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Zarter Schmelz

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04.04.2008
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Zarter Schmelz

Zarter Schmelz

Mein neues indisches Gewand ist ein Traum. Keine Naht, nur wallender Stoff. Für den Kopf ein großzügig geschnittenes Rund, sonst nichts. Ich streife es über und lasse die kühle Baumwolle an mir herunterfließen. Kaskadenförmig, in Orangetönen schimmernd, mit funkelnden Pailetten bestickt.
Gleich, wenn meine Mutter mich ruft, wird ihre Stimme wie eine singende Säge klingen. Sie hält das für unbeschwerte Munterkeit.
Langsam drehe ich mich vor dem Spiegel. Zum Glück reicht der Stoff bis auf den Boden, auf Sandaletten kann ich getrost verzichten. Meine Füße sind schon jetzt geschwollen und die Unterschenkel spannen wie prall gefüllte Wasserbomben.
Ich höre sie alle im Garten Fröhlichkeit verbreiten. Die Hitze ist unerträglich.
Ich sinke auf mein Bett und angele ein Snickers aus der Nachttischschublade. Noch fünf Minuten Galgenfrist. Der einzige Nachteil an dem Gewand ist, dass es keine Taschen hat. Ich werde Unmengen von Papiertüchern brauchen.
Eine Handvoll Lakritzschnecken noch, dann ist es wohl soweit.
Ich mache mich langsam auf den Weg zur Treppe. Vorher kann ich mir im Bad kaltes Wasser ins Gesicht spritzen. Der Schweiß rinnt in Bächen zwischen meinen Brüsten runter.
„Sonja, Geburtstagskind, du kannst kommen!“ Die singende Säge. Es ist wie ein Gang zum Schafott.

