Was ist neu

Zehn Minuten vor Sieben

Mitglied
Beitritt
25.07.2008
Beiträge
2

Zehn Minuten vor Sieben

Es ist seltsam, sehr seltsam sogar nach so langer Zeit wieder hier zu sein. Alles steht völlig unberührt da. Leblos. Einfach so. Irgendetwas schwebt in der Luft, ich weiß nicht genau was. Vollkommen unbeschreiblich. Als Kind war ich oft hier oben auf dem Dachboden. Es war komplett anders. Das einfallende Licht hat den Raum in einen heiteren Saal verwandelt. Die Spinnennetze in den Ecken waren funkelnde Diamantenketten und in der Luft tanzte glitzernder Staub. Der ganze Raum steckte voller bunter Abenteuer und Geheimnisse.
Heute befremdet mich dieser Ort. Es ist kalt. Alles wirkt stumpf und farblos. Von Heiterkeit und Glanz ist nichts mehr zu erkennen. Aber das ist er wohl, der Preis des Erwachsenwerdens. Die Gabe alles um sich herum in eine kleine fantastische Welt zu verwandeln verliert sich nun mal mit Jahren. Aber genug der Wehmut. Schließlich war die Kiste mit alten Schulunterlagen mein Ziel hier oben. Langsam streift mein Blick durch den Raum. Dann sehe ich ihn. Der Karton steht ganz hinten neben dem alten Sofa. Als ich mir den Weg durch die herumstehende Vergangenheit gebahnt habe und mit angewinkelten Knien auf dem rauen Holzboden vor der Kiste sitze, merke ich wie mich ein Hauch vergangener Abenteuerlust überkommt. Schon immer habe ich es geliebt mich in alten Sachen auf Schatzsuche zu begeben. Alte Hefte und Zeugnisse fallen mir in die Hände. Sogar eine alte Briefmarkensammlung findet sich zwischen dem ganzen Krempel. Wirklich alles, was über die Zeit an Bedeutung verloren hat, hat hier seinen Platz gefunden.

Auf einmal halte ich ein Foto in den Händen. Es zeigt eine Person vor grün bewachsener Kulisse. Wer ist das? Anna... Anna ist das. Es kommt völlig unerwartet. Ich merke wie mir eine seltsame Unruhe auflauert. Kurz schaue ich auf und schiele mit angehaltenem Atem horchend zur Seite. Nichts. Erneut wende ich mich dem Foto zu. „Es ist doch schon so lange her“, murmle ich in Gedanken verloren vor mich hin. So lange liegen die Tage zurück in denen der Versuch scheiterte diesen Abschnitt aus meinem Leben zu verbannen. Ich erinnere mich an den Entstehungszeitpunkt des Bildes. Es war im Sommer 98. Den Letzten den wir zusammen verbracht haben. Sie sieht mich direkt an. Ich habe das Gefühl als wollte sie sagen: „Hier bin ich. Du kannst deine Vergangenheit nicht einfach so hinter dir lassen.“ Hektisch tastet mein Blick das Foto ab. Die Augen, die Haare, die seltsame Stille die sie umgibt – ihre ganze eigenwillige Individualität. Alles wirkt so vertraut… oder auch nicht. Es ist so viel passiert. Sie konnte es nie verstehen.

Seit der Vorschule waren wir unzertrennlich gewesen. Alles haben wir geteilt. Erfreuliches ebenso wie Unerfreuliches. Schlechte Noten, Stress mit der Familie, der erste Freund, das erste Auto. Wir hatten so viele Pläne. Und dann - wurden wir älter.
Aus zu unterschiedlichen Perspektiven begannen wir die Welt zu betrachten. Es erschreckte mich selbst, wie schnell der wichtigste Mensch in deinem Leben zu deinem größten Laster werden kann. Und irgendwann konnte ich nicht mehr. Ich musste weg. Alles was mir bis dahin so vertraut gewesen war nahm mir plötzlich die Luft. Ich musste raus, die Welt sehn, Menschen kennen lernen, fremde Länder entdecken. Einfach all das wozu sie verdammt noch mal nie den Mut hatte. Es gab kein auf Wieder sehn. Ich ging einfach. Ohne Abschiedszene und ohne Rechtfertigung. Ihr Unverständnis, ihren vorwurfsvollen Blick, den sie damals so oft genutzt hat, um mir klar zu machen, dass ich wieder irgendwas falsch gemacht hatte, das dachte ich, hätte ich nicht ertragen können. Und deshalb ging ich.

