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02.06.2001
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Geschäftsführer Dr. Berger notiert gerade die Namen der demnächst bedauerlicherweise zu Entlassenden, als es klopft. Er schaut hoch, die Bürotür öffnet sich und vorsichtig, als lägen unter dem Veloursteppich Landminen, betritt seine Sekretärin Frau Klement den Raum.
„Verzeihung, Herr Dr. Berger. Ein Herr Kralik möchte Sie unbedingt sprechen.“
Seinem strengen Blick hat sie nur ein schwaches Lächeln zu entgegnen. Berger ärgert sich, hatte er doch Weisung gegeben, keinesfalls gestört zu werden!
„Soll reinkommen“, brummt er missmutig, streicht den Namen der miniberockten Einkaufsassistentin und fügt stattdessen Frau Klement hinzu.
„Hartmut, alter Freund!“, ruft eine ihm bekannte Stimme fröhlich und schiebt sich an Frau Klement vorbei, die noch gar nicht weiß, dass ihr Kurs in der firmeninternen Börse bald ausgesetzt wird.
Berger ringt um etwas Ähnliches wie ein Lächeln, scheitert aber kläglich. Zu oft hatte er in letzter Zeit sorgenvolle Mienen aufsetzen müssen, um schlimme Nachrichten zu überbringen. Und übermorgen stand die nächste Entlassungswelle an. Da konnte man ja bei der Betriebsversammlung nicht ein paar Scherze machen und anschließend kichernd die Namen der Verstoßenen aus der Herde des produktiven Volkes vorlesen.
„Ich hoffe, ich störe dich nicht bei etwas Wichtigem!“, setzt Kralik nach und reicht ihm die Hand.
Berger fühlt sich beim Aufstehen, als wäre seine Hose mit dem Leder des Chefsessels verwachsen.
„Schon gut. Setz dich doch.“
Nonchalant gestikuliert er Richtung Stuhl, den schon bald eine neue, hoffentlich knackigere Sekretärin bei den Diktaten einnehmen würde. Kralik folgt der Einladung und beide Herren nehmen wie Teilnehmer am Synchron-Hinsetzen Platz.
„Also“, beginnt Berger, ganz dominantes Alpha-Männchen, sich mit den Ellenbogen auf seinem Schreibtisch in seinem Büro abstützend, „was kann ich denn für dich tun?“
Kraliks Lächeln verliert an Euphorie. „Ich würde dich nicht belästigen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre.“
Der Besucher faltet die Hände und legt sie auf den Schoß, wo sie unruhig miteinander balgen. „Mein Buchladen läuft nicht mehr so, wie er es sollte. Diese Online-Buchhändler und Verkaufsplattformen graben uns kleinen Unternehmern völlig das Wasser ab.“
Er schweigt und sucht verzweifelt nach einer ermutigenden Reaktion in Bergers Gesicht.
„Vielleicht könntest du, ich meine, könnte dein Unternehmen, eine kleinere Summe entbehren und investieren.“
Schweigen wie in einem Western kurz vor dem Revolverhelden-Duell.
„Ich habe ein neues Konzept entwickelt, von dem ich felsenfest überzeugt bin! Nur fehlt mir dafür noch ein Investor, und ich habe als Erstes gleich an dich gedacht. Eine viertel Stunde, Hartmut, mehr brauche ich gar nicht, und du wirst sehen, danach bist du genau so begeistert wie ich es bin.“
Unausgesprochene Freundschaftsschwüre liegen in der Luft. Schwüre, die rund drei Jahrzehnte zurück liegen. Ausgesprochen im Gymnasium, als sie noch jung und die Welt steinalt waren.
Freunde? Natürlich! Fürs Leben! Nichts würde sie trennen. Nicht Hartmuts Eltern, die in dem Träumer David Kralik schlechten Umgang für ihren Sohn sahen. Auch nicht Mädchen, die weder mit dem humorlosen Hartmut, noch mit dem schrägen David etwas anfangen konnten.
Aber das war vor dreißig Jahren gewesen, und inzwischen waren Herz und Verstand gealtert. Und bekanntermaßen wächst mit dem Alter die Weisheit. Was zählten Worte in einer pragmatischen Welt?
Ihn, Hartmut, Dr. Berger, hatte der Wille seiner Eltern geformt, solange er biegsam wie Knetgummi war. Jetzt wäre die einzige Macht, die ihn noch zu formen vermochte, des Schnitters Sense, die lautlos und sauber den dünnen Faden durchtrennte, der ihn an diese Welt band und verhinderte, dass er schwerelos hinfort schwebte.