Sie haben sich mal wieder viel Mühe gegeben, alle Achtung!
Zwischen den mickrigen Apfelbäumchen hängt eine kreischend bunte Happy birthday Girlande, an die meine Mutter eine riesige 18 aus weißem Karton geklebt hat. Die Markise über der Terrasse zieren rote und blaue Luftballons. Meine Vorliebe für Pastelltöne scheint niemand zu kennen. Mitten auf der Wiese steht der Gartentisch, vollgepackt mit Platten und Schüsseln. Bistrotischchen un Bistrostühlchen hat meine Mutter zwanglos drum herum arrangiert. Auf der schattigen Gartenbank liegen Päckchen und Pakete.
Ich stehe benommen an der Terrassentür und lasse alles geschehen.
Meine Mutter sieht aus wie Sharon Stone, heute mehr denn je. Sie trägt ihr Haar jetzt ebenfalls raspelkurz und blond. Es wirkt unfrisiert, das wird nicht billig gewesen sein. Mit ausgestreckten Armen segelt sie auf mich zu und je näher sie kommt, desto mehr streckt sie die Arme nach außen. Spannweite ist vonnöten. Ihr blauer Seidenanzug flattert locker um sie herum, die schlanke Taille ziert ein goldener Gürtel.
„Herzlichen Glückwunsch zur Volljährigkeit, meine Kleine“, kreischt sie und umfängt mich, so gut es geht. „Ein hübsches Kleid“, quetscht sie noch heraus.
Ich bin ihre Kleine, meine Halbschwester Melanie ihre Große. Rein rechnerisch gesehen. Melanie ist von ihrem ersten Ehemann, ich vom zweiten. Der vierte und jetzige heißt Holger. Er öffnet gerade eine Sektflasche. Meine Mutter hat Holger und seinen Vorgänger als Patienten auf ihrem Zahnarztstuhl kennen gelernt. Sie hat sich über sie gebeugt und in ihren angstvoll aufgerissenen Mündern herum gestochert. Was kann danach an Intimität noch kommen, frage ich mich.
Sie drückt mir einen winzigen Spitzmundkuss auf meine klebrige Wange und ich umfange sie wie eine Riesenfledermaus. Mein indisches Gewand hat keine Ärmel, Gott sei Dank.
Jetzt ist Melanie dran. Sie löst sich wie der Schatten des Schattens vom Rosenbusch, eilt auf die Bank zu, nimmt ein Päckchen und kommt zu mir ohne den Boden zu berühren, wie es scheint. Melanie ist dreiundzwanzig, eckig und flachbrüstig, mit blaugeäderten Armen, mausbraunen Fransenhaaren, und studiert Sinologie. Warum, das weiß ich nicht. Ihr Freund Carl, mit C, ist der dünnste Mann mit dem längsten Hals und dem größten Adamsapfel, den ich je gesehen habe. Das einzig männliche an ihm ist seine dicke, viereckige Hornbrille. Er verschwindet in Melanies Schatten, ich sehe ihn erst im letzten Moment. Beide stellen sich auf die Zehenspitzen und versuchen mich zu umarmen, versinken aber in den Stoffwellen und kriegen keine Luft mehr.
Ich wickele ein chinesisches Lackkästchen aus und finde zwei silberne, klingende Kugeln darin. „Handschmeichler“, sagt Melanie hoffnungsfroh. „Super“, sage ich und lasse die Kugeln drin. Holger nähert sich mit dem Sekttablett. Er ist groß und kräftig, hat lachende braune Augen und ist vier Jahre jünger als meine Mutter. Wenn ich ihn ansehe, kann ich mir nicht vorstellen, dass er ein knallharter Wirtschaftsanwalt sein soll. Ist er aber wohl. „Alles Liebe zum Geburtstag, Sonja“, sagt er und versucht gar nicht erst, mich zu umarmen. Was für eine Wohltat. Als er und meine Mutter vor drei Jahren geheiratet haben, sind wir in sein Haus gezogen. Holger hat seine Praxis im Erdgeschoss, da bot es sich an. Melanie wollte nicht mehr mit, sie wohnt mit Carl in einem winzigen Appartment. Für die beiden reicht es.
Meine Mutter kommt mit einem flachen, rechteckigen Paket. Ein Buch, was sonst? Diesmal ist es ein Riesenbildband mit Gymnastikanleitungen, dazu reicht sie mir lächelnd einen Gutschein für ein stadtbekanntes Fitnessstudio. „Versuch es doch mal“, säuselt sie, kann mich aber nicht ansehen. Ich kriege Holgers Grinsen genau mit.
Ich packe die geballte Ladung Fitness zu den Handschmeichlern auf die Bank und nähere mich dem Büffett.
„Nur gesunde Sachen“, strahlt meine Mutter und weist einladend auf die Platten mit Melonenschiffchen, Vollkornbrot mit Kräuterkäse und die Schüsseln voller Grünfutter. Ich lache, nehme mir einen halben Apfel, beiße hinein und rufe, so laut ich kann: „Köstlich!“

Ich liege nackt auf meinem Bett, aufgetürmte Kissenberge im Rücken, und schließe erwartungsvoll die Augen. Ein Duft von Honig und Mandel nähert sich meinen Lippen. Ein kühler Löffel streicht sanft über meine Wange. Ich öffne den Mund. Zarter Schmelz ergießt sich über meine Zunge, sahniges Milcheis umschmeichelt meinen Gaumen.
Immer und immer wieder. Millionen Geschmacksknospen erblühen, ich schlucke und schlucke. Es ist ein Literbecher.
Die warme Hand fährt zärtlich über meinen gewölbten Leib, hebt spielerisch die Bauchfalten, um dann zwischen meinen Schenkeln zu verschwinden.
„Wie wunderbar“, stöhnt Holger und versinkt mit seinem tränennassen Gesicht unter meiner Brust. Ich lächle zufrieden und wische mit dem Handrücken über den Mund.
„Bald haben wir die zweihundert Kilo“, höre ich ihn gedämpft jauchzen.
„Es juckt unter meinen Brüsten“, murmele ich schläfrig. Holger taucht auf, küsst meine Schenkel, stottert fasziniert „gewaltig“ und eilt ins Bad, um Babypuder zu holen.

 

Hallo Jutta!

