und der anderen eine kleine weiße Vase. Ich erkenne auch diese wieder, sie ist immer auf der Anrichte in Omas bescheidener Küche im Haus daneben gestanden. Allerdings waren nur selten Blumen darin.
Christa geht gleich wieder, ich betrachte zunächst die Blumen neben dem alten Radio, dann schaue ich zu Oma und frage sie erneut, wie es ihr gehe. Es geht, antwortet sie.
„Es geht besser, jetzt, wo du da bist!“ Sie lächelt und ihre Augen füllen sich erneut mit Tränen ob der Kindlichkeit ihrer Worte. Ich drücke fest ihre Hand, würde ihr am liebsten über das dünne Haar streicheln, ihr einen Kuss auf die Stirn geben. Aber das tun wir in unserer Familie nicht. Nicht mit Verwandten. Wir drücken einander bestenfalls die Hände. Und genau das tue auch ich jetzt.
Nach der anfänglichen Aufgeregtheit und Unsicherheit fühle ich mich bald wohler. Was aber viel wichtiger ist, Oma fühlt sich wohl. Als ich das Zimmer betrat und sie in ihrem kleinen Bettchen liegen sah, so zerzaust, so krank, dachte ich, es wäre kein Gespräch mit ihr möglich. Als würden mir die allerschlimmsten Stunden bevorstehen, der unweigerliche Abschied von einem geliebten Menschen. Doch jetzt, nach einer guten halben Stunde, haben wir beide sogar so etwas wie Spaß. Großmutters Ungläubigkeit ob meines Erscheinens hat sich gelegt, sie hat realisiert, dass ich hier bin. Leibhaftig. Sicher, zwischendurch bricht immer wieder die Emotion durch, erstickt ihre Stimme, lässt Tränen über ihre furchigen Wangen kullern. Aber, dennoch, die Stimme an sich klingt nicht mehr so brüchig wie am Anfang. Nicht, wie ich mir das von einem Menschen erwartet hatte, der alt ist, unter schweren Herzproblemen leidet und im Sterben liegt. Ach, vielleicht haben sich Markus und Christa getäuscht, die beiden sind ja schließlich keine Ärzte.
Meine Großmutter ist sehr interessiert an meinem Leben. Ja, ich arbeite viel. Ja, die Bezahlung ist sehr gut. Aber was hilft das einem, wenn man kaum die Zeit hat, das Geld auszugeben. Nein, Omi, ich hab derzeit keine Freundin. Nein, ich bin eben nicht mehr mit Katja zusammen. Wir haben uns auseinander entwickelt, vor gut einem halben Jahr Schluss gemacht. Tja, hat wohl nicht sein sollen... Ja, die Arbeit ist interessant, aber, na ja, der anfängliche Enthusiasmus ist verflogen. Jetzt ist es bloß noch ein durchschnittlicher überdurchschnittlich bezahlter Job mit hohem Stressfaktor und noch höheren Chancen, ihn bald zu verlieren. Verdammt! Hätte ich das jetzt nicht sagen sollen? Wird sie das nur aufregen? Ihr krankes Herz überfordern? Hm, es ist schon merkwürdig. Da sehe ich meine Großmutter so lange Zeit nicht, dann treffe ich sie unter solch dramatischen Umständen wieder und rede dennoch mit ihr, als wären keine zwei Wochen seit meiner Kindheit vergangen. Seit sie mir eine von diesen kleinen blauen Schokoladen zugesteckt hat, von der ich Mutti nichts sagen dürfte. Vertrauen und Wohlfühlen kennen anscheinend doch keine Vergreisung. Ja, liebe Oma, ich schau schon, dass ich beruflich nicht unter die Räder komme. Aber da ich derzeit keine Familie habe, ist es schon okay, viel zu arbeiten. Klar Oma, das weiß ich, dass ich im Büro wohl kaum eine Frau, meine zukünftige Ehefrau, kennen lernen werde, und nach einem zehn Stunden Tag mag ich auch nicht immer fortgehen. Ein Teufelskreis, wenn du so willst, ja, aber kein echtes Problem. Ich bin recht glücklich so, bin ja nicht einsam, nur alleine. Single halt. Obwohl, schön wäre es schon, jemanden zu finden, den ich so lieben kann wie du Opa geliebt hast.
Oje! Jetzt bricht sie in Tränen aus. Das wollte ich nicht! Aber da sieht man es, ich fühle mich in ihrer Gegenwart so wohl, dass ich glatt gesprächig werde. Mir nicht, wie beim Rest der Verwandtschaft überlege, was ich sage und was besser nicht. Ja, mit Oma rede ich anders als mit Christa und Markus vorhin, viel offener. Gestehe ihr Dinge leichter, Dinge, über die ich mit den Ruinen meiner Familie nie und nimmer reden würde. Oder könnte. Ich bin halt doch noch Omas kleiner Bub, das Nesthäkchen. Dem sie die blaue Schokolade zusteckt. Aber jetzt, da sie weint, so aufgeregt erscheint, werde ich traurig. Würde am liebsten mit ihr mitweinen. Ich kann aber nicht. Es hat Jahre meiner Kindheit und viel Anstrengung meines Vaters gebraucht um mir dieses weibische Getue abzugewöhnen. Und jetzt, jetzt geht es einfach nicht mehr so ohne weiteres. Stattdessen rücke ich näher an sie heran und streichle ihr die Stirn. Streichle ihr über das graue Haar und sage nichts. Lasse ihren Emotionen freien Lauf.
Und wieder sagt sie, wie dankbar sie ist, dass ich gekommen bin. Noch ein letztes Mal. Und drückt erneut meine Hand. Ganz fest.
„Aber Omi, was redest du denn? Ich werde dich noch viel öfter besuchen kommen, versprochen!“ In diesem Moment glaube ich wirklich daran.
„Nein, Gerald, das wirst du nicht. Ich werde bald... gehen...“ Ihre Stimme erstickt. Auch mein Hals schnürt sich zu. Denn obwohl Großmutter vermutlich Recht hat, so ist es doch unfassbar, das aus dem Mund der Betroffenen zu hören. Aber noch viel schlimmer ist es, ihre Angst und Verzweiflung zu spüren, übertragen von ihren klammen, dünnen, weißen Fingern auf meine.
„Aber Oma, red nicht so. Die Christa kümmert sich doch gut um dich und auch die Ärzte schauen auf dich. Sicher, du musst Medikamente nehmen, aber die helfen dir. Bestimmt!“ Ich versuche ihr über meine warmen und gut durchbluteten jungen Fingerspitzen Zuversicht und meinen Glauben an die moderne Medizin zu übertragen, weiß aber nicht, ob der Impuls angekommen ist. Da setzt sie sich ein Stück weiter auf, sieht mir in die Augen und meint beinahe gefasst „Nein, Gerald. Ich werde sterben. Bald schon. Sehr bald. Du musst wissen, ich hab dich immer so lieb gehabt, du warst einfach mein kleiner Engel. Und jetzt, jetzt bin ich so stolz auf dich, dass du deinen Weg im Ausland gehst. So stolz...“
Eine dicke Träne kullert erneut aus ihren Augen und verschwindet in einer Falte auf der Wange.
