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Zahltag
Carsten Obermeier war noch lange nach Ladenschluss allein im Geschäft und prüfte die Bücher. Durch die erfolgreiche Geschäftsidee seines Vaters hatte er es bereits geschafft, bevor er überhaupt geboren war. Sein Wohlstand war immens für die Verhältnisse der kleinen Stadt, in der er lebte. Seine zwei Autos waren groß, schwarz, neu und führten Ringe im Wappen. Betten-Obermeier warf genug ab, um nicht eine Oberklasse-Limousine mit dem Arme-Leute-Auto eines französischen oder chinesischen Herstellers kombinieren zu müssen, wie es so viele taten, die gerade genug Geld für das Wohlstandssymbol „Zweitwagen“ hatten und dann bei der Wahl dieses Luxus-Gutes zur Katzengold-Variante griffen.
Aber allen Sicherheiten zum Trotz schlief Carsten nicht gut. Sicher, er hätte es schon verdammt verbocken müssen, um irgendwann auf der Gehaltsebene einiger seiner ehemaligen Mitschüler anzukommen, die Lehrer geworden waren oder mit einem Gammelstudium die Jugend verlängert hatten, bis es zu spät gewesen war, den Fuß in die Tür irgendeines halbwegs vernünftigen Unternehmens zu kriegen. Aber war die Geschichte des Unternehmertums nicht voll von Leuten, die es gewaltig verbockt hatten, meist, weil sie betrunken vom exzessiven Konsum der Früchte ihres Erfolges die Bücher aus den Augen verloren hatten?
Die Bücher! Niemals würde Carsten Obermeier ihre in Zahlen verfassten Verse ignorieren. „Spießer“ und „Bonzenkind“ hatten sie hinter seinem Rücken geflüstert, als es cool gewesen war, die Haare wie die quäkenden Halbmenschen im Musikfernsehen zu tragen. Heute lachte er innerlich bei dem Gedanken, wie die ach so coolen Leute von damals mit ihrem Diplom in Theaterwissenschaften bei Bonzen und Spießerkindern wie ihm hausieren gingen, um nicht mehr von der Stütze leben zu müssen. Jetzt, wo vielen die Haare eh ausgingen, die Hintern fetter wurden, die ersten Titten anfingen zu hängen und sie alle feststellen mussten, ja, es stimmt wirklich, wie man sich bettet, so liegt man.
Carsten gratulierte sich selbst zu seinem gelungenen Wortwitz. Immerhin verkaufte er Betten, haha. Und das wieder einmal einen ganzen Monat über recht erfolgreich, wie er nun nach dreimaligem Nachrechnen mit seinem 200 Euro-Füller zufrieden auf einem Schmierzettel notierte. Eine schöne, schöne Zahl. Er würde für Nien-Tin und Swetlana jeweils eine funkelnde Kleinigkeit besorgen, und zum Dank würden sie ihn um den Verstand blasen, so wie damals, als …
Jemand am Eingang winkte ihm. Betten-Obermeiers Außenbeleuchtung fuhr so lange nach Ladenschluss bereits auf halber Kraft. Carsten konnte nur schemenhaft Gesichtszüge erkennen. Der Größe nach stand da ein Kind im Grundschulalter, Jahre vor der Pubertät. Das harte Kinn jedoch und die auch sonst eher scharf gezeichneten Linien erinnerten an einen alten Mann.
Carsten winkte zurück. Kein freundliches „Hallo“-Winken, sondern ein „Kusch-Kusch“-Winken, so als würde er Tauben verscheuchen. Der kleine Mann nahm den Arm runter, und soweit Carsten das erkennen konnte, erstarb ein fröhliches Grinsen auf seinem Gesicht.