Was für eine Pointe. Es ist mir zwar schleierhaft, was das Ganze in Gesellschaft zu suchen hat, und ich könnte auch nicht sagen, ob es mir gefallen hat, aber die Geschichte wirkt auf jeden Fall. Sie ist unglaublich grell, krass, verstörend und wird mir sicherlich im Gedächtnis bleiben. Ich bin nicht sicher, ob ich die Geschichte metaphorisch sehen soll, ich wüsste gar nicht wie.
Offensichtlich hat deine Erzählerin was mit Holger, ihrem fetischistischen Stiefvater, der sie mästen will bis zum Gehtnichtmehr. Okay, das könnte man gesellschaftlich sehen, aber für mich passt die Geschichte eher nach Seltsam.
Toll finde ich, wie die Pointe vorbereitet wird. Hier und da Hinweise eingestreut und man ahnt es schon vor dem Ende, dass deine Erzählerin ein paar Pfunde hat, und die Pointe ist zwar total krass und überraschend, aber nicht an den Haaren herbeigezogen. Genau richtig.
Das ganze Szenario ist ja total absurd: Die Mutter, Carl, Melanie, überhaupt die ganze Aufmachung, grell gezeichnet, und das alles aus der fast schon zynischen Sichtweise deiner Protagonistin. Super.
Doch, ich glaub es hat mir gefallen. Bin aber trotzdem für Seltsam.

Zwei hab ich noch:

Vollkornbrot mit Kraüterkäse
Sieht cool aus, heißt aber trotzdem Kräuterkäse. :D
und schließe erartungsvoll die Augen.
erwartungsvoll

Ach und:

Spitzmundkuss
Tolles Wort! :p

Liebe Grüße,
strudel

 

Hallo Jutta,

-herrlich! Ich habe mich beim Lesen schon amuesiert und die Pointe setzt dem Ganzen natuerlich noch die Krone auf! Die Geschichte strotzt vor grandiosen Formulierungen und alle Beteiligten sind so genial gezeichnet, die hysterische Mutter, die fette, letztlich triumphierende Prota, die ganze irrwitzige Party - spitze!

Das erinnert mich an Doris Doerrie in ihren besten Zeiten. Ach was, das haette Doris Doerrie auch nicht besser schreiben koennen!

gruss, sammamish

 

Hallo Jutta,

sehr hübsch. Hat mir wiedereinmal sehr gut gefallen. :)

Bistrotischchen un Bistrostühlchen

- und

Schöne Grüße,

yours

 

Feine Geschichte,

Jutta,

die sehr gefällt und sich fortspinnen ließe, denn wir - incl. Sonja, die jetzt volljährig ist - sollten aufpassen, dass nicht die realexistierende Landesregierung aufgrund des beschriebenen Vorfalles uns bald vorschreiben wird, welche Mengen wovon an welchen Orten zu welchen Zeiten verspeist werden dürfen.

Alternativ könnte das Problem über die Krankenkassenbeiträge i. S. der Fundamentalisten im Gesundheits(un)wesen geregelt werden, wobei der Beitrag sich nach Lebendgewicht richten sollte. -

Aber all das werden wohl die heilenden Kräfte des Marktes schon selbst richten.

Kleinkram wurde schon genannt, hab auch nix anderes gefunden, aber den
"Schatten des Schattens" als feine Genitivkonstruktion will ich dann doch noch erwähnen!

Da die Geschichte ein nicht nur bundesdeutsches gesellschaftliches Problem aufgreift, find ich den Vorschlag, den Beitrag eher unter Seltsam anzusiedeln, eher seltsam ...

So viel oder wenig für jetzt

Friedel

 

Hallo Jutta,

klasse Geschichte!

Nur - als Plausibilitätsfanatiker - eine Frage:

wie passen eine Vorliebe für Pastelltöne und ein traumhaftes indisches Gewand zusammen ? Nachdem es kaum etwas quietschbunteres als indische Mode gibt ... :D.