„Du hast dich schon immer gut um dich selbst kümmern können. Du konntest das, nicht so wie Christa. Nur sie und Markus haben sich in den letzten Jahren so rührend um mich gekümmert... dabei haben die beiden doch ihre eigenen Probleme. Würden vermutlich nicht mehr hier wohnen, wenn ich nicht wäre...“
Erneut drückt sie fest meine Hand und sieht mir schamvoll in die Augen. „Ich will den beiden das Haus nebenan vermachen. Und das Sparbuch, das ich drüben in der Kommode habe. Ich würde... ich würde dir so gerne auch etwas... aber ich hab sonst nichts...“ Wieder wird Omas Stimme von der Übermacht ihrer Traurigkeit und Scham erdrückt.
„Omi, bitte!“, sage ich aufgebracht, „Du... du wirst noch lange leben und...“
Mit der Bestimmtheit, die nur alten Sterbenden und jungen Kindern eigen ist, schüttelt sie den Kopf und fegt mit ihrem wehenden Haar alle Einwände beiseite.
„Nein, Gerald. Ich werde sterben. Schon bald... Ich weiß es!“
Ich kann es nicht fassen. Hat sie ihren Lebenswillen verloren? Mag sie nicht mehr? Ist ihr die Krankheit zu viel, hat sie keine Kraft mehr weiterzukämpfen? Ja Herrschaftszeiten, sieht sie denn nicht, dass es da noch viel gibt, wofür es sich zu leben lohnt? Selbst ich würde mich öfters blicken lassen, versprochen! Doch Großmutter ist erstaunlich beharrlich. Und warum spricht sie ständig von der Gewissheit, dass es zu Ende ginge? Fühlen Sterbende das wirklich? Wenn ich mich doch bloß an dieses Kübler-Ross Buch erinnern könnte. Es ist echt erstaunlich, wie gefasst meine Großmutter jetzt redet, so, als hätte sie das Leben bis in die kleinste Faser durchschaut und entmystifiziert.
„Aber... aber...“
„Kein Aber, Gerald! So soll es sein. Bald schon. Ich hatte ein schönes Leben und nun wird abgerechnet.“ Wovon, zum Teufel, redet sie? Ich versuche mich wie ein kleines Kind gegen das Gesagte zu wehren. Erkläre ihr, dass sie nur wieder Mut fassen müsse. Sie habe schon so lange mit dieser Herzschwäche gelebt, die Medikamente sprachen gut an, sie könnte noch einige schöne Jahre vor sich haben. Kurz zuckte ein Schmunzeln über ihre Lippen, dann legt sie den Zeigefinger darauf und gebietet mir still zu sein.
„Gerald, es liegt nicht mehr an mir. Jemand anders hat das entschieden. Und nun muss ich meine Schuld begleichen!“
„Was für eine Schuld?“, fahre ich sie an. Ist sie verwirrt?
„Du kennst die Geschichte, wie ich deinen Großvater kennen gelernt habe?“ Ich nicke.
„Ja, ich hab sie dir oft genug erzählt. Nur hab ich dabei ein bestimmtes Detail immer unterschlagen. Für dieses Glück musste ich etwas tun. Ich habe damals, in jenem Sommer vor mittlerweile fast sechzig Jahren, meine Seele frohen Mutes dem Teufel verkauft.“
Hätte ich in diesem Moment nicht auf ihre Worte geachtet, sondern nur ihrem Blick, ihrer Stimmlage und der Klarheit ihrer Worte Sinn beigemessen, ich hätte sagen müssen, Oma wäre ganz nüchtern und voll bei Verstand. Aber das? Teufel? Seele verkauft? Was soll denn das für ein Schwachsinn sein? Ich setze mich auf, ziehe mich ein Stück zurück – was sie merkt.
„Lieber Gerald, du weißt, dass ich immer ein gläubiger Mensch war. So wurde ich erzogen. In meiner Kindheit und Jugend habe ich täglich gebetet, ging jeden Sonntag in die Kirche. Ich habe auch euch immer dazu angehalten, selbst wenn ich später dann nicht mehr... dennoch habe ich immer an Gott geglaubt. Ich wusste, dass es ihn gab! Und wer an den Schöpfer glaubt, der muss auch an den Zerstörer glauben, seinen ewigen Widersacher. Den Teufel. Und er war es, der mich vor einigen Tagen heimsuchte und die Begleichung meiner Schuld einforderte!“
Würde ich jetzt nicht meiner Großmutter gegenübersitzen, ich würde an eine üble Halloween-Geschichte denken. Doch meine Oma scheint von der Wahrheit ihrer Worte vollends überzeugt. So klar, wie sie mir jetzt scheint, ist sie den ganzen Nachmittag über nicht gewesen, finde ich. Wenn man mal vom Gesagten absieht. Oder spinne ich auch schon? Ungläubig schüttle ich meinen Kopf.
„Schau Gerald, ich hatte damals, in jenem Sommer nach Kriegsende eine Freundin, Hedwig hieß sie. Sie war so schön und gescheit und immer adrett gekleidet. Die Männer liefen ihr hinterher, waren verrückt nach ihr mit ihrem wallenden blonden Haar, dem strahlenden Lächeln, den blauen Augen, sie war eine Bilderbuch-Arierin. Die Männer bestürmten sie mit Geschenken, und das damals, verstehst du? Wo es doch nichts gab. Sie liefen ihr wie kleine Schoßhündchen nach, ja prügelten sich sogar um sie. Öfter als nur einmal. Jedenfalls hatte auch ein gewisser Georg Gefallen an ihr gefunden.“
Ich unterbreche sie. „Großvater Georg?“
Sie nickt zustimmend und fährt damit fort, dass damals miteinander gehen hieß, Händchenhalten und sich bestenfalls küssen. Nicht mehr. Wirklich! Jedenfalls sah meine Großmutter diesen Georg und verliebte sich augenblicklich in ihn. Seine große hagere Gestalt, das schelmische Grinsen, das glänzende schwarze Haar. Umso schlimmer sei es dann gewesen, dass er nur Augen für Hedwig hatte. Ein Schoßhündchen mehr. Er beachtete Großmutter gar nicht. Und so sehr er meine Oma ignorierte, so wenig bedeutete er Hedwig. Ja, Hedwig war freundlich zu ihm, kokettierte mit ihm, ließ sich auf eine Limo einladen, aber sie hatte keine festen Absichten. Für Großmutter sei er aber der Eine gewesen. Sie hatte sich unsterblich in ihn verliebt. Und so oft sie es sich zuvor untersagt hatte, sich in Hedwigs Freunde zu verlieben, so wenig konnte sie das bei Georg. Doch er nahm sie einfach nicht wahr.
