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Zeit im Turm

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11.09.2004
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Zeit im Turm

Zeit im Turm

"WARTEN SIE! BITTE WARTEN SIE DOCH! DAS FLUGBLATT IST FÜR SIE. ICH WARF ES ZU IHNEN HINUNTER. ICH SEHE SIE DORT UNTEN IN DER SONNE STEHEN! JAWOHL! BLICKEN SIE ZU MIR HINAUF, UND DANN LESEN SIE, WAS UNS WIDERFAHREN IST. ICH BEUGE MICH ÜBER DEN SONNENDURCHFLUTETEN PLATZ, AUF DEM SIE STEHEN. BLICKE SIND ZEIT: ICH LEBE VON BLICKEN UND ZEIT! HIER, SIE KÖNNEN MEINEN WINKENDEN ARM AUS DER DUNKELHEIT HERVORTRETEN SEHEN; MEIN GESICHT IST SCHWANENWEIß. ICH DANKE IHNEN. SIE WERDEN ES VERSTEHEN. BEGREIFEN. ALLES WERDEN SIE BEGREIFEN:

Es fing so harmlos an. Damals stapften wir entschlossen die brüchige Wendeltreppe des Turms hinauf. Wir waren eine eingeschworene Mannschaft von Auserwählten; stolz darauf, etwas Besonderes zu sein. Zu jeder Gelegenheit hockten wir uns zusammen und beratschlagten unser weiteres Vorgehen. Dazu legten wir Pausen ein, und jeder zeigte sich heilfroh, wenn es der andere war, der nach einer Rast verlangte. Die Stimmung war gut, und nach kurzer Zeit mochten wir einander. Mit allerlei Witzen hielten wir uns bei Laune, dann stimmten wir die bekanntesten Lieder an und brachen unter dem Gejaule tatkräftiger und vergnügter Männer in schallendes Gelächter aus, wenn jemand falsch sang, - und immer sang jemand erbärmlich falsch. Das Gefühl unlösbarer Verbundenheit trug uns sicher über die Stufen, und jeder war überzeugt, gemeinsam alles nur Erdenkliche bewältigen zu können. In jedem einzelnen schien die Ruhe wie ein Garant zu liegen, und auf seine Hoffnungen ließ niemand etwas kommen. Nichts konnte schief gehen. Mir wurden die mit krustigem Dreck verschmierten Gesichter der anderen zu einer freundlich - zugewandten und heimatlichen Landschaft. Mein Zuhause sozusagen. Ich fand neue Kräfte im Herausleuchten der blendendweißen Lachfalten, und im Stolz ihrer Augen. Aus ihren frohen Gemütern grinste der lebendige Beweis für ein gutes Gelingen. Bald wusste jeder über den anderen Bescheid: die Kinder - die Ehefrauen - die großen und kleinen Geheimnisse; Sehnsüchte und Ziele blieben nicht verborgen. Ich selbst hielt nichts hinterm Berg. Heute weiß ich nicht mehr, wann wir aufhörten, uns etwas vorzumachen... Schleichend begann es. Vielleicht war es die Enge des Turms, vielleicht aber auch die, die durch unsere Offenheit entstanden war. Die Furcht voreinander wuchs an ein so grauenvolles Maß heran, dass ich bald wie alle anderen schwieg. Treppensteigend in diesem Steinkäfig, wo jeder schwere Schritt den anderen übertönte, wurde unser Auftrag zu einer wahren Hölle. Drehte ich mich um, blickte ich auf die schweißtriefende, runzelige Stirn meines Hintermanns. Den Staub und Dreck aufwirbelnden Stiefelhacken des vor mir steigenden Kolonnenführers wich ich erst gar nicht mehr aus. Allein für sein erbarmungsloses Tempo, das er uns zeitweilig abverlangte, hasste ich ihn, und es wäre sein gerechter Lohn gewesen, wenn der rabenschwarze Schacht der Turmmitte ihn verschluckt hätte. Dann wieder half mir die Angst, die ich in seinen umhersuchenden Augen aufblitzen sah, Nachsicht an jene weiter zu leiten, die mir selbst mit verfluchenden Blicken an den Fersen klebten; denn ich war der zweite Mann!
Die immergleichen Rundungen des Turms boten uns weder Türen, Fenster, noch Haarritzen im Gestein, - untertage liefen wir dem Himmel entgegen! Für einen einzigen Lichtschimmer, einen winzigen Oktobersonnensplitter oder wenigstens einen Lufthauch, von mir aus schwarz wie die Nacht, hätte ich bereitwillig auf eine Tagesration meiner Speisetabletten verzichtet und sie in den Schacht geworfen. Das einzige aber, was uns jederzeit anfasste, war das grelle Flackern der gelben Stirnlampen, mit deren Schein wir die unzählbaren Wandfugen der nimmer endenden Kurven bis auf den Grund ausleuchteten. Wenn einer zu hetzen begann, hetzten bald alle, und die Müdigkeit war es, die uns in die schwerfällige Gehweise verbrauchter Männer zurückwarf. Mein Gott! - Wir waren noch jung! Auf sowas schickt man nicht die Alten. Getestet! Auserwählt! Jeder wusste, dass es nicht leicht werden würde. Und ich höre noch die Worte unserer Ausbilder: "Es wird sich für Sie lohnen, meine Herren! Sie werden es herausfinden! Sie sind der Zeit voraus! Wir brauchen