Gruß und schönes Wochenende,

Pardus

 

Hallo Strudel,
danke für deinen Kommentar. Die Geschichte basiert auf einem Bericht über feeding-Beziehungen, von deren Existenz ich keine Ahnung hatte, obwohl sie offenbar nicht so selten sind. Ich glaube, es ist für Medizin, Mode und Kosmetik einfach lukrativer über das Gegenteil zu berichten, die extrem Dünnen. Selbst die Übergrößenmode endet da , wo man sie nicht mehr in einem Katalog präsentieren kann. Verstörend fand ich das gesamte Thema auch, zumal es das andere Extrem der Selbstzerstörung so deutlich aufzeigt. Deshalb habe ich auch die Rubrik "Gesellschaft" gewählt.
LG,
Jutta

Hallo sammamish,
der Vergleich mit D.D. ehrt und freut mich natürlich, doch in gewohnt bescheidener Manier winke ich errötend ab und stottere: "Ähh, ahh.., nicht doch!"
LG,
Jutta

Hallo yours,
auch dir vielen Dank, vor allem für das "wieder einmal"!
LG,
Jutta

Hallo Friedel,
ja,ja, es war mir schon wichtig, dass mein Moppel volljährig ist! Nenne es eine forensische Paranoia.. Ich freue mich, dass du die gesellschaftliche Relevanz ähnlich siehst, wegen deines ironischen Untertons um so mehr!!
Sei`s drum,
LG,
Jutta

Hallo Pardus,
aber selbstredend gibt es indische Batikklamotten in allen Pastelltönen, war vielleicht ein bisschen vor deiner Zeit? Gehe mal über einen Flohmarkt, da findest du sie.
LG,
Jutta

 

Hallo Jutta,

unter diesen Umständen ziehe ich als Nachgeborene meinen Kommentar zurück und verbleibe freundlichst mit: klasse Geschichte.

Pardus

 

Hey Jutta,

zeigt natürlich wieder mein wahnsinniges Gedächtnis, aber das ist der Grund, warum mir die Pointe dann nur ein Schulterzucken entlocken konnte. Sie kommt halt auch aus dem Nichts, in der Geschichte von Rainer damals lief es ähnlich ab, aus Sicht des Mästers erzählt, der langsam von einem treusorgend-kochenden Ehemann zu einem Fetischisten mutierte in den Augen des Lesers. Bei dir wird das Mädchen im Laufe der Darstellung immer dicker, während ich am Anfang noch eine schlanke Naschkatze im Kopf hatte, ging es dann über Bridget Jones zu "ganz schön wuchtig" bis "Fast 200 Kilo", das ist also gut gemacht.
Es ist halt auf die Pointe ausgelegt, und die Genugtuung der Protagonisten doch den Mann ihrer ach so tollen Mutter zu "haben" spürt man schon, halt erst am Ende.
Ja, was kann man jetzt aus dem Kommentar mitnehmen? Pointen, die der Leser schon anderswoher kennt, enttäuschen, wenn die Geschichte stark auf sie aufbaut.
Die Geschichte enttäuscht aber nicht, sie ist gut geschrieben, die Figuren sind stark, es fehlt mir halt nur das gewisse Etwas, weil diese ganze Ausgangsarbeit dann in der mir bekannten Pointe mündet.

Gruß
QUinn

 

Ich fand die Geschichte gut; hat mir gefallen. :o) Eben irgendwie "anders", und ob jetzt unter "Seltsam" oder "Gesellschaft" (die ja mitunter sehr seltsam ist ;o) finde ich da jetzt nicht so schlimm. Es paßt, für meine Begriffe.

 

Hallo Quinn,
ja sicher, klar ist die Geschichte auf die Pointe ausgerichtet, genau das habe ich ausprobiert. Und ganz klar ist auch, dass man solche Geschichten kennt, stimmt also alles, was Du schreibst. Du mit Deinem elefantösen Gedächtnis..., echt erstaunlich! Danke Dir herzlich fürs Lesen und Kommentieren.
LG,
Jutta

Hallo Stoker,
auch Dir vielen Dank fürs Lesen und schön, dass Dir die seltsamen Gesellschaftsauswüchse gefallen haben.
LG;
Jutta

 

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