„Ich verzweifelte fast daran.“, stöhnt Großmutter, mit jenem geschichtlichen Schleier in den Augen, durch den sie die ganzen Zeit, all die Geschehnisse von damals wiedersah.
„Ich wollte diesen Georg als meinen Freund haben. Unbedingt. Also tat ich etwas, von dem ich nicht gedacht hätte, dass es je klappen würde. Ich ging in den Wald, oben, beim Kreuzeck. Du weißt, was sich dort befindet? Ja? Der Teufelsstein. Einer alten Legende nach habe der Teufel dort seine Fußspuren in einem alten schweren Felsbrocken hinterlassen, an den er im Mittelalter einmal gekettet gewesen sein soll. Und tatsächlich sind Hufspuren und ein paar Krallenabdrücke dort mitten im Fels zu erkennen. Jedenfalls bin ich dort hin und habe gebetet. Aber nicht zu Gott, nein. Ich habe darum gebetete, dass mir, egal welche Macht auch immer, helfen möge, das Interesse Georgs auf mich zu lenken. Ich sei bereit, alles dafür zu geben. Falls notwendig, auch meine Seele. Ich hatte es satt, immer nur Hedwigs einsame Freundin zu sein. Die zweite Wahl. Das Anhängsel. Nach einer Stunde oder so verließ ich den Teufelsstein. In den folgenden Tagen änderte sich nichts, Georg war noch immer hinter Hedwig her. Doch nach einigen Wochen verlor sie zunehmend das Interesse, wurde immer schroffer zu ihm und zeigte ihm immer deutlicher die kalte Schulter. Letztlich ließ er von ihr ab. Da ich immer um sie herum war, fing ich ihn auf. Und letztlich verliebte er sich in mich.“
Ich kann nicht fassen, was mir Oma da erzählt. Ich meine, die Geschichte macht sie, verglichen mit den Egoismen so manch heutiger Frau, zum Beispiel Katja, noch immer zu einer Heiligen, aber was mich wirklich irritiert ist, dass sie das alles zu glauben scheint. Fest davon überzeugt ist, dass der Leibhaftige oder Satan oder wer auch immer mitgeholfen hat, die Liebe ihres Lebens zu bekommen. Verrückt! Was soll ich tun? Ich versuche sie behutsam, aber doch nachdrücklich von der Absurdität dessen zu überzeugen. Vielleicht sei eben wirklich nur diese Hedwig seiner überdrüssig geworden und das sei es dann eben gewesen. Nein, jetzt muss ich aufpassen! Kann doch nicht meine sterbende Großmutter im Glauben lassen, sie sei für die Liebe ihres Lebens nur ein Restposten gewesen. Ein Lückenfüller. Nein, ich muss es anders formulieren... Oft sind Männer so von oberflächlicher Schönheit geblendet, dass sie wahre Schönheit, echte Liebe, gar nicht erkennen können. Erst, wenn sie wieder zur Besinnung kommen, sehen sie klar. Und verhalten sich richtig, der Liebe gemäß. Doch Großmutter wischte das alles mit einer Handbewegung weg.
„Gerald, wer an Gott glaubt, muss auch an den Teufel glauben. Und wenn Gottes Wege unergründlich sind, dann müssen das auch Satans Wege sein!“
Ich bin paff! Oma muss wirklich sehr verwirrt sein, dass sie sich das als wahr einredet. Das kann doch nicht sein! Ich versuche es erneut. Meine, dass es schon ein kurioser Zufall sei, dass sie ausgerechnet am Teufelsstein ihre Bitte vorgetragen habe und diese tatsächlich in Erfüllung gegangen sei. Halte ihr aber auch entgegen, dass sie dasselbe auch in einer Kirche getan haben könnte. Und dann wäre es eben Gottes Werk gewesen. Nein, sage ich, Opa Georg und sie seien einfach für einander bestimmt gewesen. Basta! Dieser vermeintliche Pakt mit dem Teufel sei jedenfalls kein Grund, jetzt den Lebenswillen wegzuwerfen.
Plötzlich schaut sie mich mit einer Klarheit in den Augen an, die mich fast bis auf den Grund ihrer Seele blicken lässt.
„Aber Gott hat mich nicht vor einer Woche heimgesucht!“
„Moment mal, Oma, meinst du ernsthaft? Der Teufel ist dir erschienen?“ Ich fasse es nicht.
„Ja, Gerald. Vor gut einer Woche suchte mich der Leibhaftige drüben in meinem Haus heim. Es war jene Nacht, in der ich meinen letzten Anfall bekam. Gleich danach. Seither wohne ich hier herüben. Ich halte es drüben, wo ich über fünfzig Jahre gelebt habe, nicht mehr aus.“
Ja, und ich halte das nicht mehr aus. Oma, bitte! Dir hat deine Fantasie eine Streich gespielt oder vielleicht der Stress, der einem Herzanfall voraus geht. Oder vielleicht hast du einfach nur schlecht geträumt. Das Unterbewusstsein verarbeitet jetzt vielleicht Dinge, die schon vor Jahrzehnten passiert sind und die einem gläubigen Menschen wie dir zu schaffen machen. Oma, bitte, es gibt so viele logische Erklärungen für das, was du glaubst, gesehen zu haben, dass...
„Schau Gerald“, meint sie plötzlich leise, „mir geht es nur darum, meinen Frieden mit der Welt zu machen. Als mir der Teufel erschien, sagte er mir, dass es Zeit sei zu gehen. Ich solle mich von der Welt verabschieden, meine letzten noch offenen Dinge verrichten. Es sei die Zeit gekommen, da er mein Versprechen an ihn einlösen will. Hm, wenn das stimmt und er mir sogar noch die Chance gibt, mit den Menschen um mich herum ins Reine zu kommen, dann kann Satan ja gar nicht so schlecht sein, oder?“
So absurd Omas Theorien sind, so logisch sind sie gleichzeitig. Zumindest formal. Ähnlich den Aktienkurse, die ich analysiere und die auch in sich geschlossen logisch und mathematisch sind. Erst, wenn man mit menschlicher Vernunft oder gar sozialem Gewissen heran geht, werden sie unlogisch, man denke nur an die perverse reziproke Korrelation von Arbeitslosenzahlen und Aktienindizes.
„Jedenfalls freut es mich, dass du es nochmals geschafft hast, Gerald. Tut mir leid, dass du den weiten Weg machen musstest, aber es bedeutete mir wirklich sehr viel.“ Erneut drückt sie fest meine schlaffe Hand, ich bin zu keiner Regung fähig. Mich enerviert Großmutters offensichtliche Verrücktheit gepaart mit der Zuversicht, dem plötzlichen Leuchten in ihren Augen. Einem Leuchten, das sie haben sollte, weil es ihr besser geht, körperlich. Doch tatsächlich geht es ihr nicht besser, ganz im Gegenteil. Wie sonst könnte sie sich auf den Tod freuen? Die Hölle! Bullshit! Satan? So ein Mist! Aber vielleicht ist auch das eine Art, dem Unvermeidbaren ins Auge zu blicken. Wenn Oma an den Teufel glauben will und ihr das die letzten Tage, nein hoffen wir Monate, vielleicht sogar Jahre, erträglicher macht, warum nicht? Sie ist ja im festen Glauben, der Pakt mit dem Teufel habe sich für sie ausgezahlt. Muss wohl einer jener schwer verständlichen Mechanismen sein, mit denen sich die Psyche auf das Sterben vorbereitet. Verdammt, ich hätte dieses Kübler-Ross Buch wirklich aufmerksamer lesen sollen. Was war die letzte Stufe? Akzeptanz?