Carsten schüttelte den Kopf. „Spinner“, flüsterte er. Er kam nicht umhin, sich einen kalten Schauer einzugestehen. Als Kind hatte ihm mal ein Liliputaner-Clown in einem Zirkus eine Heidenangst eingejagt. In seinen Alpträumen hing der kleine Faxenmacher noch heute manchmal an einem Flugzeugmodell in seinem Zimmer, schwang daran hin und her und rief „Huiiiiiii!“
Bis er schließlich das Modell losließ und sich auf sein vor Schreck erstarrtes Opfer stürzte. Das Letzte, was Carsten immer sah, bevor er mit panisch schlagendem Herzen und einem kalten Schweißfilm auf der Stirn erwachte, waren die Augen, weit aufgerissene rote Murmeln, durch die schwarze Blitze zuckten. Und natürlich die Zähne. Mein Gott, diese Zähne, durch die eine bösartige, tiefe Stimme kicherte: Ich werde dir die Beine abbeißen, und dann bist du, mein kleiner Freund, wirklich mein kleiner Freund, und zwar für immer und immer und immer.
Jemand klopfte an die Scheibe. Carsten schrie auf und warf vor Überraschung seinen Füller in die Luft. Das teure Stück drehte sich ein paar Mal um die Längsachse und landete mit der Feder zuerst auf dem Parkett.
Carsten atmete heftig. Der Schreck war jetzt vergessen, ebenso wie der kleine Monster-Clown seiner Kindheits-Alpträume. Er hob seinen Füller auf, wickelte fluchend ein Taschentuch um die tropfende Mine und spürte die Wut in sich aufsteigen, die ihm immer dann den Puls rasen ließ, wenn sein Eigentum respektlos behandelt wurde.
Als Carsten die Feder aus dem Taschentuch zog, sah er, dass noch immer Tinte daraus tropfte. Ein sicheres Zeichen, dass sie einen bleibenden Schaden davon getragen hatte. Eine Zornesträne stieg ihm ins linke Auge.
„Wir haben geschlossen, du Arschloch“, zischte er, während er zur Eingangstür stapfte wie ein zorniges Nashorn. Carsten war nicht so fett, wie seine Figur in Kindheitstagen hätte vermuten lassen, aber er war auch weit von seinem Idealgewicht entfernt mit seinen hundert Kilo, die der liebe Gott nicht weiter hatte aufschichten wollen als zu einer Höhe von deutlich unter eins siebzig. Er war so außer sich vor Zorn, dass er vergaß die Beleuchtung vor dem Laden auf volle Kraft zu stellen, bevor er hektisch die diversen Schlüssel im Schloss herumgedrehte und die Tür aufriss.
„Was soll …“, schrie er. Die Kraft wich aus seinen Beinen. Zwar stand vor ihm … unter ihm nicht der Alptraum aus seiner Kindheit, aber doch etwas, das dem so nahe kam, dass es Carsten Obermeier, dem diplomierten Kaufmann, die Sprache verschlug.
Es sah aus, als hätte jemand den Weihnachtsmann gestaucht, ihn in einen strengen schwarzen Geschäftsanzug mit rosa Hemd und passender gestreifter Herrenkrawatte gesteckt und dann eine Bommelmütze aufgesetzt. Handschuhe trug der Mann nicht. Er rieb sich die großen, faltigen Hände, die mit ihren teilweisen Abschürfungen in Carstens Augen verdächtig nach Arbeiterklasse-Händen aussahen.
„Meine Güte, ist das kalt“, jammerte der kleine Weihnachtsmann mit einer Stimme, die so tief und dunkel, fest und maskulin klang, dass es sich anhörte, als würde er sich über die Kälte beschweren, nur um etwas gesagt zu haben. Seinen Mund sah man nicht, während er sprach. Sein Bart, für einen Weihnachtsmann noch etwas zu braun, bewegte sich. Nur daran konnte Carsten erkennen, dass sein Gegenüber kein Bauchredner war.
„Was wollen Sie?“, fragte Carsten und klang dabei nicht so streng, wie er gehofft hatte.
„Können wir vielleicht erst einmal reingehen, Carsten, ich hole mir hier draußen sonst wirklich noch eine Erkältung“, jammerte der kleine Weihnachtsmann.
„Was … Woher kennen Sie meinen Namen?“, fragte Carsten.
„Carsten, bitte, das ist doch jetzt nicht wichtig …“
„Herr Obermeier für Sie“, sagte Carsten, und seine Stimme überschlug sich dabei.