Es war dann in Berlin als wir uns nach sieben Jahren zum ersten und letzten Mal wieder gesehen haben. Am Bahnhof. Sie stieg gerade in die U-Bahn ein, aus der ich kam. Mir kommt es so vor als würde mir der Schreck, den ich bekommen habe, als ich sie unter den vielen Leuten erkannte noch heute in den Knochen sitzen. Ich zweifelte, war sie’s wirklich? Ja, das war Anna. Älter - aber sie war es. Auch sie hatte mich gesehen. Die Welt hielt einen Moment inne. Das ganze Treiben um uns herum war komplett ausgeblendet. Da waren nur wir zwei. Ihr Blick war nicht direkt erschrocken, eher ausdruckslos. Sie schaute mich einfach nur an.
Wir hetzten beide Terminen hinterher, dennoch reichte die Zeit um mir ihre Adresse geben zu lassen. Sie lud mich für Donnerstagabend ein.
Die ganzen Tage davor war ich am überlegen ob ich wirklich hingehen sollte. Was würde mich erwarten? Ich hatte Angst, Angst dass mich zu viel einholen könnte. Sollte ich wirklich dieses nie abgeschlossene Kapitel noch einmal aufschlagen? Würde es jetzt sein tragisches Ende bekommen? Schließlich überwand ich mich dazu. Allein schon wegen dem schlechten Gewissen das mich über all die Jahre begleitet hatte. Das war ich ihr einfach schuldig.

Es war eine kleine Wohnung in einem ungepflegten Altbau. Im Treppenhaus lag ein stechender Ammoniakgeruch in der Luft und die Wände waren in einem seltsam, altmodischen Grün gestrichen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals als ich die alten Stufen langsam hinauf ging. Dann stand ich vor ihrer Tür. Der Nachname auf dem Klingelschild war derselbe wie vor sieben Jahren… sie war also scheinbar nicht verheiratet. Nach kurzem Zögern klingelte ich. Die Tür ging auf und da stand sie. Sie trug eine ausgebeulte Jeans und eine verblichene schwarze Bluse, die Haare zu einem Zopf zusammen gebunden. Ihr Blick war wieder ohne jegliche Aussage, genau wie am Bahnhof.