„Gerald, ich danke dir. Mir tut es nur leid, dass ich nicht mehr habe, das ich verteilen kann. Wenn es soweit ist.“ Nun werden ihre Augen wieder glasig, das Leuchten weicht erneut der Scham, ihr Kopf sinkt nach unten, während sie redet. Ich drücke ihre Hand.
„Aber ich weiß, dass es dir gut geht, Gerald. Das beruhigt mich. Also habe ich vor zwei Tagen den Notar kommen lassen. Ich will alles noch zu Lebzeiten regeln. Wenn einem der Teufel schon persönlich die Chance gibt... ich hoffe, du verstehst, dass ich das Haus und das bisschen Geld, das ich habe, Christa und Markus hinterlassen möchte. Es ist nichts gegen dich, aber... die beiden haben ja selbst fast nichts...“
Mein Gott! Das belastet sie! Mein beschissener Erbteil. Wahnsinn!
„...Oma, bitte! Sag so was nicht! Du wirst noch lange nicht sterben. Und was das Erbe betrifft, ich bitte dich... die beiden haben sich jahrelang um dich, das Haus und das ganze Grundstück gekümmert. Ich... falls dich das beruhigt, ich habe kein Problem damit!“
Jetzt fängt Oma erneut an zu weinen. Sie kann nicht fassen, dass ich das verstehe. Dass ich ihr die Absolution dazu gebe. Für diesen weltlichen Ballast. Mir tut sie so leid. Dieses Bündel Haut und Knochen, da in dem muffigen kleinen Zimmer. Von düsteren Visionen des Unterbewussten geplagt, gequält. Als hätte sie nicht schon genug körperliche Schmerzen, kommt jetzt noch die Angst, dass sie mich enttäuschen würde. Wegen des Erbes! Warum nur fühlen sich alte Menschen immer an allem Schuld? Ihrem eigenen Leid, dem ihrer Umgebung, dem Unglück der Welt. Warum? Keine Ahnung. Doch Omas leise gehauchtes „Danke“ war letztlich das einzig Entscheidende.
Langsam gehe ich die knarrende Treppe hinunter Richtung Küche. Ich war fast anderthalb Stunden bei Großmutter. Habe dabei eingesehen, dass man alte Menschen nicht ändern kann. Und Sterbende nicht ändern soll. Man soll ihnen die letzten Tage so angenehm wie möglich machen, ob man das nun persönlich versteht oder nicht. In Omas Welt zählen nun wohl andere Dinge. Ja, ich scheine an diesem Nachmittag wirklich einiges verstanden zu haben, worüber ich mir früher nicht einmal Gedanken gemacht habe.
Ich betrete nachdenklich die Küche, Christa und Markus sitzen vor dem Fernseher, er schaltet sogleich den Ton leise, bleibt mit einem Auge aber noch immer an der Quizshow hängen.
„Na, wie war’s?“, fragt meine Cousine.
Ich erzähle ihnen von meinem Eindruck, dass man ihrem Körper die schwere Krankheit zwar ansieht, aber ihr Geist noch recht frisch wirkt. Wenn man mal von bestimmten Verwirrungen absieht. Dass ich mir vorgenommen habe, in zwei Wochen wieder vorbeizuschauen, dann eventuell sogar für ein langes Wochenende. Schließlich bringe ich noch Omas größte Angst zur Sprache, das Erbe.
„Ja der Notar war hier.“, meint Christa betreten, fast peinlich berührt.
Anscheinend denken die beiden gleich wie Großmutter. Haben Angst, dass ich irgendwelche Ansprüche stellen könnte, zu Unrecht. Und das sage ich den beiden auch. Sie verdienen das alles, keine Frage. Haben jahrelang auf Oma geschaut, sich um die beiden Häuser gekümmert, gemäht, die Bäume und Sträucher geschnitten, sich früher auch um die Hühner gekümmert... das alles geht in Ordnung. Letztlich biete ich ihnen sogar noch an, Geld zu schicken, wenn sie es brauchen sollten. Mann, ich bin so ein gönnerhaftes Arschloch!
Zu guter Letzt komme ich noch auf den Vorfall von letzter Woche zu sprechen. Satan.
„Sie hat dir diese Geschichte also auch erzählt?“, schüttelt Markus bleich seinen Kopf, schaltet endlich den Fernseher aus. Christa fährt verstört fort.
„Sie hat in letzter Zeit immer öfters von der Vergangenheit gesprochen... von ihrer Schulzeit, wie sie Opa kennen lernte... und plötzlich dann diese Geschichte.“ Christa ist schockiert. Ich kehre einmal mehr den Intellektuellen, den Studierten heraus. Sauge mir irgendwas aus den Fingern von wegen Strategien der Stressbewältigung. Ein bisschen was aus der Einführungsvorlesung aus Psychologie, schon Jahre her, und vermische das mit den winzigen Stückchen, die mir vom Kübler-Ross Buch noch im Gedächtnis geblieben sind. Kurzum: ich versuche die beiden zu beruhigen.
„...daher ist das vermutlich ihre Art, sich von der Welt zu verabschieden. Was sagt eigentlich der Arzt dazu? Habt ihr ihm von ihren Visionen erzählt?“
„Nein, natürlich nicht!“; schoss Christa hervor, „Der hätte die Oma doch glatt einliefern lassen. Und sterben will sie unbedingt zuhause, nicht in einem Krankenhaus.“
„Und auch der Notar hat da nichts gemerkt?“
„Nein! Schau sie dir an, sie ist zwar körperlich schwach, aber geistig noch sehr rege. Du hast doch eben mit ihr geredet, da käme keiner drauf, dass sie... na ja, ein wenig verwirrt ist.“
„Ja, ihr habt Recht. Für sie scheint das alles real zu sein... Apropos real. Wie schaut es körperlich mit ihr aus? Was gibt’s da für eine Diagnose?“
„Nach dem letzten Anfall? Hm, der Arzt meinte, einen weiteren schweren Anfall wird sie wohl nicht überstehen...“, Christa sah mich kurz an, ehe ihr Kopf wieder sank, „...keine Ahnung, wann...“
Als ich das einfache Haus mit seinem weißen, schneebedeckten Dach und der dünnen Rauchsäule aus dem Kamin in meinem Rückspiegel verschwinden sehe, fühle ich Erleichterung. Zum einen, weil ich diese bedrückende, kalte Gegend - meine Vergangenheit - wieder verlassen kann in Richtung meiner Gegenwart. Zum anderen, weil ich meiner Großmutter anscheinend einen wirklich großen Gefallen getan habe. Sie wollte mich noch ein letztes Mal sehen und mich um Verzeihung bitten. Nicht für etwas, das sie getan hat, sondern für etwas, das sie nicht tun wird können. Hm, wenn ich an den Frieden denke, den sie ausstrahlte, als ich ihr die Absolution zu dieser ganzen Erbgeschichte gab, wird mir schlagartig klar, dass man auch loslassen können muss. Darin war ich immer ganz schlecht. Noch vor zwei, drei Jahren hätte ich versucht sie zu überreden, dass das alles nur Hirngespinste seien. Ein ausgemachter Blödsinn! Ihr die Fantasie einen bösen Streich gespielt habe. Aber jetzt akzeptiere ich Omas Welt. Respektiere ihre Glaubenswelt mit den für mich schwer nachzuvollziehenden letzten Gedanken und respektiere gerade deshalb mich selbst auch ein Stück mehr. Vielleicht bin ich doch kein so großes Arschloch?
