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Zeit für Optimisten
Wecker klingelt. Ich wehre mich nicht und stehe auf. Gehe ins Bad, dusche, putze mir die Zähne, tusche mir die Wimpern, bereite mich auf einen weiteren Tag vor, an dem ich mir nur noch wünsche, endlich wieder ins Bett zu gehen.
Ich frühstücke -nichts. Mir wird schlecht wenn ich dran denke, morgens schon was zu essen. Ich bin nicht magersüchtig, habe auch keine Bulimie oder so was. Ich hab morgens einfach keinen Hunger. Stattdessen mache ich mir einen halben Liter Instant-Kaffee, den ich innerhalb einer halben Stunde herunter kippe. Ich mache mir noch einen Liter in einer Thermosflasche, die ich in meine Schultasche packe. Hossa, so sollte ich den Tag schon überstehen! Rosige Aussichten dank Koffein.
Ich schwinge mich aufs Fahrrad, schon fast acht Uhr. Um halb beginnt der Unterricht. Ich brauche zwar nur fünf Minuten für den Schulweg, aber so schaffe ich vor Unterrichtsbeginn noch eine Tasse Kaffee.
Halb Neun- ein dreifaches Hoch auf die Kaffee-Industrie. Die dritte Welt sorgt dafür, das ich wach bleibe, sorgt für meine Intelligenz, für meinen Schulabschluss. Super. Einen herzlichen Dank an die Kinder, die meine Kaffeebohnen gepflückt haben. Vielleicht übernehm ich ja mal eine Patenschaft für einen von euch. Später, wenn ich dank meines Schulabschlusses viel Geld verdiene.
Zwanzig vor neun. „Ihr werdet keinen Ausbildungsplatz bekommen weil der Markt überlaufen ist.“
Halb elf. Pause, Kaffee trinken, weiter. Wach aussehen oder zumindest so tun als ob man es wäre.
Zwölf. „Ihr werdet keinen Job bekommen, weil ihr im Accessment-Center versagt, weil ihr zu dumm für Mathe seid.“
Ein Uhr. Eigentlich Zeit fürs Mittagessen, hab aber keinen Hunger. Werde langsam wieder müde. Noch eine Tasse Kaffee.
Halb Zwei. „Ihr werdet keinen Studienplatz bekommen, weil euer NC zu schlecht ist. Und wenn doch, könnt ihr es euch nicht leisten, weil ihr dafür sorgen müsst, dass eure Eltern Butter aufs Brot kriegen im Altersheim.“
Halb Drei. Tasse Kaffee? Fuck, leer. Egal, nur noch eine Stunde, dann geht’s weiter.
Halb vier. „Ihr werdet eure Kinder später nicht ernähren können, wenn ihr weiterhin so wenig lernt.“
Ich schwinge mich wieder aufs Fahrrad. Wird wohl nichts mit der Patenschaft, ich krieg ja eh keinen Job.
Ich komme zu Hause an, wechsle meine Klamotten, setze mich an meinen Schreibtisch und lerne. Ich lerne nicht für die Schule, ich lerne fürs Leben. Ich möchte Linguistik studieren und beschäftige mich mit Vektoren und Matrizen. Wie sinnig. Aber- wenn ich kein Mathe kann, versage ich im Leben.
Ich will Drechslermeisterin werden und lerne Griechisch. Aber- wenn ich kein Griechisch kann, werd ich mir auch nie Urlaub in Griechenland leisten können.
Ich möchte Hausfrau und Mutter werden. Aber- wenn ich keine Atommodelle zeichnen kann, kann ich meinen Kindern das Fläschchen nicht warm machen und sie müssen elendig verhungern.
Wer sich dieses Prinzip ausgedacht hat, hat irgendetwas Grundlegendes übersehen.
Halb sieben. Könnte mal Abendessen für meine Familie auf den Tisch stellen. Ich gehe runter und mache Brote für meine Mutter, meinen Bruder und mich- mein Stiefvater hat Spätschicht und ist nicht da. Die beiden sitzen vor dem Fernseher, reagieren kaum auf meine Frage, was sie dazu trinken wollen. Ich mach mir noch einen Kaffee, verziehe mich wieder in mein Zimmer- Moment, hab was vergessen. Ich sollte auch mal langsam was essen. Ich schmiere mir auch ein Brot und esse es zu Darwins Evolutionstheorie.
Halb neun. Na, noch einen Kaffee? Könnt nicht schade, muss immerhin noch einen Aufsatz über Shakespeare verfassen, zwar erst zu Übermorgen, aber vielleicht komme ich endlich mal wieder dazu ein Buch zu lesen, wenn ich ihn heute schon schreibe.
Halb eins. Ich gehe ins Bad, schminke mich ab, zieh mein Schlafshirt an und geh ins Bett. Ich lese noch ein halbe Stunde, dann mache ich das Licht aus und denke vor dem Einschlafen noch: Hey, ich hab ja wieder super funktioniert heute.