Sie nahm mir den Mantel ab und bat mich in eine kleine Wohnküche. Die Ausstattung war wild zusammengewürfelt. Wahllos und ohne Struktur. Nicht einmal das Teeservice in dem sie mir einen Pfefferminztee anbot war einheitlich.
Nervös stocherte sie mit dem Löffel in ihrer Tasse herum. Sie nahm einen Schluck und warf mir ein erwartungsvolles „Und?“ zu.
„Und was?“, fragte ich sie.
„Hast du mir nichts sagen?“
„Doch…wahrscheinlich hab ich das.“, entgegnete ich zögerlich. Ich merkte wie ihre Augen jetzt schon langsam glasiger wurden. Nervös sah ich mich im Raum um. Über dem Türrahmen hing eine weiße Uhr mit blauen Ziffern. Sie zeigte zehn Minuten vor Sieben. Dann sah ich sie an. In ihrem Gesicht zeichneten sich tiefe Augenringe ab. Der Mund war rissig und die Haut trocken. Sie wirkte so viel älter als sie tatsächlich war. Scheinbar war ihr in den sieben Jahren nicht viel Gutes widerfahren. War das meine Schuld? War ich schuld, dass sie so schlecht aussah? Nein, das konnte nicht sein. Jeder hat sein Leben selbst in der Hand sagte ich mir. Ich drängte mein schlechtes Gewissen in den Hintergrund. Dann holte ich Luft und fing an: „Weißt du, es lag nicht nur an dir damals.“
Starr sah sie mich an. Jetzt wirkte sie noch gekränkter als zuvor. Ihr Blick verengte sich. Dann platze es aus ihr heraus: „Oh wie schön, dann war es also nicht meine Schuld das du einfach vom einen auf den anderen Tag verschwindest ohne ein einziges Wort sagen. Das beruhigt mich aber ungemein.“ Ihr Atem war schnell und schwer.
Ich wandte meinen Blick zum Boden und versuchte zu erklären: „Es gab Gründe für mein Verhalten.“
Wütend knallte sie die Tasse auf den Tisch und sagte mit einem ironischen Lachen in der Stimme: „Die würde ich aber zu gern mal erfahren, diese Gründe.“
Ich fing an zu stottern: „Es war…die ganze Situation irgendwie. Ich kam damit einfach nicht mehr zu Recht…und…“, dann verstummte ich.
Entnervt sah sie zur Seite und verschränkte die Arme über der Brust.
„Kein auf Wieder sehn, kein Abschiedbrief, nichts! Du hättest die melden können in all den Jahren. Stattdessen treffe ich dich am Bahnhof wieder - per Zufall!
Weißt du eigentlich was das damals für mich bedeutet hat? Meine wichtigste Bezugsperson verschwindet einfach aus meinem Leben. So lange hab ich versucht das zu verstehen. Irgendwelche Antworten zu finden. Aber es ging einfach nicht. Verstehst du? Ich war kurz davor an dieser ganze Geschichte endgültig zu zerbrechen. Und jetzt sitzt du hier und erzählst mir etwas von wegen, du hättest deine Gründe gehabt. Was soll ich damit anfangen? Wo ist meine Genugtuung? Und wo ist deine Vergeltung? Sag mir irgendwas, irgendetwas damit abschließen kann, damit ich nicht länger an der Vergangenheit Festhänge. Gib mir etwas an dem ich halten kann ohne dich dabei wie sonst immer in den Vordergrund zu stellen. Sei einfach dieses einmal nicht so verdammt selbstgerecht!“
Ich kämpfte mit Tränen. Sie schien so unglaublich verletzt. Wahrscheinlich wurde mir wirklich erst in diesem Moment klar welche Folgen meine damalige Entscheidung wirklich gehabt hatte. Die Situation wurde beinahe unerträglich für mich.
Ich musste da raus. Das war einfach zu viel.
Zaghaft räusperte ich mich und sagte mit zittriger Stimme: „Es tut mir Leid Anna. Ich kann dir nicht geben wonach du verlangst. Ich kann dir nur sagen, dass es mir Leid tut. Und das wirklich von Herzen, aber ich denke nicht, dass uns das weiterbringt. Es ist wahrscheinlich das Beste wenn ich jetzt gehe.“
Fassungslos schüttelte sie mit dem Kopf.
„Das bist wieder so original Du. Sobald es unangenehm wird ergreifst du die Flucht. Schon immer war das so.“ Dann hielt sie einen kurzen Moment inne.
„Aber vielleicht ist es wirklich das Beste. Ein Zurück gibt es ohnehin schon lange nicht mehr.“
Danach verließ ich beinahe fluchtartig ihre Wohnung und irrte noch eine Weile ziellos durch die Straßen bis ich irgendwann erschöpft an meinem Hotel ankam.

Das war das letzte Mal das ich sie gesehen hab. Jetzt im Nachhinein glaube ich, dass das wirklich der schlimmste Moment in meinem Leben war. In dieser Wohnung allein mit ihr, in direkter Konfrontation mit all dem was passiert war. Aber war wirklich alles meine Schuld gewesen? Hatte ich alles komplett falsch gemacht? Es muss doch einen gewissen Punkt geben an dem man einfach loslassen kann, sich mit schmerzlichen Erfahrungen versöhnt und anfängt wieder nach vorne zu schauen. Keiner kann einfach stehen bleiben. Und wenn doch – dann zieht das Leben an einem vorüber. Jeder durchlebt schwierige Zeiten. Aber es ist doch so, entweder du hältst den Kopf über Wasser und wächst an deinen Aufgaben oder du gibst dich auf und zerbrichst an ihnen. Wo da die Fairness bleibt weiß ich selbst nicht. Über das, was mit denen passiert die nicht genug Stärke besitzen oder denen zu große Aufgaben zugemutet werden bin ich mir nicht sicher. Ich denke sie bleiben einfach zurück.