Es ist Abend, draußen ist es dunkel. Es schneit. Ehe Christa Großmutters Zimmer verlässt, vergewissert sie sich noch, dass die Gegensprechanlage, ein kleines Radiowecker-ähnliches Gerät am Nachttisch, auch betriebsbereit ist. Falls Oma was brauchte, kann sie direkt ins Schlafzimmer von Christa und Markus ein Signal absenden und sprechen. Wie bei einem Baby.
Durch das Fenster scheint das Hoflicht, wahrscheinlich arbeitet Markus noch im Freien. So wagt Großmutter ein paar Schritte ans Fenster. Christa schimpft immer mit ihr, wenn sie alleine herumspaziert, aber was soll’s? Sie hat ja nichts an den Beinen, sondern am Herzen. Und der Lunge. Und am rechten Knie. Aber das Knie gehört ja nur bedingt zu den Beinen, daher kann sie die paar Schritte ans Fenster ruhig riskieren. Was soll den passieren, so schlecht ist sie auch nicht beisammen. Daher setzt sie ihre Füße vors Bett, schlüpft in ihre alten, abgetragenen Patschen und richtet sich langsam auf. Wie steif sie geworden ist. Nicht bloß ihr Rücken und ihr rechtes Knie. Jedes einzelne Gelenk. Steif, vom vielen Liegen. Als hätte sie Erfrierungssymptome.
Vorsichtig setzt sie ein Bein vor das andere und geht, sich am Fußende des Bettes abstützend, zum kleinen Fenster. Ein Lächeln macht sich auf ihrem Gesicht breit, als sie das Schneegestöber sieht. Von Markus ist im Hof nichts zu sehen. Das Schneetreiben ist viel zu stark und durch das Licht des Scheinwerfers unmittelbar unter ihrem Fenster bekommen die umhertanzenden Schneeflocken so etwas Direktes, Intimes. Als tanzten sie nur für Großmutter. Eine heißkalte Nummernrevue der Natur.
Zur nur für Oma hörbaren Musik legt sich langsam wieder der Schleier der Erinnerung über ihre Augen. Erneut taucht sie in längst vergessene Zeiten ein, belebt alte und dunkle Kapitel. Sie kann nicht anders. Alles fing vor zwei Monaten an, mit dem Jahrestag. Nicht dem Hochzeitstag, den sie und ihr Mann Georg natürlich feierten. Nein, für Großmutter persönlich war der entscheidende Tag jener, an dem die beiden einander das erste Mal küssten. Der Tag, von dem an sie ein Paar waren. Hatte mit ihm doch alles angefangen. Oder besser, mit dem satanischen Pakt. Vor jenem Jubiläumstag hatte sich Großmutter in jedem einzelnen Jahr gefürchtet, erinnerte er sie doch an die schlimmste aller menschlichen Schulden. Vielleicht war es ein Fehler, denkt sie, zum ersten Mal in ihrem Leben mit jemandem über den Pakt geredet zu haben, immerhin hatte sie fast sechzig Jahre geschwiegen. Das Geheimnis für sich behalten. Aber die wiederkehrenden Alpträume, die Angst im Nacken, sie musste einfach jemanden einweihen. Brauchte Rat, auch wenn Christa sie für verrückt hielt. Und jetzt auch Gerald, ihr geliebter Enkelsohn. In Anbetracht der Erscheinung von letzter Woche, der Heimsuchung durch den Leibhaftigen, aber sicher kein Fehler. Ihr Ende steht kurz bevor. Zahltag.
Während Großmutter immer weiter in den hypnotischen Tanz der kristallenen Motten im Licht vor ihrem Fenster eintaucht, die Sogwirkung der Bewegungen sie immer mehr mitreißt, verschwimmt die Welt. Wo ist sie? Im Gestern, Heute, Morgen? Dem Diesseits oder Jenseits? Himmel oder Hölle?
Alte Zeiten tauchen immer deutlicher vor ihr auf. Jene Zeiten, in denen sie überglücklich und todängstlich zugleich war. Überglücklich, weil sie der Mann ihrer Träume liebte und auch bald heiraten würde. Und todängstlich, weil sie sich offensichtlich dem Teufel verschrieben hatte. Nie gedacht hätte, dass so etwas klappen würde. Doch es geschah. Tatsächlich!
Sie denkt zurück an jenen ersten gemeinsamen Winter mit ihrem Georg. Oder war es doch schon der zweite? Oder gar dritte? Zurück an jene kalten Nächte, in denen sie kaum etwas zu heizen hatten und auch mit dem Essen sah es oft schlecht aus. Sie wohnten damals in einer der Baracken am Rande der Bergarbeitersiedlung, wo auch Georg Arbeit gefunden hatte. Harte Arbeit. Körperliche Schwerstarbeit. Wenig Lohn. Aber fix.
Es war jene Zeit, in der sie aufhörte zu beten und sonntags in die Kirche zu gehen. Die Zeit, in der sie das Kruzifix aus ihrer kleinen Einzimmer-Wohnung entfernte, auch die Bibel räumte sie weg. Ganz nach unten, in eine Kiste unter dem Bett. Nicht, weil sie nicht mehr an Gott glaubte, nein! Von da an glaubte sie mehr als jemals zuvor an Gott! Aber sie hatte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und fühlte sich ihm irgendwie verpflichtet. Schließlich hatte er seinen Teil der Abmachung eingehalten. An jener Stelle in Großmutters Leben, wo Gott ihr nicht geholfen hatte, Satan aber schon, wäre es wohl ein doppelter Frevel gewesen, weiterhin scheinheilige Symbole Gottes um sich zu haben. Und an ihn zu beten. Diese Blasphemie würde Gott wohl noch mehr kränken als ihr Handel mit dem Teufel. Entsprechend durfte Gott keine weitere Rolle mehr in ihrem Handeln spielen. Sie verbot es sich schlicht, wollte ihn nicht weiter erzürnen.