Sie!" etcetera. Nichts, aber auch gar nichts fanden wir in Wahrheit heraus! Ich war mir nichtmal darüber im Klaren auf welcher Höhe wir uns gerade befanden. Dann hörten wir sie zum ersten Mal! - Und ich muss sagen, dass mich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr viel überraschte. Wir hörten sie ganz deutlich durchs Mauerwerk: Stein um Stein erhöhten sie den Turm und Ring um Ring. Es war nicht schwer zu erraten, dass es sich um Kräne, Lastzüge und an - und abfahrende LKW`s handelte - tagtäglich! Stündlich! Wir versuchten Schritt zu halten. Wurde es still, so kam die Nacht, die schöne, sternklare, blaue Nacht, die in Freiheit das Gemäuer umdunkelte. Jeder klappte nun seine Glieder zusammen, genau dort, wo er sich gerade befand, presste den Rücken an die bröckelnde Wand und rutschte in die Hocke. Träume kamen - wirre Träume - schöne Träume. Meine Kinder sah ich, meine Frau sah ich, immer liefen sie glücklich lachend auf mich zu: es ist Sonntag, alles ist grün, die Kinder spielen, ich habe zwei Töchter, ich weiß nicht wie alt sie nun sind, sie ist eine gute Mutter und begehrenswerte Frau, ich blickte aus einem Zug, der im Tunnel eines riesigen Berges verschwand. Am Tage versuchte ich, meine Träume, ob gut oder schlecht, zu erinnern, - ein wahres Geschenk.
Eines Morgens weckte mich ein grausiges Gepolter, welches von unten zu uns hochstieg. Erst glaubte ich nicht daran, dass die Stufen über die wir uns geschleppt hatten tatsächlich abreißen könnten. Erst nachdem dieses schreckliche Unglück geschehen war, das den hintersten Mann in die Tiefe stürzen ließ, wurde das entsetzliche Biegen, Grollen und Brechen zu einer uns vorwärtstreibenden Peitsche. Niemals werde ich den in den schwarzen Abgrund jagenden Schrei des Verlorenen vergessen. Mit unseren Äxten schlugen wir auf das funkensprühende Metall der uns verbindenden Ketten; danach einigten wir uns kurzerhand, auf jegliche Art von Sicherung zu verzichten. Inzwischen lief der Kolonnenführer irgendwo hinten. In einer der letzten Nächte entschied sich die Mannschaft, auf ihn zu pfeifen. Auch ich konnte die Position des Zweiten nicht halten und begnügte mich mit dem Mittelfeld. Weiter drückten wir uns ängstlich am Mauerwerk entlang, und immer häufiger ertappte ich mich bei der Vorstellung, an allen anderen vorbeizuziehen; doch der Rest von Vernunft, Anstand oder vielleicht einfach nur die Unfähigkeit, den richtigen Augenblick zu ergreifen, hielt mich zurück. Als aber plötzlich eine hirnlose Hetzerei in Gang geriet, bereute ich all meine Skrupel. Unter unseren Füßen schwoll das Grollen ins Unermessliche an, und unsere Angst wurde so groß, dass ich in den erstarrten Augen der anderen nur noch das Weiße sah. Jeder dachte ans eigene Überleben. Jeder stürmte die Stufen hinauf. Einige stürzten in den Schacht, lautlos, ich hörte keine Schreie mehr, nur noch Schritte. Rücklings fiel ich einige Stufen hinunter. Mich übersprangen Beine, Körper und Gesichter; die Fußtritte der anderen, die das Hindernis meines Körpers trafen, nahm ich nur noch fern wahr. Abgeworfene Rucksäcke sausten dicht an meinem Kopf vorbei, und ich dachte an einen lauen Sommerwind. Wo es mich hinriss, blieb ich benommen liegen. Von den anderen sah und hörte ich nichts mehr. Ich war bereit zu sterben! Doch dann schüttelte wieder das Beben meine Gliedmaßen. Ich öffnete meine durch Dreck und Tränen verklebten Augenlider. Direkt unter mir - zum Greifen nah: Mörtel rieselte wie Puderzucker von den letzten sichtbaren Stufen, sie lösten sich auf. Fassungslos starrte ich dem Treibsand entgegen und spürte, wie mein ganzer Körper darauf zu rutschen anfing. Verzweifelt schlug ich meine Fingerkuppen tief in die Wandfugen und riss mich an ihnen aufrecht...
Als ich endlich oben ankam, - ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie viele Minuten oder Tage inzwischen verstrichen waren -, robbte ich den Holzboden bis zur Mitte des Raumes entlang und drehte mich der Ohnmacht nahe auf den Rücken. Über mir bogen sich die massiven Balken zur Turmspitze zusammen, und eine hohle, wuchtige Glocke baumelte lautlos in einem Netz aus Leinen, Drähten, Eisenstangen und meinen Kameraden. Verfangen in diesem Geflecht, gingen sie elendig zu Grunde. Die gelben Lichter ihrer Stirnlampen leuchteten in großen, wirren Kreisen und Kreuzen durch den Raum. Und mir wahr, als husche noch immer ein Glückslächeln über ihre Gesichter.

BLICKE SIND ZEIT. ICH LEBE VON BLICKEN UND ZEIT. NUN WISSEN SIE ES. SIE WERDEN VERSTEHEN...

 

Hallo Purzelbaum


normalerweise würde ich anmerken, dass ein paar Absätze dem Text nicht schaden könnten, aber bei dieser Geschichte passen die dicht gedrängten Buchstaben zur Enge und Atmosphäre in dem Turm.

auch, wenn das Flugblatt behauptet man würde verstehen, verstanden habe ich nicht wirklich worauf du hinauswillst, das Ganze liest sich für mich wie eine Metapher, auf den Krieg vielleicht, oder auf die Gesellschaft.
Die Beschreibung der Atmospäre, die Angst, die Beklemmung, die anfängliche freundschaft, die am Ende in Überlebenskämpfe jedes Einzelnen ausartet fand ich gelungen.
Die Beschreibung dieser surrealen Reise den Turm hinauf erinnerte mich stark an die Werke von Schuiten und Peeters, speziell an "Der Turm" (na, was denn auch sonst) ;)

Ich habs gerne gelesen

Porcupine

 

Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Kenne bisher weder Schuiten noch Peeters. Werde nachlesen.
Purzelbaum

 

Hallo Purzelbaum!

Schlau bin ich aus deiner Geschichte nicht geworden, aber gelesen hab ich sie gerne. Die Spannung ist sehr gut aufgebaut. Es entsteht keine Sekunde lang Langeweile beim lesen.

Hier fehlt noch ein Wort, oder?

Dann wieder half mir die Angst, die ich in seinen umhersuchenden Augen aufblitzen sah,

Mit unseren Äxten schlugen wir auf das funkensprühende Metall der uns verbindenden Ketten
Wie konnte der Mann in die Tiefe stürzen, wenn er mit den anderen durch eine Kette gesichert war? Hätte er da nicht wieder nach oben gezogen werden können?
Vom Sinn her gibt es zwei drei Dinge, die mich stören. Z.B. der Schluss. Warum hängen die Kameraden an/in den Seilen der Glocken, und der Protagonist nicht? Warum hängen die überhaupt dort?
Ich schätze, diese Geschichte überfordert mein realistisch denkendes Wesen ;)

Gruß
LoC

 

Hallo Lady of Camster
Das Wort "ich" ist leicht zu ersetzen (danke für den Tipp!), schwieriger steht’s allerdings mit der Beantwortung deiner sehr anregenden Fragen.
Könnte nun vom mangelnden physischen und psychischen Kräften schwafeln und damit versuchen, Abläufe eines Traumbildes genauer zu erklären. Konkret will mir das aber nicht so recht gelingen.
Mit einem Bild auf Leinwand verglichen, machen farblich so gestaltete Stellen des Verlustes und Überlebens eben nur Teile des vielleicht auch zu verzerrten, zu absurden Ganzen aus.
Vielen Dank fürs Lesen und für die Anregungen.
Grüße
Purzelbaum

 

Hallo Purzelbaum,

also wie Porcupine, die/der mir immer noch eine Uhrmacher-Geschichte schuldet :), bereits angemerkt hat: ich verstehe den Text genauso als Metapher, z.B. als eine Form des Bergs der Läuterung von Dante (*g*). Daher würde ich dir auch dringend empfehlen, moderne Begriffe wie LKWs zu killen, damit eine zeitliche Einordnung des Geschehens unmöglich wird.

Liebe Grüße

Dante_1

 

...........
Ich schätze, diese Geschichte überfordert mein realistisch denkendes Wesen
...........
So ein Wesen bin ich auch.
Keine Frage, sie ist spannend! Ich hab sie auch gerne gelesen, doch wenn ich am Ende keine Auflösung habe bin ich eben unbefriedigt.

Für mich ist ein Turm ein Turm und da braucht man keine Monate um nach oben zu kommen.

Was mich aber ärgert, ist (wie ich das so verstanden habe) dein Unwille die Geschichte zu erklären.
Mag auch sein, daß mein Hirn zu klein ist um die Erklärung zu verstehen, aber bei mir kommt es so an, als würde ich ein Frage stellen und mein Gegenüber mich darauf nur angrinsen.
Mit verwirrten Grüßen

 
Zuletzt bearbeitet:

Wenn meine Antwort als Unwille angekommen sein sollte, sorry! Wirklich nicht meine Absicht.

Die Ketten müssen durchschlagen werden, weil die Männer mit ihren Kräften am Ende sind und sonst mit in den Abgrund stürzen. Weder verfügen sie in dieser dramatische Situation über die Kraft, nach anderen Lösungen zu suchen, noch bietet ihnen die Raumenge genügend Halt oder Stand. Sie reagieren panisch, haben damit aber sozusagen ihre erste Leiche im Keller.

Dass der Protagonist am Schluss nicht in den Seilen hängt, hängt mit seinem Zögern zusammen. Etwas in ihm lässt ihn zögern. Die anderen setzen ihre Angst aktiv in Taten um. Er aber bricht kräftemäßig ein, rutscht gleichsam ganz in die Beobachterrolle und kämpft auf seine Art ums Überleben. Doch tot nützen ihm die anderen gar nichts.

Das eigentliche Absurde mag hier sein, dass der Protagonist nur zwischen “Armut“ und “Elend“ zu wählen hat. Eben auch eine Form der Enge.

Viele Grüße
Purzelbaum

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Dante_1

Aber selbstverständlich überleg ich mir was.

Hatte deinen ansprechenden Kommentar zunächst nicht als Frage verstanden. Du gibst mir zu denken und auf den ersten Blick scheint mir das sehr plausibel.

Antwort folgt. . . :)


Nochmals hallo Dante_1

Habe ein wenig in 'Die göttliche Komödie' geblättert und weiß nun wenigstens den Bezug einzuordnen, mehr aber nicht.

Wollte mir dieses Buch offengestanden für eine längere Urlaubszeit aufbewahren. Zumindest sehe ich mich zurzeit nicht in der Lage, mich damit so zu befassen, um dir eine ernsthafte Antwort geben zu können. Obwohl es mich reizte.

Aus dem Bauch heraus: Bereits beim Begriff 'Läuterung' als eine Art Vorstufe zum Paradies werde ich skeptisch.

Und dennoch vielen Dank für die Anregung.
Bis dann :)
Purzelbaum

 

Hallo Purzelbaum,

die Geschichte hat mir gefallen. Sie war sehr spannend und unterhaltsam, allerdings hapert es bei mir auch ein wenig mit dem Verständnis.

Sonst habe ich nichts hinzuzufügen außer einer Kleinigkeit:

Purzelbaum schrieb:
.
Erst glaubte ich nicht daran, dass sie die Stufen über die wir uns geschleppt hatten tatsächlich abreißen könnten.
Hier fehlt doch ein "sie" oder so, oder? Ich meine, wer reißt die Stufen ab?

Wie gesagt, gute Geschichte.

Gruß

Cuchulainn

 

Hallo Cuchulainn
danke fürs Lesen und Schreiben.

Das 'sie' muss unerklärt bleiben. Die Männer wissen es nicht besser. Sie erklären es sich so, dass sie von unten her abgerissen werden. Das ist das einzige, was sie sehen können.
Aber jetzt, wo du den Satz so herausgepickt hast, klingt er tatsächlich etwas holperig.

Viele Grüße
Purzelbaum

 

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