Der zu kleine Weihnachtsmann breitete seine Arme aus, mit den Handflächen zum Himmel zeigend, und sah stöhnend nach oben.
„Meine Güte, so hab ich mir das aber nicht vorgestellt.“
Carstens Brust schwoll an und er zog den Bauch ein.
„Ja“, sagte er selbstbewusst, „das höre ich öfter bei Verhandlungen. Allerdings weiß ich wirklich nicht … HEY!“
Der kleine Weihnachtsmann schob sich an Carsten vorbei in den Laden. „Entschuldigung“, sagte er. „Aber ich halte es wirklich nicht länger aus da draußen.“
Carsten ließ den Blick über die um diese Uhrzeit verwaiste Hauptgeschäftsstraße schweifen. Er suchte nach der versteckten Kamera, dem Fernsehteam, dem Gesicht dieses Moderators, dessen Namen er sich nicht merken konnte. Aber er entdeckte es nicht.
Hinter sich im Laden hörte er das verhasste Geräusch einer Matratze, auf der jemand herum sprang. Zu Geschäftszeiten war der Urheber dieses respektlosen Krachs normalerweise ein schlecht erzogenes Kind. Jetzt ignorierte der kleine Weihnachtsmann auf diese dreiste Weise Carstens Autorität in seinem eigenen Laden und rief dabei „Huiiii!“.
„Hey!“, schrie Carsten. Der kleine Weihnachtsmann hörte sofort auf und sah den Spielverderber verständnislos an. „Kommen Sie sofort da runter!“, befahl Carsten. „Was soll denn das, verdammt?“
Die Schultern zuckend hüpfte der kleine Weihnachtsmann vom Bett zu Boden.
„Ist ja gut“, sagte er und nahm seine Bommelmütze ab. Ein braun grauer Haarschwall kam darunter hervor, fast so groß wie der kleine Mann selbst. Mit einem angewiderten Ausstoßen von Luft durch geschlossene Lippen stellte Carsten fest, dass es allen Gesetzen der Physik widersprach, dass diese Haare unter dieser winzigen Mütze gesteckt haben sollten. Und in Physik war er in der Schule immer sehr gut gewesen.
„Möchten Sie einen Tee, Herr Obermeier?“, fragte der kleine Weihnachtsmann.
„Wer sind Sie denn überhaupt, verdammt?“, fragte Carsten.
„Sie können mich Rumpel nennen.“
„Hören Sie, Herr Rumpel …“
„Rumpel reicht.“
„Ich … Rumpel …“
„Wollen Sie nun einen Tee oder nicht?“, fragte Rumpel.
Carstens Arme baumelten zu seinen Seiten, als gehörten sie nicht zu seinem Körper, sein Mund stand offen und seine Lippen hatten sich nach links oben verzogen in dem befremdlichen Ausdruck, in dem sein Gesicht eingefroren war.
„Ich trinke jetzt einen“, sagte Rumpel und griff mit der rechten Hand in die Innentasche seines dunklen Sakkos. „Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn das Aroma Sie genug betört hat und Sie auch einen möchten.“
Rumpel zwinkerte und holte mit einer für Carsten unerträglichen Selbstverständlichkeit eine Tasse hervor, weiß und golden. Mit passender Untertasse. Innerhalb von Sekunden roch es nach heißer Vanille und Abwasser, und als Rumpel die Tasse, aus der unerträglich laut schlürfend getrunken hatte, wieder absetzte, hingen dampfende Tropfen in seinem Bart. Sie liefen runter auf sein zartrosa Geschäftshemd und verursachten kleine dunkle Flecken. Er hielt die Tasse und die Untertasse in der linken und lockerte seine Krawatte mit der rechten Hand.
„Ah, das tut gut“, sagte Rumpel und rülpste leise. „Entschuldigung.“ Seine Augen grinsten. „Zu hastig getrunken.“
Carsten wusste nicht genau, wie er sich fühlte, aber irgendein innerer Drang zwang ihn dazu, seinen kaputten Füller fest zu umklammern. Wie ein Messer.
„Was wollen Sie hier?“, fragte er.