Berger räuspert sich und nimmt den Terminkalender zur Hand. „Eine viertel Stunde, sagst du? Hm. Am Abend habe ich ein Geschäftsessen. Kann spät werden.“
„Vielleicht morgen?“
Mechanisches Blättern von Seiten. „Termine, hier Termine, hier auch. Hm. Am Nachmittag muss ich zum Scheidungsanwalt.“
Kurz blitzen in ihm Erinnerungen auf. Wie die Scherben eines Spiegels kommen ihm diese Erinnerungen vor. Sie glitzern und funkeln, aber das, was sie einst ausmachte, ist unwiderruflich zerstört.
Sein erstes Bier, dem ein zweites folgte. Beide zu rasch hintereinander im Keller der Kraliks getrunken, woraufhin er sich erbrochen hatte. Und der gute David hatte ohne zu murren aufgewischt, während Hartmut mit aschfahlem Gesicht auf dem Boden kauerte und nicht wusste, ob er vor Scham oder Übelkeit sterben würde.
„Am Abend hätte ich Zeit“, wirft Kralik vorsichtig ein, erntet aber nur ein Kopfschütteln.
„Da bin ich als offizieller Vertreter unserer Firma auf einer Charity-Veranstaltung.“
„Wird da zufällig für unverschuldet in Not geratene Buchhändler gesammelt?“, versucht Kralik zu witzeln.
Berger sieht nicht einmal auf. „Nein. Irgendwas mit Kindern. Oder Tieren.“
Sein Gegenüber rutscht nervös auf dem Stuhl hin und her.
„Er muss sich doch an unsere Freundschaft erinnern können“, überlegt er und merkt, wie verzweifelt er aussehen muss. Jeder Versuch, weniger verzweifelt zu wirken, scheitert daran, dass er es tatsächlich ist.
Der Träumer ist gescheitert, weil Träumer immer scheitern. Die Welt wird nicht von Träumern, sondern von jenen beherrscht, die aufgewacht sind oder bereits von Geburt an so waren. Und deshalb sitzt er jetzt hier wie auf Nadeln, statt als Arzt seine eigene Praxis zu betreiben, wie es sein Vater gerne gesehen hätte.
„Und wie sieht’s übermorgen aus?“, schlägt er kleinlaut vor.
Erneut schüttelt Berger den kahl gewordenen Kopf. Einen Moment lang glaubt Kralik, er sitze vor einer Statue, so gleichgültig und steinern wirkt sein einstiger Freund.
Freunde? Waren sie denn überhaupt Freunde gewesen? Bei Andrea hatte er auch angenommen, sie wäre die Liebe seines Liebens. Heute schrieben sie sich an den Geburtstagen verlogene Mails, die wie Todesanzeigen für ihre gestorbene Liebe wirkten.
„Übermorgen geht nicht, ausgeschlossen. Um ehrlich zu sein bin ich mir nicht sicher, ob ich in der derzeitigen Lage irgendein riskantes Investment rechtfertigen kann“, sagt Berger.
Beide schweigen. Dann knallt der Geschäftsführer den Terminkalender zu. Das Geräusch klingt wie ein Gnadenschuss mitten in Kraliks Herz.
Berger steht auf. Einen Moment lang fürchtet Kralik, er könne nicht aufstehen, nie wieder. Aber dann schafft er es doch. Seine steife Hand findet den Weg zu Bergers ausgestreckten Rechten. Der Händedruck besiegelt das Ende aller Hoffnung.
Kralik tritt über die Schwelle, zieht die Tür hinter sich zu, bleibt einen Moment stehen.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt die Sekretärin.
Ihre Stimme verrät ehrliche Sorge.
„Wenigstens sie ist ein Mensch“, denkt Kralik niedergeschlagen.
Antworten kann er nichts. Was sollte er auch entgegnen? Müde fühlt er sich, und erschöpft. Wie eine Mumie in einem alten Schwarz-Weiß-Streifen stakst er nach draußen, nimmt die Treppen statt dem Lift, tritt auf die Straße hinaus und reiht sich in den Strom der Feierabend-Hungrigen ein.
Derweil stürzen allerlei Gedanken auf Berger, acht Stockwerke über Kralik, ein.
Der eine ist durchaus amüsant: Kralik hätte die Viertelstunde seiner Anwesenheit nützen können, um ihm das Projekt zu erläutern.
Der andere ist pragmatischer: Darf man einen Freund im Stich lassen, zumal sich dieser offensichtlich in größter Not befindet?
Berger trommelt mit den Fingern nervös auf dem Ledereinband des Terminkalenders herum.
Dann geht er in sich, entscheidet, dass Kralik und er niemals Freunde gewesen waren, ja, dass er Kralik nie ausstehen hatte können, und widmet sich wieder seiner Liste.