Sicher, ihr Leben wäre vielleicht anders verlaufen, besser, wenn sie auch weiterhin Gott Platz in ihrem Glauben eingeräumt hätte. Immerhin, ihre Ehe dauerte über fünfzig Jahre, aber waren sie tatsächlich glücklich? Konnten sie ihren Kindern etwas bieten? Es hätte auf jeden Fall besser sein können, aber eben auch schlechter. Und hätte es den Pakt nicht gegeben, dann wäre Großmutter überhaupt nichts von alle dem gewesen. Zumindest nicht mit ihrem Georg, den sie damals so sehr wollte, mehr, als alles andere. Sogar mehr als ihre Freundschaft zu Hedwig.
Langsam schritt Großmutter wieder zurück zu ihrem Bett, gedankenverloren. Beinahe unbewusst. Waren sie und ihr Georg wirklich glücklich gewesen? Hatte ihr Mann in den frühen Sechzigern wirklich nur des Geldes wegen im Ausland gearbeitet oder auch, weil er weg wollte? Von ihr und der Familie? Hatte es die Probleme mit den Kindern nur deshalb gegeben, weil sie sich, als Mutter, von Gott abgewandt hatte? Zog Isolde, Geralds Mutter, deshalb so früh aus, weil sie sich unter einem Dach mit ihren Eltern nicht wohlfühlte? Sie immer stritten, ihr Mann vor allem Isolde immer schlug?
Großmutter setzt sich ans Bett, muss kurz rasten. Atmet tief ein und aus. Fängt an zu zittern. Zahltag. Das Ende ist nahe. Das fühlt sie, kann förmlich Pech und Schwefel riechen. Na, zumindest hatte sie ein erfülltes Leben. Fast ein glückliches. Und wenn schon kein glückliches, so doch jenes, das sie sich ausgesucht hatte. Die Gedanken an den Preis dafür schiebt sie weg wie die Bettdecke, unter die sie augenblicklich kriecht. Beruhigt sich wieder, verdrängt. Überzeugt sich selbst, dass es in ihrer Familie mehr gute als schlechte Tage gegeben hatte. Und selbst wenn dem nicht so war, sie hatte es Zeit ihres Lebens so sehen müssen. Um den im Hintergrund schwelenden Pakt mit dem Leibhaftigen einigermaßen erträglich zu machen. Nicht verrückt zu werden. Aber sie war selbst schuld. Sie hatte damals, an jenem Tag am Teufelsstein, ja nur darum gefleht, mit Georg zusammenzukommen. Dass er sich in sie verliebte. Von wahrer Liebe oder gemeinsamem langanhaltendem Glück hatte sie damals nicht gesprochen. Leider. Denn der Teufel ist ein gar gerissener Geselle...
Ein scharrendes Geräusch weckt Großmutter aus dem leisen Schlaf eines alten Menschen, der Tag ein Tag aus das Bett hütet. Wie spät ist es? Sie dreht sich um, richtet ihren Blick auf die Digitalanzeige auf der Gegensprechanlage. 3:12 Uhr. Wieso sind diese Nächte immer so lang, so unendlich...
Erneut hört sie das Kratzen. Und ein schwacher Lichtschein kommt vom Fußende des Bettes her. Sie dreht sich ein Stück Richtung Fenster, da zuckt sie zusammen. Der Schreck fährt ihr in die Glieder, ihr Hals schnürt sich zu, ihr Herz wird wieder schwer. Wie ein Pflasterstein, der sich am liebsten aus ihrem Brustkorb sprengen möchte.
Am Fußende ihres Bettes, neben dem Fenster mit all seiner Dunkelheit dahinter, sieht sie sie! Oma beginnt zu weinen, zieht sich die Decke über das Gesicht. Da hört sie die schweren Schritte. Sie kommen auf sie zu. Großmutters Sinne sind plötzlich geschärft, wie die eines jungen, erschreckten Mädchens auf der Flucht.
„Nimm die Decke weg!“, fordert sie eine tiefe, boshafte Stimme auf. Im Hintergrund ist satanisches Gelächter zu hören. Sie reagiert nicht. Erneut fordert sie die Stimme auf, die Decke wegzunehmen.
Vorbei ist es mit Omas Nüchternheit und Abgeklärtheit den teuflischen Pakt betreffend. Nun hat sie bloß noch Angst, panische Angst. Wagt nicht, erneut in die Gesichter der Dämonen zu blicken. Doch nach der dritten Aufforderung wagt sie es noch weniger, sich den Teufeln zu wiedersetzen. Vorsichtig schiebt sie die Decke ein Stück nach unten und blickt ihnen direkt ins grausame Gesicht. Zwei Ausgeburten der Hölle, Skelettgesichter, mit langen, aschfahlen Haaren bis an die Schultern. Der eine ein weißes Knochengesicht mit ebensolchen Haaren und schwarzem Umhang. Er trägt, wie der Dämon neben ihm mit der grün skelettierten Fratze und dem gleichfarbigen Haar, eine lange Kerze. Beide stehen vor dem Bett von Oma, wie zwei Hohepriester auf einer Prozession des Bösen.
„Bist du bereit mit unserem Herren zu gehen? So werde ich ihn holen, auf dass er dich mitnehme!“ Die grüne Fratze dreht sich weg und geht zur Tür hinaus, während das dämonische weiße Grinsen, die verkörperte Boshaftigkeit mit seiner Kerze bei Oma im Zimmer bleibt. Und satanisch feixt.
Obwohl sich Oma kaum bewegen kann, förmlich starr in ihrem Bett liegt, schwitzt, um Atem ringt und von ihrem Körper nichts mehr spürt außer ihrem schmerzhaft rasenden Herz, versucht sie ihre Hand zur Gegensprechanlage zu bewegen. Während der Dämon am Fußende noch immer grinst und mit seinen weißen Krallen nach Oma giert, gelingt es ihr, den Rufknopf zu drücken. Das rote Lämpchen leuchtet auf, ein Signalton wurde ins Schlafzimmer von Christa und Markus abgesetzt. Da schnappt der Dämon plötzlich nach ihrer Hand, schlägt ihr auf die Finger.
Ein gutturaler Laut entkommt Oma, die ihre linke Hand sofort unter die Decke zurückzieht und spürt, wie diese langsam taub wird. Erneut ein Anfall.
In der Dunkelheit verschwimmt langsam das Zimmer vor Omas Augen, nur schemenhaft kann sie wahrnehmen, dass sich plötzlich wieder etwas im Raum tut. Der Dämon zu ihren Füßen fällt auf den Boden, auf seine Knie, als eine rote Gestalt den Raum betritt. Auch wenn ihn Oma nur mehr aus den Augenwinkeln heraus sieht, er ist es wieder. Satan. Wie damals, vor einer Woche. Nur diesmal in Begleitung seiner Höllenbrut. Schwach hört sie ihn etwas sagen, dann wird das Dunkel ihres Zimmers schwarz.