Rumpel stellte seine Tasse mit ungeschickten, groben Fingern auf die Matratze, auf der er eben noch herumgehüpft war. Dabei verschüttete er so großzügig Tee, dass es fast beabsichtigt wirkte.
„Ich bin wegen eines Vertrages hier“, sagte er. „Um die Einhaltung einer Klausel sicherzustellen.“
Carstens Verstand begann zu rasen. Hatte er hier den bizarrsten Russen-Mafiaschläger aller Zeiten vor sich? Aber was hatte er sich zu Schulden kommen lassen? Seine Verträge, Abmachungen, Buchungen und Geschenke hatten den Rahmen der Legalität nie verlassen. Jedenfalls nicht weit genug, um sich dabei mal mit einer Organisation angelegt zu haben, die einem jemanden vorbei schickte, der seinen „Kunden“ die Finger brechen sollte. Und Carsten beschlich mehr und mehr das Gefühl, dass Rumpel – wer hieß denn so, Herrgott? – genau diese Sorte Geschäftsmann war. Ganz abgesehen davon, dass der abgebrochene Meter sich gern als Hobby-Copperfield betätigte und aus seinem Anzug keine Kaninchen, sondern einen Tee hervorzauberte, der nach süßer Kacke roch.
Carsten beschloss, aufs Ganze zu gehen: „Wollen Sie mir etwa drohen?“
Rumpel sah ihn verblüfft an, so dass Carsten eine gewisse Genugtuung verspürte.
„Drohen?“, fragte Rumpel. „Die Mitglieder meiner Holding und ich sind genau so ehrenwerte Kaufleute wie Sie, mein Lieber.“
„Ihrer …Holding?“, fragte Carsten. „Wer genau sind denn Ihre Mitgesellschafter?“
Carsten spürte, wie ihm heiß im Bauch wurde, als Rumpel wieder unter sein Sakko griff. Es sah genau so aus wie im Film, wenn ein gut Gekleideter eine Pistole zog und dann sein Gegenüber erschoss, ohne zu zwinkern und ohne dass sein Gesicht dabei die geringste Regung zeigte.
„Warten Sie“, rief Carsten. Jede Arroganz war jetzt aus seinem Tonfall verschwunden. Rumpel musste offenbar tief in seiner Tasche nach dem Gesuchten graben, aber schließlich zog er ruckartig seine zur Faust geballte Hand wieder hervor.
„Oh!“, schrie Carsten und stolperte einen Schritt zurück.
Rumpels Faust öffnete sich. Sechs gelbe Bohnen fielen auf den Boden und machten dabei einen Krach, der aufgrund der ansonsten herrschenden Grabesstille nahezu infernalisch schien.
Mit der Hand wischte Carsten sich durch das schwitzige Gesicht – er schwitze immer sehr schnell – und lachte verschüchtert. Zufrieden stellte er fest, dass er sich nicht in die Hose gemacht hatte. Mit der Erleichterung kam das von der Furcht vor einer tödlichen Waffe in Rumpels Hand geschwächte Selbstbewusstsein zurück. Carsten war wütend auf sich selbst. Hatte er es bis hierher gebracht, weil Eierköpfe wie dieser blöde Pinkelzwerg ihm vormachen konnten, sie seien der große böse Wolf? Das Gegenteil war doch wohl der Fall!
„Sofort heben Sie diesen Dreck wieder auf!“, intonierte er laut, fest und autoritär. Bohnen. Pah! Was käme als nächstes?
„Meine Partner“, sagte Rumpel beschwichtigend und deutete auf die Bohnen.
„Was?“, fragte Carsten.
„Meine Mitgesellschafter. Sie wollten sie kennen lernen.“
Ein Entflohener aus der Klapse also, dachte Carsten. Ja, so musste es sein. Carstens Onkel Theodor hatte viele Jahre in einer solchen Anstalt als Pfleger gearbeitet. Die mentalen Defekte der Bewohner des Hauses waren oft harmlos gewesen, manche fast witzig. Sie gingen nie mehr als drei Schritte geradeaus, weil sie glaubten, sonst explodieren zu müssen, oder fragten einen Gesprächspartner alle zwei Minuten, ob er des Spanischen mächtig sei.