 

Hallo Rainer,

Wie verzweifelt muss ein Mensch sein,wenn er eine Geschichte in die Rubrik "Sonstige" stellt? :lol:

Die Geschichte jedenfalls kann man als durchweg gelungen bezeichnen. Es ist wirklich beeindruckend, wie es dir hier gelingt, die Wandlung eines Charakters, die auch einen Roman hätte ausfüllen können, in einer Kurzgeschichte glaubhaft darzustellen.
Gewissermaßen stellst du eine Frage und beantwortest sie auch gleich: Du zeigst dem Leser den fertigen Dr. Berger, der einem Menschenschlage angehört, bei dem man sich immer zu der Frage genötigt sieht, wie jemand so werden kann. Anschließend führst du Bruchstücke seiner Vergangenheit vor, die da Aufschluss gewähren.
Besonders schön:

Heute schrieben sie sich an den Geburtstagen verlogene Mails, die wie Todesanzeigen für ihre gestorbene Liebe wirkten.

Konstruktives hebe ich mir für mich selbst auf.


Gruß,
Abdul

 

Hallo Rainer, das ist wirklich gut.
Ich mag solche "Bilanzgeschichten", wo man einen kurzen Einblick in das Leben von "Verzweifelten" bekommt. Warum? Weil man sich dann hinterher so schoen ueberlegen fuehlt! Denn trotz seines tollen Jobs hat dein Prot ja ein besch ... Leben und der bittstellende Freund, nebenbei bemerkt auch.
Eine gute Charakterstudie, finde ich.

Gruss, sammamish

 

Hallo Rainer,

ich kann mich dem hunderprozentigen und begeisterten Lob meiner Vorkritiker leider nicht ganz anschließen. Ich habe die Geschichte schon vor Tagen gelesen, sie zunächst noch etwas ruhen und wirken lassen, aber sie zündet auch heute beim zweiten Lesen noch nicht so richtig und meine Kritikpunkte sehe ich immer noch so wie nach dem ersten Lesen. Ich suche sicher nicht auf Teufel komm raus etwas zum Meckern. Ich selbst bekomme seit geraumer Zeit gar nichts mehr geschrieben und kann eigentlich nur den Hut vor jedem ziehen, der eine passable Story aufs Blatt oder auf den Bildschirm bekommt. Aber bei dir erwartet man ein bisschen mehr. Weil du auch mehr kannst.

Grundsätzlich finde ich die Geschichte auch in Ordnung. Aber eine Charakterstudie sehe ich darin nicht - eher vielleicht eine Fingerübung des Autors. Die Charaktere triefen vor Klischees. Ich sage zwar selbst immer, dass Klischees ja nur entstanden sind, weil so die durchschnittliche Wirklichkeit aussieht (okay, vielleicht noch etwas karikiert), aber du hast hier aus meiner Sicht übertrieben. Ich finde nur Schwarz und Weiß in Reinform. Keine der Figuren hat Ecken und Kanten, nur stromlinienförmige Eigenschaften auf dem einen oder dem anderen Ende der Skala. Daher bleiben die Figuren und mit ihnen auch die Geschichte recht platt. Klar: wenn man jeder Figur mehr Tiefe verleihen möchte, wird der Text länger, wenn es dann die eigentliche Aussage nicht unterstützt, ist das nur aufgeblähter Text ohne einen Sinn zu erfüllen. Aber ich kann mich nicht gegen den Eindruck wehren, dass die Figuren hier nur Pappkameraden sind. Sie sind nicht lebendig, selbst nicht im kurzen Zweifel zwei Zeilen vor Ende, ob sie richtig gehandelt haben.

Der Anfang ist ein wenig störrisch. Die ersten beiden Sätze sind lang und leicht umständlich. Für den Leser "flutscht" der Text hier nicht. Gerade am Anfang eine Gefahr, die Leser zu verlieren. Das Bild mit den Landminen finde ich zwar sehr schön, aber vielleicht kann man das auch anders einbringen, als die ersten beiden Sätze so unhandlich zu präsentieren.

