Zehn Minuten später
Zehn Minuten später
Ich starre in meinen Kaffee. Was war das bloß gewesen heute Nacht. Diese verfluchten Kopfschmerzen hindern mich daran, vernünftig zu denken. Als ob mein Kopf zwischen Schraubzwingen stecken würde, die immer fester angezogen werden. Ich hatte einen Traum. Einen Traum, aus dem ich schweißnass und mit hämmerndem Herzen aufgewacht bin. Ein Blick zur Uhr. Ich bin schon spät dran und hätte eigentlich schon längst los gehen müssen. Ich massiere mir die Stirn. Genau wie in meinem Traum!
Plötzlich fällt es mir wieder ein.
Im Traum juckt meine Stirn wie verrückt. Ich sehe in einem Spiegel ein Gesicht, das mich misstrauisch anstarrt. Schwarze Stoppelhaare, Augenbrauen wie dicke Schnüre über stechenden blauen Augen, ein schmaler Mund – mein Gesicht.
Eine Hand bewegt sich auf die Stirn zu und rubbelt an der dicken Beule, die mitten darauf prangt, grünlich schillernd und prall, als ob jeden Moment Eiter daraus hervorbrechen wollte. Meine Finger gehorchen mir nicht mehr. Wie kleine eigenwillige Tiere fangen sie an zu reiben.
Was für ein Gefühl das ist! Als ob diese Beule eine armdicke Leitung zum Lustzentrum meines Gehirns hätte. Wie toll reiben meine Finger. Nägel graben sich ins Fleisch, während mein Körper krampfhaft zittert, zerren an meiner Gesichtshaut, streifen sie ab wie eine Gummimaske. Ein Gesicht kommt zum Vorschein, blass, kahlköpfig, mit wulstigen grellroten Lippen - die Lippen eines Clowns. Diese Lippen lächeln mich an, als wollten sie sagen: Na, gefällst du dir jetzt? Grauen kriecht wie Eis durch meine Adern ...
Ich fahre mir mit der Hand über das Gesicht, um die Bilder weg zu wischen. Meine Stirn ist glatt. Keine Beule, kein Jucken. Ich seufze und schüttele den Kopf über meine Dummheit. Träume sind Schäume!
Wenig später haste ich die Stufen hinunter.
Ich bin zehn Minuten später auf der Straße als sonst und treffe infolgedessen auf völlig fremde Leute. Da, der alte Mann im Nebeneingang. Nie gesehen. Er holt seine Zeitung aus dem Briefkasten. Dann blickt er zu mir und grüßt freundlich. Er sieht erstaunt aus. Selbstverständlich. Auch er kennt mich ja nicht. Ich erwidere seinen Gruß. Dann gehe ich zur Straßenecke. Die Ampel steht auf Rot, was sie sonst nie tut. Es warten schon ein paar Schulkinder mit bunten Taschen. Ein Junge sieht mich an und streckt mir die Zunge heraus, ein dickes fleischiges Ding, das er in einer Art und Weise hin und her bewegt, die nur obszön zu nennen ist. Ich sehe peinlich berührt weg. Auf der anderen Straßenseite steht der Mann von vorhin. Wie hat er das gemacht? Er trägt, wie mir jetzt erst auffällt, noch seine Hausschuhe. Er lässt seine Zeitung fallen, geht filzpantoffelnd davon. Inzwischen hat unsere Gruppe Zuwachs bekommen, einige ältere Damen in Schwarz mit großen Hüten. Eine von ihnen beugt sich zu dem Jungen, der immer noch die Zunge herausstreckt und gibt ihm eine schallende Ohrfeige. Zack! Die Zunge flutscht zurück. Wie bei einer Schlange, denke ich.
„Diese Jugend heutzutage“, sagt die Dame.
Noch ehe ich mich bei ihr bedanken kann, gerät die Menge um mich her in Bewegung. Ein Blick zur Ampel – die ist aus. Doch ein Verkehrspolizist rudert eifrig mit seinen weißen Handschuhen, winkt uns über die Straße. Sein Gesicht, auch dieses Gesicht habe ich nie zuvor gesehen. Er verzieht keine Miene, als er mich anblickt.