Aber es gab auch welche, denen man nicht gern den Rücken zudrehte, weil sie sich zum Beispiel für eine Anakonda hielten. Onkel Theodor war kurz vor seiner Pensionierung selbst in einer der Zellen geendet, die er jahrelang auf- und zugeschlossen hatte. Wichtiger war im Moment aber die Frage, ob es sich bei Rumpel um einen Spanier oder um einen Anakonda-Mann handelte.
Als die Bohnen platzten, pufften sie nicht wie Knallerbsen, sondern explodierten wie Pistolenschüsse.
„Scheiße!“, schrie Carsten auf.
„Huh!“, entfuhr es Rumpel, der nicht weniger erschrocken schien.
„Was zum Teufel war denn das?“, fragte Carsten.
Wo eben noch die Bohnen gelegen hatten, pulsierten jetzt sechs rote Kugeln, so groß wie Tennisbälle. Jedes Mal, wenn eine der Kugeln sich dehnte, als würde sie atmen, machte sie ein Furzgeräusch und ein weißer Schaum spritze aus ihr heraus wie Blut aus einer angeritzten Arterie. Und jedes Mal schienen sie dabei ein bisschen größer zu werden.
Das Furzkonzert der sechs Kugeln verbreitete einen ähnlichen Kloakengeruch wie zuvor Rumpels Tee, nur intensiver und ohne die unzureichend neutralisierende Wirkung des Vanille-Aromas. Carsten zog angewidert die Mundwinkel nach unten und kniff die Augenlider zu Schlitzen zusammen.
„Na ja“, sagte Rumpel, offenbar unbeeindruckt von dem Gestank. „Das wird jetzt eine Weile dauern, da kann ich ihnen noch mal unseren Vertrag vorlesen.“
„Wir haben keinen Vertrag, Sie verdammte Witzfigur!“, rief Carsten, stampfte dabei wütend auf dem Boden und beobachtete nervös die pulsierenden Furzkugeln, die jetzt so groß wie Hüpfbälle waren und deren Luftausstöße nun zu allem Überfluss noch die Raumtemperatur zu steigern schienen. Carsten spürte sein Hemd am Rücken, am Bauch und im Achselbereich an seinem Körper festkleben.
„Ja, irgendwie nicht direkt, aber … Sie sind Vertragsgegenstand, mein Freund.“ Rumpel zog ein eingerolltes, hellbraunes Papier aus seiner scheinbar bodenlosen Sakkotasche. Es war mit einer roten Schleife umwickelt und ähnelte einer Schatzkarte in einem alten Disney-Piratenfilm. Die kleinen schwieligen Finger Rumpels entfernten mit einer lässigen Bewegung die Schleife von dem Dokument und warfen sie anschließend in die Luft. Carsten sah nicht hoch und konnte deshalb nicht genau sagen, was passiert war, aber Tatsache war, dass das Band nicht wieder runter kam und plötzlich ein Vogel fröhlich piepend durch den Hauptverkaufsraum bei Betten-Obermeier flatterte.
Es hat sich nicht verwandelt, sagte Carsten immer wieder zu sich selbst, es ist ein Trick, ein billiger Trick, genau wie diese verdammten Hüpfbälle. Einem der pulsierenden Furzbälle war eine Öffnung gewachsen, in der Carsten Zähne sehen konnte und aus der eine Zunge hechelte wie die eines Hundes. Der Mund machte er quengelige Quäkgeräusche, die an ein hungriges Baby erinnerten.
Rumpel reichte Carsten das Dokument. Er nahm es mit zitternden Fingern entgegen und hielt es mit beiden Händen. Der Furzball, der in seiner Metamorphose am weitesten fortgeschritten war, sah Rumpel nun verdammt ähnlich. Derselbe Bart, dieselbe Größe. Er unterschied sich darin, dass er nackt war und eine tiefe, blitzförmige Narbe von seiner Stirn bis zu seinem Kinn ging und sein Gesicht so in zwei Teile schnitt. Das linke Auge war kalkweiß und offensichtlich blind.