Berger ringt um etwas Ähnliches wie ein Lächeln, scheitert aber kläglich. Zu oft hatte er in letzter Zeit sorgenvolle Mienen aufsetzen müssen, um schlimme Nachrichten zu überbringen. Und übermorgen stand die nächste Entlassungswelle an. Da konnte man ja bei der Betriebsversammlung nicht ein paar Scherze machen und anschließend kichernd die Namen der Verstoßenen aus der Herde des produktiven Volkes vorlesen.
„Ich hoffe, ich störe dich nicht bei etwas Wichtigem!“, setzt Kralik nach und reicht ihm die Hand.
Hier ist dir im mittleren Teil was mit den Zeiten durcheinandergerutscht. Wenn die Ist-Zeit in der Geschichte im Präsens steht, kann die Zukunft nicht in der Vergangenheit stehen (versteht mich einer?).

Die Perspektivwechsel finde ich in einem so kurzen Text problematisch. Ich würde bei einer Perspektive bleiben und die Empfindungen des Gegenübers viel stärker durch Körpersprache oder Handlungen zeigen. Du beschreibst hier eh relativ viel - oft auch schon mit Wertungen. Kann man eleganter lösen.

Trotzdem hat auch dieser Text von dir wieder seine eigenen Highlights:

die Bürotür öffnet sich und vorsichtig, als lägen unter dem Veloursteppich Landminen, betritt seine Sekretärin Frau Klement den Raum.
Nur noch ein Komma vor "und" (neues Subjekt) und der Satz ist herrlich.
„Wird da zufällig für unverschuldet in Not geratene Buchhändler gesammelt?“, versucht Kralik zu witzeln.
Berger sieht nicht einmal auf. „Nein. Irgendwas mit Kindern. Oder Tieren.“
Das "versucht Kralik zu witzeln" würde ich eventuell auch eher versuchen zu zeigen. Er ist ja im Grunde völlig angespannt, extrem nervös. "versucht zu witzeln" ist schon wieder zu sehr Innensicht, die Perspektive geht auf Kralik über (passiert immer wieder im Text). Lass die Stimme sich überschlagen, fiepen, krächzen. Oder lassen ihn so auf dem Stuhlrand rumwibbeln, dass der Stuhl ins Kippeln gerät. Oder so. Aber sehr, sehr schön ist die Reaktion von Berger gezeigt. Kälte, absolute Gleichgültigkeit. Das spricht hier aus jedem Wort. Sehr gut eingefangen.

Im Grunde hat der Text überall da seine Stärken, wo du die Menschen und ihre Reaktionen zeigst. Die Erzählteile (auch Rückblenden) und die vielen Adjektive (häufig sogar wertend) sind nicht so gelungen.

Nimm mir die Kritik nicht krumm. Ich kann aber leider nicht in die pure Lobeshymne einfallen. Es steht dir aber natürlich frei, die Kritik einer Leserin, die selbst seit über einem Jahr keine einzige Geschichte geschrieben hat, zu ignorieren.

Viele Grüße
Kerstin

 

@ Abdul und sammamish

Danke fürs Lesen und Kommentieren.

Ich mag solche "Bilanzgeschichten", wo man einen kurzen Einblick in das Leben von "Verzweifelten" bekommt. Warum? Weil man sich dann hinterher so schoen ueberlegen fuehlt!

Na ja. An sich sind solche Geschichten nicht unbedingt mein Ding. Aber man muss sich auch beim Schreiben mal abseits der Pfade begeben, um nicht in einen Trott zu verfallen.

@ katzano

Es steht dir aber natürlich frei, die Kritik einer Leserin, die selbst seit über einem Jahr keine einzige Geschichte geschrieben hat, zu ignorieren.

Wieso? Man muss ja auch kein Haubenkoch sein, um ein im Restaurant serviertes Schnitzel ungenießbar zu finden.

Ich lasse mir deine Kritik durch den Kopf gehen.
Dass die Figuren klischeehaft sind, liegt vielleicht auch daran, dass die Story usprünglich eine Art Sketch war: Zwei gestresste Manager durchwühlen ihre Chefplaner auf der Suche nach einem freien Termin. Nach einer Stunde bemerken sie, dass der einzige freie Termin eben jene Stunde gewesen wäre, während der sie sich gegenseitig ihre wichtigen Termine an den Kopf geworfen haben.

Danke auch dir fürs Lesen und Kommentieren.

 

Hallo Rainer

Ja was soll ich noch gross sagen, was nicht schon meine Vorschreiber gesagt haben? Mir käme nichts in den Sinn, nur dass ich die Geschichte als sehr lesenswert empfunden hast und du den heutigen Zeitgeist irgendwie schön einfangen konntest.

 

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