Zebrastreifen
Manchmal ist das Leben wie ein Zebrastreifen. Ein Weg über einen Weg, Schwarz und Weiß. Das ist an sich nichts Besonderes, indes, wenn ich genauer sein möchte, dann ist es schon beinahe penetrant zu sehen, dass beim Hellen immer auch Dunkel ist. Nun könnte ich mich beruhigen, zu meinem Herzen sprechen: Siehe: nachts funkeln am dunklen Tuch die vielen kleinen und das silberne Licht. Und am Tag: da sind im sonnengefluteten Frühlingswald, bei all den sprießenden Knospen, auch immer schattige Flächen, mal große, mal kleine. Das also könnte mich beruhigen.
Indes – es tut es nicht. Das ist, wenn nicht beunruhigend, so doch nicht beruhigend, wie ich es gerne hätte.
Heute war wieder so ein Tag. Ich wachte am späten Vormittag auf, freute mich auf die vor mir liegenden Stunden. Ich sah sie wirklich liegen, nicht etwa kommend oder rennend oder fließend oder in einem sonstigen Prozess der Bewegung. Sie lagen ruhig vor mir, denn ich dachte: Du hast eine ganze Zeit diesen Stunden entgegen gesonnen, hast gehofft, dass sie schneller kommen mögen, denn mit ihnen verband ich das neue Semester. Das Sommersemester. Sonnig schien mir diese Vorstellung, wieder studieren zu können, denn das letzte Semester war so voller neuer Erfahrungen, die gut, wirklich gut taten, erfrischend, belebend, Erfahrungen, aus denen ich Energie getankt habe, die mir Kraft gespendet haben, weil sie, einfach gesagt: neu waren.
Durstig fühlte ich mich, und ich wollte trinken, trinken an diesem schönen, sonnigen Tag. Ich ging also die lange Hauptstrasse entlang, ging auf dem Bürgersteig, der wie eh und je voller Menschen war, wartend vor der Bushaltestelle oder irgendwo hin gehend – ich wusste ja, wohin ich ging, worauf ich mich freute, warum ich glücklich war.
Dann kam ich an, an einem alten, sehr erwürdigen Haus, geschichtsträchtig, imposant, groß in jeder Hinsicht, räumlich wie zeitlich. Ich ging eine der beiden Treppen hinauf, die linke, die der rechten genau entgegen gesetzt verläuft. Geht jemand eine der beiden Treppen hinauf, so liegt die andere im Rücken. Und ich sah weiß, weiße schöne Stunden vor mir, mit jedem Schritt ihnen näher kommend. Als ich oben angekommen war und vor der schweren hölzernen Tür stand, da ging ich nicht sofort hinein, nein, ich wollte den Sonnenschein noch ein wenig genießen, das wundervolle Frühlingswetter, die klare Luft.
Ich nahm also die Hand von der Klinke, drehte mich um einhundertachtzig Grad, blickte gen Neckar, über den kleinen Weg und die niedrige Mauer und die Bäume. Ich atmete die frische, leicht fruchtige Luft ein, und ich meine, einen leichten, inneren Schauer durch mein Nervensystem, unter der Oberfläche wallend, nur eben und fein wahrgenommen zu haben wie einen flüchtiger Duft ätherischen Öles, das die Nasenhaare streift.
Nun war dieser feine Duft leider derart, der zwar leise, aber treffend mich an etwas erinnerte, das ich während der Semesterferien, weil ich dort mit meinen alten Freunden eine schöne Zeit hatte, aus meinem Bewusstsein verdrängt hatte. Doch in diesem Moment, im Augenblick über die Mauer, hin zum Neckar, zum Strom: da wurde die Zeit wieder fließend. Und wie der Geruch zur Erinnerung floss, so floss aus ihr das Bittere in mein Bewusstsein. Es war das Gefühl, wieder neben so vielen Fremden Menschen, genannt Kommilitonen, zu sitzen, sie miteinander reden zu hören in warmen und vertrauten Stimmen – und ich, dasitzend, versunken in mich, weil irgendetwas in mir, aus vergangenen Zeiten, mich wieder zweifeln lässt an alledem. Ich fühle mich verloren zwischen Menschen, die, sobald sie zueinander kommen, gleich aus sich heraus sprudeln. Das macht mich misstrauisch. Und es liegt nicht an diesen Menschen, sondern an jenen aus der Vergangenheit. Eine misstrauische Erinnerung, die lächelnden Menschen und extrovertierten Gebärden in der Gegenwart skeptisch gegenüber tritt.