„Sieben …“, begann Carsten zu lesen, wobei sein Blick immer wieder zwischen dem mit „Rechnung“ überschriebenen Dokument und den Bällen hin und her wechselte, die nun mehr und mehr zu sechs weiteren Rumpels heranwuchsen.
Sieben Collegen, Minenbau- und Beratungsgesellschaft. Das stand ganz oben unter „Rechnung“. In der Mitte befand sich eine Tabelle, links das Produkt, rechts der Preis, so wie Carsten es von allen guten Rechnungen kannte. So wie sie sein sollten. „1 mal Endlosvorrat wuschlig-weiche Phoenixfedern“, las Carsten weiter. „Preis …“ Er stockte, sah Rumpel an und las: „Ein … Erstgeborener?“
Rumpel zuckte mit den Schultern und nickte mit einem bedauernden Ausdruck in den Augen. „So leid es mir tut, aber ja, genau das steht da“, sagte er. „Und ordnungsgemäß unterschrieben ist es auch.“
Carsten sah wieder auf die Rechnung. Er hatte die für jeden anderen unleserliche Tintenkleckserei schon vorher erkannt. Genau genommen war sie sogar das erste, was er gesehen hatte. Karl Obermeier.
„Mein Vater?“, fragte er ungläubig.
Mittlerweile standen sieben Rumpels im Verkaufsraum von Betten-Obermeier. Einer von ihnen griff nach dem Vogel, drückte zu und augenblicklich erstarb das Gezwitscher. Er pflückte den Vogel in kleine Teile und gab jedem seiner Collegen etwas ab. Die sechs kleinen Rumpel-Doppelgänger wiederum zerpflückten jeweils ihren Teil des Vogels und es überraschte Carsten nur noch milde, dass sie plötzlich Hosen, Hemden und Sakkos daraus geformt hatten, in die sie sich nun hektisch kleideten. Ein Rumpel, dessen distinktes Merkmal eine beginnende Glatze war, stopfte einem anderen, der sich schlampig angezogen hatte, kopfschüttelnd das Hemd in die Hose.
„Carsten“, sagte Rumpel feierlich, „das sind Filz, Pitzel, Pumpel, Corkus, Jokus und Ulf.“ Carsten stöhnte verwirrt auf. Die Sechs in ihren dunklen Anzügen, die man jetzt auf den ersten Blick nur noch an der Farbe ihrer Hemden und Krawatten unterscheiden konnte, grüßten der Reihe nach: „Moin.“ „Guten Tag.“ „Hallo.“ „Grüße Sie.“ „Wie geht’s?“ „Servus.“
Mit dem Gedanken an Onkel Theodor in seiner Zelle, wie er mit seinen Buntstiften und seinem Malbuch auf dem vollgepissten Bett saß, traten Carsten die Tränen in die Augen.
„Was verdammt noch mal wollt ihr denn von mir?“
„Junge“, sagte Rumpel, und sein Lächeln hatte jetzt etwas unendlich Gemeines an sich. „Du bist der Preis, den uns dein Vater für diese Lieferung versprochen hat. Ein in dieser Welt absolut konkurrenzloses Produkt, so weich wie Pulverschnee aber dabei so warm wie das Innere einer Möse, und die Träume, oh Junge, die Träume, die du hast, wenn du dich mit Phoenixfedern zudeckst… Ohne unsere Vorlage hätte dein geschäftsunfähiger Vater niemals gepunktet. Dieser Dummkopf. Weißt du, wie viele Bettengeschäfte es gab, als er dieses Loch hier eröffnet hat? Er brauchte Hilfe. Ein unschlagbares Angebot, mit dem noch der unfähigste Depp hätte reich werden können. Ein Hauch von Magie und Märchen in dieser trostlosen Welt, in der ihr alles in Geschichten sperrt, was zu viel Aufregung in euer langweiliges Leben bringen könnte.“
„Mein Vater war ein großartiger Kaufmann“, stammelte Carsten. „Ich …“ Er ließ die Rechnung fallen und nahm nicht wahr, wie Rumpel auf dem Boden rumrutschte, damit das Dokument nicht das Parkett berührte. „Ich … bin Betriebswirt.“
„Das ist doch hervorragend!“, jubelte Rumpel, etwas außer Atem von der Rettungsaktion für die Rechnung, die Carstens Schicksal besiegelte. „Ich sage immer, wir brauchen mehr Leute mit Verstand in den Minen.“
„Die … Minen?“
„Die Minen!“, sagte Rumpel und nickte, so als ob er sich gerade fragte, was es daran nicht zu verstehen gäbe. „Zu viel ungebildetes Pack unter den Sklaven.“
„Sklaven?“
„Natürlich“, sagte Filz, Pitzel, Pumpel, Corkus, Jokus oder Ulf. Er zog sein Sakko aus, krempelte seinen Hemdsärmel hoch und erzählte dabei: „Freiwillig geht seit Jahrhunderten niemand mehr da runter. Früher, ja, als wir den Laden aufgemacht haben, da haben wir auch selbst noch in der Dunkelheit geschuftet, aber …“
Er zerriss sich selbst das Fleisch zwischen Ellenbogen und Hangelenk, das offenbar in Wirklichkeit aus einer Art Latex bestand. Darunter befand sich ein Skelettunterarm aus Metall, der bei jeder Bewegung der Finger das Geräusch einer gut geschmierten hydraulischen Apparatur von sich gab.
„Ich hab damals nicht einmal gesehen, was ihn abgebissen hat, so schnell ging das. Was immer in den Minen wohnt, es hat schlechte Laune. Und Hunger. Viel zu gefährlich. Also lassen wir Sklaven die Arbeit machen. Sklaven wie dich.“
„Ich?“
Die Sieben Collegen bildeten einen enger werdenden Kreis um Carsten. Er wollte aus ihrer Mitte treten, musste aber feststellen, dass seine Füße im Boden feststeckten, der die Konsistenz von zähem Karamell angenommen hatte.
„Was machen Sie mit meinem Fußboden?“, fragte Carsten verwirrt, während er weiter bis zu den Knien versank.
„Luft anhalten, Sohn, gleich wird’s stickig“, sagte Rumpel – ihm und seinen sechs Begleitern ging die dickflüssige Holzschlammsuppe bereits bis zum Bauch.
Unter sich hörte Carsten Geräusche wie die eines alten, verrosteten Güterwagons, der quietschend über uralte Schienen kroch. Dazu etwas, das klang wie knallende Bullenpeitschen … und ein weiteres Geräusch, das unschwer als das Rasseln von Ketten zu erkennen war. Jemand schrie, in einer Sprache, die Carsten nicht erkannte. Es hörte sich wie ein Fluchen an, ein Schimpfen. Jemand anders schrie definitiv vor Schmerzen. Und über all diesem Krach lag das schrecklichste aller Geräusche, ein Gezwitscher aus tausenden von Vogelkehlen, offenbar von genau der Art, wie sechs der sieben Collegen sie benutzt hatten, um sich einzukleiden.
Jetzt sah all ihre Kleidung gleichermaßen aus, als hätten sie ein Schlammbad genommen, und gewissermaßen taten sie das ja auch angesichts der Brühe, in der sie versanken. Zwei der Sieben hielten sich die Nase zu, weil die hellbraune Masse ihnen schon bis zum Kinn stand. Von hinten legte jemand etwas Kühles um Carstens Hals. Er griff danach und stellte fest, dass es sich um einen eisernen Halsring handelte.
Carsten schlug panisch um sich und brach sich fast die Hüfte dabei, weil er bereits bis über den Bauchnabel versunken war in der Masse, in der seine Beine fest und unbeweglich wie einzementiert ruhten. Die sieben Collegen waren jetzt vollständig versunken.
Die Bücher. Sie lagen noch immer auf dem Verkaufstisch, wo er sich noch vor einer halben Stunde lächelnd und zufrieden über sie hergemacht hatte. Jetzt fragte er sich, ob da wo er hinging auch so streng bilanziert wurde. Ob in den Minen vielleicht rote Augen mit schwarzen Blitzen darin auf ihn warteten. Und diese Zähne …