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Zeitlos
Geschäftsführer Dr. Berger notiert gerade die Namen der demnächst bedauerlicherweise zu Entlassenden, als es klopft. Er schaut hoch, die Bürotür öffnet sich und vorsichtig, als lägen unter dem Veloursteppich Landminen, betritt seine Sekretärin Frau Klement den Raum.
„Verzeihung, Herr Dr. Berger. Ein Herr Kralik möchte Sie unbedingt sprechen.“
Seinem strengen Blick hat sie nur ein schwaches Lächeln zu entgegnen. Berger ärgert sich, hatte er doch Weisung gegeben, keinesfalls gestört zu werden!
„Soll reinkommen“, brummt er missmutig, streicht den Namen der miniberockten Einkaufsassistentin und fügt stattdessen Frau Klement hinzu.
„Hartmut, alter Freund!“, ruft eine ihm bekannte Stimme fröhlich und schiebt sich an Frau Klement vorbei, die noch gar nicht weiß, dass ihr Kurs in der firmeninternen Börse bald ausgesetzt wird.
Berger ringt um etwas Ähnliches wie ein Lächeln, scheitert aber kläglich. Zu oft hatte er in letzter Zeit sorgenvolle Mienen aufsetzen müssen, um schlimme Nachrichten zu überbringen. Und übermorgen stand die nächste Entlassungswelle an. Da konnte man ja bei der Betriebsversammlung nicht ein paar Scherze machen und anschließend kichernd die Namen der Verstoßenen aus der Herde des produktiven Volkes vorlesen.
„Ich hoffe, ich störe dich nicht bei etwas Wichtigem!“, setzt Kralik nach und reicht ihm die Hand.
Berger fühlt sich beim Aufstehen, als wäre seine Hose mit dem Leder des Chefsessels verwachsen.
„Schon gut. Setz dich doch.“
Nonchalant gestikuliert er Richtung Stuhl, den schon bald eine neue, hoffentlich knackigere Sekretärin bei den Diktaten einnehmen würde. Kralik folgt der Einladung und beide Herren nehmen wie Teilnehmer am Synchron-Hinsetzen Platz.
„Also“, beginnt Berger, ganz dominantes Alpha-Männchen, sich mit den Ellenbogen auf seinem Schreibtisch in seinem Büro abstützend, „was kann ich denn für dich tun?“
Kraliks Lächeln verliert an Euphorie. „Ich würde dich nicht belästigen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre.“
Der Besucher faltet die Hände und legt sie auf den Schoß, wo sie unruhig miteinander balgen. „Mein Buchladen läuft nicht mehr so, wie er es sollte. Diese Online-Buchhändler und Verkaufsplattformen graben uns kleinen Unternehmern völlig das Wasser ab.“
Er schweigt und sucht verzweifelt nach einer ermutigenden Reaktion in Bergers Gesicht.
„Vielleicht könntest du, ich meine, könnte dein Unternehmen, eine kleinere Summe entbehren und investieren.“
Schweigen wie in einem Western kurz vor dem Revolverhelden-Duell.
„Ich habe ein neues Konzept entwickelt, von dem ich felsenfest überzeugt bin! Nur fehlt mir dafür noch ein Investor, und ich habe als Erstes gleich an dich gedacht. Eine viertel Stunde, Hartmut, mehr brauche ich gar nicht, und du wirst sehen, danach bist du genau so begeistert wie ich es bin.“
Unausgesprochene Freundschaftsschwüre liegen in der Luft. Schwüre, die rund drei Jahrzehnte zurück liegen. Ausgesprochen im Gymnasium, als sie noch jung und die Welt steinalt waren.
Freunde? Natürlich! Fürs Leben! Nichts würde sie trennen. Nicht Hartmuts Eltern, die in dem Träumer David Kralik schlechten Umgang für ihren Sohn sahen. Auch nicht Mädchen, die weder mit dem humorlosen Hartmut, noch mit dem schrägen David etwas anfangen konnten.
Aber das war vor dreißig Jahren gewesen, und inzwischen waren Herz und Verstand gealtert. Und bekanntermaßen wächst mit dem Alter die Weisheit. Was zählten Worte in einer pragmatischen Welt?
Ihn, Hartmut, Dr. Berger, hatte der Wille seiner Eltern geformt, solange er biegsam wie Knetgummi war. Jetzt wäre die einzige Macht, die ihn noch zu formen vermochte, des Schnitters Sense, die lautlos und sauber den dünnen Faden durchtrennte, der ihn an diese Welt band und verhinderte, dass er schwerelos hinfort schwebte.