Nachdem wir die Straße überquert haben, will ich zu der Zeitung gehen, um sie aufzuheben. Vielleicht sehe ich ja den Alten noch und kann sie ihm geben.
Doch hinter mir ertönt eine Bassstimme.
„Bitte weitergehen.“
Ich drehe mich halb um und sehe, dass der Polizist sich uns angeschlossen hat. Ich will aus der Menge aussscheren, die noch weiter angewachsen ist. Es haben sich mehrere Herren mittleren Alters zu uns gesellt, die helle Staubmäntel und schwarze Aktentaschen tragen. Ich bemerke, dass ich meine eigene Aktentasche zu Hause vergessen habe. Dabei hätte ich die Unterlagen gerade heute dringend gebraucht. Als wollte er mich verhöhnen, schwenkt einer der Männer seine Aktentasche und ich entdecke, dass es meine ist. Ich habe sie also doch nicht vergessen!
Der Mann wendet sich mir zu. Ich starre ihn an. Wulstige Clownslippen in einem glatzköpfigen Clownsgesicht sind zu einem Grinsen verzogen. Mir wird schlecht. Ich sollte nicht soviel Kaffee trinken. Der Mann hat gesehen, dass ich gesehen habe, dass er meine Aktentasche hat. Ja, ich glaube sogar, er wollte, dass ich es sehe.
Ich schiebe mich durch die Menge auf den Mann zu. Er beschleunigt seine Schritte. Ihm nach. Ich versuche an den Damen vorbei zu kommen und ernte empörte Blicke und böse Bemerkungen.
„So ein Flegel!“, schimpft eine der Damen.
„Flegel, Flegel“, kreischt der Junge und streckt mir erneut seine Zunge heraus.
Hilfe suchend wende ich mich an den Polizisten.
„Herr Polizist, der da, der hat meine Aktentasche gestohlen!“
Der Polizist, der uns immer noch folgt, obwohl wir längst die Straße überquert haben, zuckt die Schultern. Es ist ja auch nicht seine Tasche.
Die Wut verleiht mir genug Kraft, mich durch die Menge durchzuboxen. Vorher verpasse ich aber der Rotzgöre noch eine. Zack! Die Zunge flutscht zurück. Beeindruckend.
Ich schaffe es, mich an den Damen vorbei zu drängeln. Sie bearbeiten mich mit ihren Regenschirmen, aber das ist mir egal. Die Sonne hat inzwischen schon beträchtlich an Höhe gewonnen. Auch das ist mir egal. Zwei der Herren in mittlerem Alter bauen ihre Staubmäntel wie Wälle vor mir auf. Als ob mich das aufhalten könnte. Ich reiße sie nieder, die Wälle, trampele auf ihnen herum, überwinde sie. Der Polizist hinter mir stößt einen gellenden Trillerpfiff aus. Egal. Egal. Ich muss meine Tasche wieder haben, haste hinter dem Dieb her, der jetzt anfängt zu rennen. Er blickt sich zu mir um, als wollte er sagen, Fang mich doch, fang mich doch.
Unsere Schritte hallen in einem komplizierten Trommelrhythmus durch die morgenleere Straße – seine kurz und schnell, meine nicht ganz so schnell und dafür etwas länger. Alle paar Minuten befinden sie sich im Gleichklang, entfernen sich dann wieder, um bald darauf erneut zusammenzutreffen. Über diesem Pflastertremolo erhebt sich als Oberstimme das Pfeifen des Polizisten. Hätte ich mehr Muße, würde ich diese durch Zufall geborene Musik gewiss zu würdigen wissen. Jetzt nicht. Ich merke, wie der Abstand zwischen mir und dem Fremden immer größer wird. Gleichzeitig wird das Grinsen in dem hellen Oval seines Gesichtes, das er mir ab und zu zuwendet, immer frecher. Ich bin nicht mehr der Jüngste, spüre ein Stechen in der Seite, schnaufe wie eine Dampflock und die Luft schneidet mit tausend glühenden Messern in meine Lungen.