Plötzlich reißt mich etwas aus meinen Gedanken. Es ist meine 4-jährige Tochter. Sie steht unten an der Leiter zum Dachboden und ruft mir zu, dass meine Eltern mit dem Essen warten.
Noch einmal streift mein Blick über das Foto, ehe ich es in ein Buch zurücklege und wieder ganz unten in der Kiste verstaue. „Ja, diesen Zeitpunkt gibt es – ich bin mir sicher dass es ihn gibt“, sage ich mir leise und steige zu meiner wartenden Tochter hinunter die mir ihre kleine Hand zustreckt.
„Was ist?“, fragt sich mich und schaut mich mit ihren großen blauen Augen fragend an. Sanft lächele ich und gebe ihr einen leichten Kuss auf ihre blonden Haare.
„Nichts mein Schatz, ich war nur in Gedanken. Nur in Gedanken an das was war.“

 

Hallo Janemay!

Zunächst: Mir hat die Geschichte gefallen. Am Anfang kam ich etwa schwer rein, zur Mitte hin gings dann besser. Die Stimmung gefällt mir, und auch die Gedanken beider Personen sind für mich nachvollziehbar.

Was allerdings stört, und wo du dringend nachbessern müsstest, sind die fehlenden Kommas in deiner Geschichte. Wenn du drei ... viermal so viele hineinstreust (an die richtigen Plätze), dann wäre es besser lesbar.

Schöne Grüße,

yours

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Janemay!

Deine Geschichte hat mir gefallen, obwohl ich es schade finde, dass am Schluss keine Aufklärung stattfindet, was zwischen Anna und der Protagonistin vorgefallen ist.

Ein paar Kleinigkeiten sind mir aufgefallen:

Es war dann in Berlin als wir uns nach sieben Jahren zum ersten und letzten Mal wieder gesehen haben

Schreibt man nicht "wiedersehen"?

Die ganzen Tage davor war ich am überlegen ob ich wirklich hingehen sollte.

Hier würde ich schreiben:
Die ganzen Tage davor überlegte ich, ob ich wirklich hingehen sollte.

Und ich kann mich yours truly nur anschließen: Ein paar Kommas würden die Lesbarkeit des Textes verbessern.


Herzliche Grüße
Glückskäfer

 

Hallo zusammen,

Danke erst mal für die Kritik. Schreiberisch war "Zehn Minuten vor Sieben" hinsichtlich auf Kurzgeschichten meine absolute Premiere. Ich war mir an vielen Stellen beim Entstehungsprozess noch relativ unsicher. Gerade auch beim Einstieg, wie du sagst yours truly, bin ich mir bewusst, dass es etwas holprig ist. Dennoch hab ich mich nach längerem Herumprobieren für diese Version entschieden.

Bezüglich der fehlenden Aufklärung über Vorfälle zwischen meiner Protagonistin und Anna: Es gibt keine, weil auch nichts weiter stattgefunden hat. Alles was es bedeutender Vorgeschichte gibt, ist im Text enthalten. Ich denke der Satz "Aus zu unterschiedlichen Perspektiven begannen wir die Welt zu betrachten." beschreibt es ganz gut. Es gab kein einschneidendes Erlebnis, das die Entscheidung verursacht hat. Es geht einfach um eine, sich über längeren Zeitraum entwickelte, Distanz und letztendlich den Punkt an dem man merkt, dass man seinen eigenen Weg gehen und sich von bestimmten Menschen lösen muss.

Und noch zur kritisierten Kommasetzung: Ich bin mir allgemein bei der Zeichensetzung immer sehr unschlüssig. Das war und bleibt vermutlich auch noch eine Zeit lang eine Schwäche von mir. Ich werde den Text aber auf jeden Fall hinsichtlich der Kommas nochmal überarbeiten.


Liebe Grüße J.

 

Hallo Janemay,

ich habe dir mal ein Dokument hochgeladen, in dem du die meisten Kommafehler sehen kannst. Auch einige andere Dinge habe ich da kommentiert und aufgelistet.

Mir ist deine Geschichte etwas zu lang, nicht weil sie so und so lang ist, sondern weil sie mir etwas zu viel an Gedanken vorkaut, die sich wiederholen. Zwar finde ich reizvoll, wie du die Einstellung, jeder wäre seines Glückes Schmied gegen die Realität der Schuldgefühle setzt, letztlich soll ja das eine nicht zu bedingungslosem Egoismus ermutigen, was oft genug passiert, aber andererseits kann man sich auch in seiner Entwicklung nicht bremsen lassen. Auch finde ich deine Geschichte trotz der vielen Markierungen und Anmerkungen in der Datei für die ersten wirklich gelungen.

Lieben Gruß
sim

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom