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Zarter Schmelz
Zarter Schmelz
Mein neues indisches Gewand ist ein Traum. Keine Naht, nur wallender Stoff. Für den Kopf ein großzügig geschnittenes Rund, sonst nichts. Ich streife es über und lasse die kühle Baumwolle an mir herunterfließen. Kaskadenförmig, in Orangetönen schimmernd, mit funkelnden Pailetten bestickt.
Gleich, wenn meine Mutter mich ruft, wird ihre Stimme wie eine singende Säge klingen. Sie hält das für unbeschwerte Munterkeit.
Langsam drehe ich mich vor dem Spiegel. Zum Glück reicht der Stoff bis auf den Boden, auf Sandaletten kann ich getrost verzichten. Meine Füße sind schon jetzt geschwollen und die Unterschenkel spannen wie prall gefüllte Wasserbomben.
Ich höre sie alle im Garten Fröhlichkeit verbreiten. Die Hitze ist unerträglich.
Ich sinke auf mein Bett und angele ein Snickers aus der Nachttischschublade. Noch fünf Minuten Galgenfrist. Der einzige Nachteil an dem Gewand ist, dass es keine Taschen hat. Ich werde Unmengen von Papiertüchern brauchen.
Eine Handvoll Lakritzschnecken noch, dann ist es wohl soweit.
Ich mache mich langsam auf den Weg zur Treppe. Vorher kann ich mir im Bad kaltes Wasser ins Gesicht spritzen. Der Schweiß rinnt in Bächen zwischen meinen Brüsten runter.
„Sonja, Geburtstagskind, du kannst kommen!“ Die singende Säge. Es ist wie ein Gang zum Schafott.
Sie haben sich mal wieder viel Mühe gegeben, alle Achtung!
Zwischen den mickrigen Apfelbäumchen hängt eine kreischend bunte Happy birthday Girlande, an die meine Mutter eine riesige 18 aus weißem Karton geklebt hat. Die Markise über der Terrasse zieren rote und blaue Luftballons. Meine Vorliebe für Pastelltöne scheint niemand zu kennen. Mitten auf der Wiese steht der Gartentisch, vollgepackt mit Platten und Schüsseln. Bistrotischchen un Bistrostühlchen hat meine Mutter zwanglos drum herum arrangiert. Auf der schattigen Gartenbank liegen Päckchen und Pakete.
Ich stehe benommen an der Terrassentür und lasse alles geschehen.
Meine Mutter sieht aus wie Sharon Stone, heute mehr denn je. Sie trägt ihr Haar jetzt ebenfalls raspelkurz und blond. Es wirkt unfrisiert, das wird nicht billig gewesen sein. Mit ausgestreckten Armen segelt sie auf mich zu und je näher sie kommt, desto mehr streckt sie die Arme nach außen. Spannweite ist vonnöten. Ihr blauer Seidenanzug flattert locker um sie herum, die schlanke Taille ziert ein goldener Gürtel.
„Herzlichen Glückwunsch zur Volljährigkeit, meine Kleine“, kreischt sie und umfängt mich, so gut es geht. „Ein hübsches Kleid“, quetscht sie noch heraus.
Ich bin ihre Kleine, meine Halbschwester Melanie ihre Große. Rein rechnerisch gesehen. Melanie ist von ihrem ersten Ehemann, ich vom zweiten. Der vierte und jetzige heißt Holger. Er öffnet gerade eine Sektflasche. Meine Mutter hat Holger und seinen Vorgänger als Patienten auf ihrem Zahnarztstuhl kennen gelernt. Sie hat sich über sie gebeugt und in ihren angstvoll aufgerissenen Mündern herum gestochert. Was kann danach an Intimität noch kommen, frage ich mich.
Sie drückt mir einen winzigen Spitzmundkuss auf meine klebrige Wange und ich umfange sie wie eine Riesenfledermaus. Mein indisches Gewand hat keine Ärmel, Gott sei Dank.
Jetzt ist Melanie dran. Sie löst sich wie der Schatten des Schattens vom Rosenbusch, eilt auf die Bank zu, nimmt ein Päckchen und kommt zu mir ohne den Boden zu berühren, wie es scheint. Melanie ist dreiundzwanzig, eckig und flachbrüstig, mit blaugeäderten Armen, mausbraunen Fransenhaaren, und studiert Sinologie. Warum, das weiß ich nicht. Ihr Freund Carl, mit C, ist der dünnste Mann mit dem längsten Hals und dem größten Adamsapfel, den ich je gesehen habe. Das einzig männliche an ihm ist seine dicke, viereckige Hornbrille. Er verschwindet in Melanies Schatten, ich sehe ihn erst im letzten Moment. Beide stellen sich auf die Zehenspitzen und versuchen mich zu umarmen, versinken aber in den Stoffwellen und kriegen keine Luft mehr.
Ich wickele ein chinesisches Lackkästchen aus und finde zwei silberne, klingende Kugeln darin. „Handschmeichler“, sagt Melanie hoffnungsfroh. „Super“, sage ich und lasse die Kugeln drin. Holger nähert sich mit dem Sekttablett. Er ist groß und kräftig, hat lachende braune Augen und ist vier Jahre jünger als meine Mutter. Wenn ich ihn ansehe, kann ich mir nicht vorstellen, dass er ein knallharter Wirtschaftsanwalt sein soll. Ist er aber wohl. „Alles Liebe zum Geburtstag, Sonja“, sagt er und versucht gar nicht erst, mich zu umarmen. Was für eine Wohltat. Als er und meine Mutter vor drei Jahren geheiratet haben, sind wir in sein Haus gezogen. Holger hat seine Praxis im Erdgeschoss, da bot es sich an. Melanie wollte nicht mehr mit, sie wohnt mit Carl in einem winzigen Appartment. Für die beiden reicht es.
Meine Mutter kommt mit einem flachen, rechteckigen Paket. Ein Buch, was sonst? Diesmal ist es ein Riesenbildband mit Gymnastikanleitungen, dazu reicht sie mir lächelnd einen Gutschein für ein stadtbekanntes Fitnessstudio. „Versuch es doch mal“, säuselt sie, kann mich aber nicht ansehen. Ich kriege Holgers Grinsen genau mit.
Ich packe die geballte Ladung Fitness zu den Handschmeichlern auf die Bank und nähere mich dem Büffett.
„Nur gesunde Sachen“, strahlt meine Mutter und weist einladend auf die Platten mit Melonenschiffchen, Vollkornbrot mit Kräuterkäse und die Schüsseln voller Grünfutter. Ich lache, nehme mir einen halben Apfel, beiße hinein und rufe, so laut ich kann: „Köstlich!“
Ich liege nackt auf meinem Bett, aufgetürmte Kissenberge im Rücken, und schließe erwartungsvoll die Augen. Ein Duft von Honig und Mandel nähert sich meinen Lippen. Ein kühler Löffel streicht sanft über meine Wange. Ich öffne den Mund. Zarter Schmelz ergießt sich über meine Zunge, sahniges Milcheis umschmeichelt meinen Gaumen.
Immer und immer wieder. Millionen Geschmacksknospen erblühen, ich schlucke und schlucke. Es ist ein Literbecher.
Die warme Hand fährt zärtlich über meinen gewölbten Leib, hebt spielerisch die Bauchfalten, um dann zwischen meinen Schenkeln zu verschwinden.
„Wie wunderbar“, stöhnt Holger und versinkt mit seinem tränennassen Gesicht unter meiner Brust. Ich lächle zufrieden und wische mit dem Handrücken über den Mund.
„Bald haben wir die zweihundert Kilo“, höre ich ihn gedämpft jauchzen.
„Es juckt unter meinen Brüsten“, murmele ich schläfrig. Holger taucht auf, küsst meine Schenkel, stottert fasziniert „gewaltig“ und eilt ins Bad, um Babypuder zu holen.