Er biegt in eine Seitenstraße ein, hat schon hundert Meter Vorsprung. Als ich völlig außer Atem ebenfalls an der Ecke ankomme, sehe ich die Gasse, in die er eingebogen ist, leer vor mir liegen. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn. Links und rechts drücken sich düstere Mietskasernen schutzsuchend aneinander, das obere Ende der Gasse wird durch einen Häuserblock abgeschlossen.
Ratlos stehe ich da und mein Brustkorb hebt und senkt sich in dem verzweifelten Bemühen, zur Ruhe zu kommen. Was nun? Wo kann er hin sein? Zögernd gehe ich ein paar Schritte in die Gasse hinein.
Da öffnet sich vor mir quietschend eine Haustür und der alte Mann von vorhin tritt filzpantoffelnd auf die Straße. Er blickt mich an, als hätte er schon auf mich gewartet. Aus der Nähe erkenne ich, dass er uralt sein muss. Tiefe Furchen durchziehen sein Gesicht und sein Kopf wackelt ununterbrochen. Er lächelt mich an und entblößt dabei einen mit wenigen Zahnruinen bestückten Mund.
„Haben Sie vielleicht meine Zeitung mitgebracht?“, spricht er mich mit einem zittrigen Stimmchen an.
„N...nein. Tut mir leid.“ Schuldbewusst mache ich ein betrübtes Gesicht. „Ich wollte sie Ihnen mitbringen, aber die anderen haben mich ...“
„Verstehe, verstehe. Das ist schade, sehr schade.“ Als wollte er seine Worte betonen, wackelt sein Kopf jetzt stärker.
„Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee mit mir trinken?“, fragt der Alte und bei dem Wort Kaffee kriecht ein übles Gefühl in meinem Magen hoch und breitet sich im ganzen Körper aus.
„Ein anderes Mal vielleicht“, wehre ich ab und muss fassungslos mit ansehen, wie mir der Alte eine große rote Zunge herausstreckt und sie obszön hin und her bewegt. Nein, ich will das nicht sehen. Ich ertrage das nicht. Ich wende mich ab. Da sehe ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinter den Fenstern eines Hauses im ersten Stock vage das Gesicht des Diebes, ein rosiges Ding, wie ein kleiner Luftballon.
Der Alte ist vergessen. Sofort renne ich über die Straße, will über die Straße rennen, doch der Mann klammert sich an meinen Arm.
„Geben Sie mir meine Zeitung“, knurrt er und seine Stimme ist auf einmal gar nicht mehr zittrig, sondern hat etwas vom Knurren eines Hundes. Verzweifelt versuche ich, ihn abzuschütteln.
„So ... lassen ... Sie doch ... los. Ich ... habe Ihre Zeitung nicht.“
Ich laufe ein paar Schritte und der Alte hängt an meinem Arm und wird mitgeschleift. So geht das nicht.
„Lassen Sie los!“, schreie ich und versetze dem alten Mann mit meiner freien Hand einen Faustschlag ins Gesicht. Gleichzeitig schüttele ich den Arm und er geht wie Fallobst zu Boden. Endlich. Ohne ihn noch weiter zu beachten, drehe ich mich um und renne über die Straße auf das Haus zu. Wertvolle Sekunden habe ich verloren.
Von hinten höre ich den Alten greinen: „Meine Zeitung. Der Dieb hat meine Zeitung gestohlen.“
Damit meint er mich, der Verrückte. Es ist nicht zu fassen. Ich blicke zum Fenster, aus dem eben noch ein rosiges Mondgesicht auf die Straße gesehen hat. Es ist leer. Und schon bin ich an der Haustür, reiße sie auf und befinde mich in einem dämmrigen Flur, in dem es muffig riecht. Stuck an den Wänden, ein rostrot gestrichenes Treppengeländer. Zum Hof hin ist auf dem Treppenabsatz über mir ein wunderschönes Mosaikfenster zu sehen. Es zeigt im Arm einer jungen Frau einen kleinen pausbäckigen Jungen. Als der Junge bemerkt, dass ich ihn ansehe, streckt er mir eine dicke rosige Zunge heraus. Ich stöhne gequält auf. Wieder wird mir schlecht. Der viele Kaffee. Was sonst?