Als Christa früh morgens Großmutters Zimmer betritt, schnürt sich ihr der Hals zu. Verkrümmt liegt Großmutter in ihrem Bett, halb zugedeckt, eine Hand hängt aus dem Bett, die Gegensprechanlage auf den Boden gefallen. Ihre Augen weit offen, die Lippen blau angelaufen.
„Oh mein Gott!“, entfährt es Christa. Ängstlich schleicht sie sich ans Bett.
„Oma? Was ist los mit dir? Bist du... Hattest du wieder einen Anfall?“
Die Frage beantwortet sich von selbst. Die blauen Lippen, das flache Atmen, die Lethargie, alles eindeutige Anzeichen.
„Hast du denn nicht nach uns gerufen?“, will Christa wissen, beim Blick auf die am Boden liegende Gegensprechanlage.
„Wir haben nichts gehört!“, meint Christa entschuldigend und stellt das Gerät wieder auf das Nachtkästchen. O doch. Oma hat um Hilfe gerufen, den Signalknopf mehr als einmal gedrückt, sogar in die Anlage gewimmert. Aber wenn teuflische Kräfte am Werk sind, verweigert selbst die moderne Elektronik ihre Funktion.
Christa ruft verzweifelt nach Markus, er solle doch schnell kommen. Die Medikamente mitbringen. Doch es dauert, bis er erscheint. Auch er wirkt verstört beim Anblick der alten Frau im Bett, wie sie so daliegt. Kreidebleich, mit blauen Lippen und Fingerspitzen, dem Tod näher als dem Leben. Sogleich holt er den Blutdruckmesser. Der Blutdruck ist niedrig. Sehr niedrig. Sie muss jetzt unbedingt ihre Medikamente einnehmen, doch Oma weigert sich. Sagt nichts, nicht einmal ihre Augen bewegen sich. Sie liegt einfach nur da und verschließt sich.
Was sollen wir tun?, fragen sich Christa und Markus mehr als einmal. Den Arzt rufen? Die Rettung? Oma müsse unbedingt ihre Tabletten nehmen, unbedingt! Sie hat schließlich einen Anfall gehabt. Doch Großmutter weigert sich. Still und leise, ohne eine Regung weigert sie sich. Sie verweigert sich den Tabletten, dem Trinken, dem Essen. Sie hat mit ihrem Leben abgeschlossen. Selbst beim Waschen, was sie sonst immer selbst versucht, aus Scham, gibt es keinen Widerstand. Nicht einmal einen Ansatz. Sie lässt es mit sich geschehen. Auch als Christa und Markus sie neu betten, lässt sie ihre Gliedmaßen baumeln. Wie eine menschengroße Gliederpuppe lässt sie sich heben und legen. Beweglich, aber ohne Leben. Schließlich stellt sie Markus vor die Wahl. Sie müsse wenigstens etwas trinken, sonst werde er auf der Stelle die Rettung rufen und sie ins Krankenhaus bringen lassen. Das Wort „Krankenhaus“ dringt leise zu ihr durch, instinktiv versteht sie und lässt sich wenigstens Tee einflößen. Ein Tasse über den ganzen Tag verteilt.
Großmutter hat mit dem Leben abgeschlossen. Sie hat mit allem abgeschlossen, selbst mit dem Fühlen und Denken. Ist sie gestern Abend noch froh gewesen, sich mit ihrem Enkelsohn Gerald ausgesprochen zu haben, das letzte Unerledigte geklärt zu haben, ist diese Erleichterung und Beruhigung jetzt verflogen. Uralte Vergangenheit. Sie fühlt gar nichts mehr. Das einzige, was einer Empfindung am nächsten kommt, ist Angst. Die Angst vor dem, was bald kommen mag sie zu holen. Aber auch diese Angst ist nicht greifbar, dazu hat sie ihr Empfinden bereits zu weit eingestellt. Sie fürchtet sich nicht einmal mehr vor der nächsten Nacht. Denn sie denkt und fühlt nicht mehr in Sätzen, ja nicht einmal mehr in Worten. Nur mehr in blassen Schemen. Dumpfen, tauben, weit entfernten Umrissen. Schattenspielen der Angst. Teufelssteinen des Grauens. Scherenschnitten der Hölle.
Christa und Markus stehen an diesem Tag öfters als üblich an Großmutters Bett, beraten sich. Wenn sie morgen noch genauso beisammen sei, werde man sie wohl einliefern lassen müssen. Wenn sie weiterhin nichts esse und trinke. Und ihre Medikamente nicht einnähme. Großmutter spürt nur mehr entfernt, wie sie gelegentlich berührt wird, kann aber nicht sagen, wo und wie lange. Und warum.
Dann kommt die Nacht. Erneut. Das Grau des Tages wird vom Grauen der Nacht abgelöst. Aber Großmutter ist zu diesen Unterscheidungen nicht mehr fähig. Nur mehr ihr schwacher Körper scheint da zu sein, ihr Geist hat sich an einen unbekannten Ort zurückgezogen. Die einzige Verbindung zur Außenwelt sind die farblosen Schatten vor ihren Augen, die sie verschwommen wahrnimmt und die dumpfen Geräusche, die wie ein leises Echo der Wirklichkeit an ihre Ohren dringen, nicht jedoch an ihre Seele. Ihr Geist ist bereits zu weit entkörperlicht. Und so liegt sie da, in ihrem Bett, zugedeckt, mitten in der Nacht. Oder ist es erst später Abend? Großmutter stellt sich diese Frage nicht, sie stellt sich überhaupt keine Fragen mehr.
Und das ist gut so. Denn sonst müsste sie sich die Frage stellen, warum plötzlich ihre Decke nach unten gezogen wird. Woher plötzlich wieder dieser rote Lichtschimmer am Fußende kommt. Sie müsste sich sonst fragen, weshalb dieser grüne Totenschädel mit den langen dünnen Haaren zu ihren Füßen so teuflisch grinst und mit seinen weißen Krallenfingern nach ihr giert. Sie müsste sich fragen, woher das Gestöhne von Frauen und Männern käme, die lustvollen Schmerzensschreie einer satanischen Orgie. Auch müsste sie sich fragen, woher die verzerrte Musik, die grässliche arhythmische Symphonie der Hölle käme und warum das alles außer ihr keiner in diesem Haus wahrnimmt, obwohl die Gegensprechanlage auf Babyfon-Funktion eingestellt ist. Aber all das fragte sie sich nicht. So nimmt sie auch nicht wahr, wie ihr Herz rast, ihr linker Arm erneut taub wird und sie immer schwerer Luft bekommt. Sie liegt einfach nur da und wartet. Auf ihn. Der jetzt in der Tür erscheint. Mit schwarzer Kapuzenrobe und diabolischem Grinsen, für sie bloß noch verschwommen als rote Fratze erkennbar. Sich langsam auf sie zu bewegt um sie zu holen. Und als er gemeinsam mit dem grünen Totenkopf vor ihr steht und beide aus satanischen Leibeskräften bestialisch brüllen und schreien, wird ihr schwarz vor den Augen. Ein letztes Mal meldet sich das Leben in ihrem Körper, nur um sich von ihr zu lösen, auszubrechen in Form brennender Schmerzen ihres kranken Herzens.