Berger räuspert sich und nimmt den Terminkalender zur Hand. „Eine viertel Stunde, sagst du? Hm. Am Abend habe ich ein Geschäftsessen. Kann spät werden.“
„Vielleicht morgen?“
Mechanisches Blättern von Seiten. „Termine, hier Termine, hier auch. Hm. Am Nachmittag muss ich zum Scheidungsanwalt.“
Kurz blitzen in ihm Erinnerungen auf. Wie die Scherben eines Spiegels kommen ihm diese Erinnerungen vor. Sie glitzern und funkeln, aber das, was sie einst ausmachte, ist unwiderruflich zerstört.
Sein erstes Bier, dem ein zweites folgte. Beide zu rasch hintereinander im Keller der Kraliks getrunken, woraufhin er sich erbrochen hatte. Und der gute David hatte ohne zu murren aufgewischt, während Hartmut mit aschfahlem Gesicht auf dem Boden kauerte und nicht wusste, ob er vor Scham oder Übelkeit sterben würde.
„Am Abend hätte ich Zeit“, wirft Kralik vorsichtig ein, erntet aber nur ein Kopfschütteln.
„Da bin ich als offizieller Vertreter unserer Firma auf einer Charity-Veranstaltung.“
„Wird da zufällig für unverschuldet in Not geratene Buchhändler gesammelt?“, versucht Kralik zu witzeln.
Berger sieht nicht einmal auf. „Nein. Irgendwas mit Kindern. Oder Tieren.“
Sein Gegenüber rutscht nervös auf dem Stuhl hin und her.
„Er muss sich doch an unsere Freundschaft erinnern können“, überlegt er und merkt, wie verzweifelt er aussehen muss. Jeder Versuch, weniger verzweifelt zu wirken, scheitert daran, dass er es tatsächlich ist.
Der Träumer ist gescheitert, weil Träumer immer scheitern. Die Welt wird nicht von Träumern, sondern von jenen beherrscht, die aufgewacht sind oder bereits von Geburt an so waren. Und deshalb sitzt er jetzt hier wie auf Nadeln, statt als Arzt seine eigene Praxis zu betreiben, wie es sein Vater gerne gesehen hätte.
„Und wie sieht’s übermorgen aus?“, schlägt er kleinlaut vor.
Erneut schüttelt Berger den kahl gewordenen Kopf. Einen Moment lang glaubt Kralik, er sitze vor einer Statue, so gleichgültig und steinern wirkt sein einstiger Freund.
Freunde? Waren sie denn überhaupt Freunde gewesen? Bei Andrea hatte er auch angenommen, sie wäre die Liebe seines Liebens. Heute schrieben sie sich an den Geburtstagen verlogene Mails, die wie Todesanzeigen für ihre gestorbene Liebe wirkten.
„Übermorgen geht nicht, ausgeschlossen. Um ehrlich zu sein bin ich mir nicht sicher, ob ich in der derzeitigen Lage irgendein riskantes Investment rechtfertigen kann“, sagt Berger.
Beide schweigen. Dann knallt der Geschäftsführer den Terminkalender zu. Das Geräusch klingt wie ein Gnadenschuss mitten in Kraliks Herz.
Berger steht auf. Einen Moment lang fürchtet Kralik, er könne nicht aufstehen, nie wieder. Aber dann schafft er es doch. Seine steife Hand findet den Weg zu Bergers ausgestreckten Rechten. Der Händedruck besiegelt das Ende aller Hoffnung.
Kralik tritt über die Schwelle, zieht die Tür hinter sich zu, bleibt einen Moment stehen.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt die Sekretärin.
Ihre Stimme verrät ehrliche Sorge.
„Wenigstens sie ist ein Mensch“, denkt Kralik niedergeschlagen.
Antworten kann er nichts. Was sollte er auch entgegnen? Müde fühlt er sich, und erschöpft. Wie eine Mumie in einem alten Schwarz-Weiß-Streifen stakst er nach draußen, nimmt die Treppen statt dem Lift, tritt auf die Straße hinaus und reiht sich in den Strom der Feierabend-Hungrigen ein.
Derweil stürzen allerlei Gedanken auf Berger, acht Stockwerke über Kralik, ein.
Der eine ist durchaus amüsant: Kralik hätte die Viertelstunde seiner Anwesenheit nützen können, um ihm das Projekt zu erläutern.
Der andere ist pragmatischer: Darf man einen Freund im Stich lassen, zumal sich dieser offensichtlich in größter Not befindet?
Berger trommelt mit den Fingern nervös auf dem Ledereinband des Terminkalenders herum.
Dann geht er in sich, entscheidet, dass Kralik und er niemals Freunde gewesen waren, ja, dass er Kralik nie ausstehen hatte können, und widmet sich wieder seiner Liste.