„Diese Jugend heutzutage“, murmele ich.
Dann höre ich über mir hastige Schritte, die sich nach oben entfernen.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend jage ich die Treppe hoch, dem Geräusch nach. Im Vorbeilaufen klebe ich der Rotznase in dem Mosaik eine.
Zack! Die Zunge flutscht zurück. Na bitte.
Ich habe keine Zeit mich über meinen Erfolg zu freuen. Das Hallen der Schritte über mir treibt mich zur Eile.
Die Treppe windet sich in endlosen Schleifen nach oben, auf jedem Treppenabsatz ein Mosaikfenster.
Zack! ... Zack! ... Zack! ...
Ich muss mittlerweile schon in der vierten oder fünften Etage sein. So hoch hatte ich das Haus gar nicht in Erinnerung. Ich höre die Schritte des Mannes mit der Aktentasche schon viel deutlicher. Er hat höchstens noch ein, zwei Treppenabsätze Vorsprung. Mein Seitenstechen meldet sich zurück. Wenn nur mein Herz durchhält, alles andere lässt sich ignorieren.
Da! Ich sehe ihn. Eben ist er um die Ecke gewischt. Ich hole alles aus meinem Körper heraus, fliege mit Riesensätzen die Treppe hoch, komme dem Dieb immer näher. Gleich. Gleich habe ich ihn.
Er dreht sich zu mir um. Sein Gesicht ist wutverzerrt. Der Mann ist jetzt nur noch ein paar Stufen über mir, wird wahrscheinlich durch seinen Mantel behindert. Und durch die Aktentasche.
Mit einem Panthersatz schnelle ich die letzten Stufen hoch und umklammere seine Beine. Will sie umklammern. Aber ich habe mich verrechnet. Ich erwische nur einen Schuh von ihm. Mit dem freien Schuh tritt er mir mit voller Wucht an die Stirn. Ich sehe Sterne vor den Augen und ein höllischer Schmerz zuckt durch meinen Schädel. Trotzdem lasse ich nicht locker. Gerade will er mir noch einen Tritt verpassen, da bekomme ich auch sein zweites Bein zu packen und reiße daran. Er rudert mit den Armen, lässt die Tasche fallen und stößt einen schrillen Schrei aus, der so gar nicht zu seinem Clowsgesicht passen will. Dann kracht er mit dem Kopf auf die Stufen und rollt an mir vorbei die Treppe hinunter. Auf dem Absatz bleibt er liegen und rührt sich nicht mehr.
Kein Bedauern regt sich in mir. Geschieht ihm recht, dem Dieb!
Endlich habe ich meine Aktentasche wieder. Ich stelle sie auf die Treppe und öffne sie.
Ich sehe das Innere der Tasche und begreife nichts. Deshalb der Aufwand? Ich kneife die Augen zusammen, sehe noch einmal hin, aber das Ergebnis ist das gleiche.
In der Aktentasche ist nichts. Nichts, bis auf einen Spiegel, der in den Deckel eingelassen ist.
Ich sehe in den Spiegel hinein.
Ein Gesicht beäugt mich. Schwarze Stoppelhaare, Augenbrauen wie dicke Schnüre über stechenden blauen Augen, ein schmaler Mund.
Und ... meine Hände fangen an zu zittern. Schweiß tritt auf meine Stirn. Meine Augen weiten sich. Trotz des Dämmerlichtes im Flur ist es deutlich zu sehen: Auf meiner Stirn, dort, wo mich der Schuh getroffen hat, prangt eine rote Beule, die mit unglaublicher Geschwindigkeit wächst, die Farbe von Rot zu Grünlich –Gelb wechselt und wie Feuer brennt und juckt. Meine Finger werden magnetisch von ihr angezogen...