Ich rauchte mir noch eine Zigarette. Wenigstens eine Zigarettenlänge später in diesen Raum müssen, wo sie warten, all die Fremden, die so vertraut sind in meiner Erinnerung wie ein stacheliger Kaktus in der geballten Faust. Es tut weh, aber der Greifreflex ist stärker, ich drücke und fühle mich ungerecht, vorurteilig handelnd – und gehe trotzdem oder deswegen in den Raum. Schnurstracks auf einen freien Platz zu, mich setzend: auf eine einsame Insel. Versinken darauf, Handy aus der Tasche, verlegen innerlich, doch nach außen souverän, ein paar SMS auf die tasten hauen. Finger bewegen, Verlegenheitshandlung, nur auf das Display schauen, ausblenden das Meer aus fremden, sich vertrauenden Stimmen. Dieses Rauschen der Wellen voll freudiger Erzählungen aus Urlaubstagen der Semesterferien; wie es mir durch die Ohren in das Herz schrie! Und es schlug von innen gegen meine Brust, mit geballter Faust: nun sprich doch mit jemanden! Spreche doch jemanden an! Doch meine Finger prasselten unentwegt weiter auf die Tasten; bis ich hörte, dass die Tür geschlossen wurde. Ruhe kehrte ein im Raum, sekundenlang, wie wohltuend. Wie grausam.
Der Kurs wurde bald angefangen, bald beendet. Eine Zeit, die zeitlos war, gefühlte Zeitlosigkeit, weder lang, weder kurz, noch kurz- oder langweilig. Es war die Schwärze der Wahrnehmung, blind oder eingehüllt von Dunkelheit, nicht sehend oder aber auch beschützt sein. Schwarz-Weiß in der Dunkelheit.
Wieder ging ich einen Weg, diesmal nahm ich die Klinke direkt in die Hand, öffnete die Tür. Ich ging wieder zum Geländer, wieder schweifte der Blick. Dann sagte ich mir: Nein. Und drehte mich um. Eine Zigarette wanderte in meine Hand, die andere in die Tasche, ein Feuerzeug suchend, es findend, die Zigarette anzündend. Ein Licht in der taghellen Dunkelheit.
Eine Stimme neben mir, weder leise, noch laut, weder hart noch weich, eine schöne Stimme, fragte: „Darf ich?“
Sie lächelte mich an. Sie ließ sich nicht abschrecken von meiner Stimmung, die zum Sonnenscheinwetter so kontrastreiche. Ich gab ihr Feuer. Und was genau geschah; ich weiß es nicht. Manches wandert verdeckt durch die Seelenlandschaft, es ist dann da, man weiß nicht, woher es kam, aber da ist es. Und ich sagte mir: Was soll es. Ich fragte sie, was sie studiere. Es stellte sich heraus, dass wir, neben diesem gerade beendeten Kurs, noch einen weiteren gemeinsam haben. Sie hätte mich schon gesehen im immer überfüllten Hörsaal. Ich war ehrlich und sagte: „Ich dich nicht.“
Sie lächelte trotzdem. „Was nicht ist kann ja noch werden.“ Und ich schaute kurz nach unten, und es kam plötzlich: ein Lächeln. Da war es ohne Vorankündigung. Und ich schaute sie an, durfte lachen, ein entspanntes Lachen, befreiend. Und wir gingen zusammen in ein Cafe, tranken eine Schokolade auf dem sonnigen Marktplatz. Wir redeten, lachten, es war schön.
Und da erinnerte ich mich an ein Lied aus meiner Kindheit. Eine Strophe klang da in meinem Kopf: "Zebrastreifen, Zebrastreifen, manche werden's nie begreifen..."
Das Leben ist wie ein Zebrastreifen. Und auch, wenn dort schwarze und weiße Streifen sind: Zebrastreifen sind dazu da, über sie zu gehen und nicht vor ihnen zu resignieren.