Großmutters Leben läuft noch einmal im Zeitraffer ab. Ihre Kindheit, der Weltkrieg, die Jugend, Hedwig, der Teufelsstein, Georg, der erste gemeinsame Urlaub, die Geburten ihrer Kinder, die Streitereien, das Versöhnen, die Enkel, das Alter, das Sterben der Tochter, der tödliche Unfall des Sohnes, die eigenen Krankheiten, der letzte runde Geburtstag, Georgs Tod, Geralds letzter Besuch, die satanische Musik, das Gestöhne und Geschrei, die beiden Teufel an ihrem Bett. Zahltag.
Ich mochte meine Großmutter sehr. Ich mochte sie wirklich, ja ich liebte sie. Leider hab ich ihr das nie gesagt. Als ich das letzte Mal diese schäbige Straße entlang fuhr, vor einer Woche, hatte ich auf dem Beifahrersitz neben mir einen kleinen Blumenstrauß liegen. Gekauft in der Tankstelle bei Frau Kerstinger. Und jetzt? Jetzt habe ich keine Blumen dabei, obwohl ich ihr morgen ein letztes Mal welche schenken werde. Eine einzelne rote Rose. Ich werde sie auf ihren Sarg fallen lassen zusammen mit einer kleinen Schaufel Erde als Zeichen der Dankbarkeit. Hätte ich meine Dankbarkeit früher bekundet, als es ihr noch besser gegangen ist, ach was, einfach zu ihren Lebzeiten, würde ich mich jetzt vielleicht nicht so mies fühlen. Hm, dabei weiß ich gar nicht, ob das der Schmerz des Verlustes ist oder nur mein eigenes schlechtes Gewissen. Das Wissen, Oma nie mehr die Hand halten zu können, mit ihr zu reden... ich bin ja so ein egoistisches Arschloch! Da stirbt Oma und nicht die Trauer beugt mich, nein, es ist bloß mein beschissenes schlechtes Gewissen. Wahnsinn!
Da bin ich endlich. Schaut aus wie vor einer Woche. Vielleicht ein bisschen weniger Schnee, aber die Tristesse ist die selbe. Der dünne Rauch aus dem Schornstein. Ich werde mich sicher mal einäschern lassen, aber Oma wird ganz normal beerdigt. Das wollte sie so. Ich gehe zur Haustür, Christa öffnet, sie sieht schlecht aus. Ich erschrecke fast. Omas Tod hat sie ordentlich mitgenommen. Wir gehen in die Küche, ich begrüße Markus, auch er sieht nicht gut aus. Sie bieten mir Tee an. Ich sollte ihnen mal eine Espressomaschine schenken. Arschloch! Mir geht es gut... na ja, den Umständen entsprechend. Wie geht es euch? Ach, es ging schnell? Innerhalb eines Tages? Sie hatte wieder einen Anfall in der Nacht? Ich hoffe, sie musste nicht allzu lange leiden. Danke, kein Zucker. Kann ich euch irgendwie helfen? Wirklich? Oma hat alles geregelt, damals, als der Notar da war? Wahnsinn! Ich bewundere Oma, wie sie offenen Herzens, ja fast frohen Mutes dem Tod ins Antlitz geschaut hat. Ich stelle es mir zumindest ähnlich heroisch vor, damit ich kein noch schlechteres Gewissen habe. Meine Oma, die Heldin. Deren Leid ich nur so wegschieben kann. Was sagst du, Markus? Ja, ich möchte noch einmal in ihr altes Haus rüberschauen. Sicher, es wird ja jetzt doch für immer anders sein. Was habt ihr eigentlich mit dem Haus vor? Verdammt, wieso frag ich das? Die beiden haben jahrelang neben Oma gewohnt und auf sie geschaut, und dann, keine zwei Tage nach ihrem Tod, komm ich mit einer solchen Frage daher. Streng rational. Der Börsenexperte. Ein Mann von Welt. Super-Arschloch!
Danke für den Schlüssel, Christa. Ich geh mal rüber, werde mich auf diese Art ein letztes Mal verabschieden. Von Oma, meiner Jugend, von meiner Vergangenheit. Nein, ihr braucht nicht mitkommen. Danke. Das ist mein ganz persönlicher Abschied. Von allem hier. Auch von euch. Ihr wisst es nur noch nicht. Ab jetzt habe ich endgültig nichts mehr, weshalb ich hierher zurückkommen müsste. Nicht mal mehr einmal alle dreiviertel Jahre. Es ist vorbei. Uralte Vergangenheit. So gehe ich. Schließe die Haustür hinter mir und mache mich auf den Weg zum Haus daneben, wo Oma wohnte, so lange ich sie kannte. Mit derselben alten Anrichte wie früher, wo immer das Radio darauf stand. Das Radio mit Batteriebetrieb. Und wir gemeinsam die Fünf-Uhr Nachrichten hörten.
Christas Augenringe sind tief, ihren Kopf hält sie ausgelaugt auf den zittrigen Unterarmen am Tisch abgestützt. Starrt ins Nichts. Markus stellt sich neben sie, nachdem er Gerald durch das Fenster nachgeschaut hat, streichelt ihr über das Haar. Langsam weicht sie zurück, entzieht sich seiner aufmunternden Geste. Er versteht, lässt sie alleine, verschwindet im Nebenzimmer.
Eigentlich ist jetzt eine ganz schlechte Zeit, denkt er sich, aber was gemacht gehört, gehört gemacht. Warum also nicht jetzt? Er hat ohnehin zu lange gewartet. Er hebt eine Tasche auf das Bett, öffnet sie, um sich noch ein letztes Mal zu vergewissern, dass alles drinnen ist. Da erscheint Christa in der Tür. Sie blickt ihn eisig an, erstarrt für den Bruchteil einer Sekunde, ehe sie sich umdreht und wieder verschwindet.
Markus wird gleich, jetzt gleich, die Tasche in den Heizraum runter bringen und noch an diesem Abend alles, die ganze verdammte Tasche, in den Kohleofen werfen. Aus und vorbei! Ein letztes Mal blickt Markus in die alte Sporttasche. Ja, es ist alles drinnen. Die rote Glühbirne, die Death-Metal-CD, die Videokassette mit dem Gruppensex-Porno, die zwei schwarzen Umhänge, einer mit Kapuze, die zwei Paar Krallenhände aus Latex sowie die beiden Skelettmasken, eine in weiß, die andere in grün mit gleichfarbigen langen Haaren, zum Fürchten. Und natürlich die rote, diabolisch grinsende Satansmaske, ebenfalls aus Latex.
© Dezember 2005 Rene „freaky“ Mayer