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Zerplatzende Seifenblasen
Na, dann wollen wir mal eine Geschichte erzählen. Also, ich habe schon versucht die Geschichte zu erzählen. Aber man weiß nie, wo man eine Geschichte erzählen muss, bis man sie zum ersten Mal am richtigen Ort erzählt hat. Gut, bei manchen Geschichten ist es schnell klar. Lustige Geschichten gehören in Kneipen, da reicht man Bier und Chips dazu. Niemand käme auf die Idee eine lustige Geschichte in einer Kirche zu erzählen. Diese Geschichten da „Und dann hat der Olaf gefragt: Und was ist nun mit der Ente?“ – die eignen sich nicht für Kirchen, wobei in Kirchen ja immer dieselben Geschichten erzählt werden, alte Geschichten. Tragische Geschichten werden allerdings auch in Kneipen erzählt, aber nicht laut. Sie werden geflüstert, deshalb dreht man dort manchmal die Musik so auf. Damit man schreien kann und es ist noch Flüstern. Wenn das irgendwer versteht.
Es sieht jetzt natürlich so aus, als könne man in Kneipen zu Bier und Chips jede Geschichte erzählen, die traurigen und auch die lustigen, aber die meisten Geschichten sind ja nichts vom beidem. Was aber nicht heißen muss, dass man sie nicht trotzdem erzählen kann. Ja, wahrscheinlich muss man gerade diese erzählen.
Obwohl die meisten Leute ja gar keine Geschichten erzählen können. Da fangen sie mit was an und dann gehen sie ganz sicher, dass sie jeder versteht. Mütter zum Beispiel, ich glaube, die verlieren ihr Talent Geschichten zu erzählen, sobald sie werfen. Und dann fangen sie an und sagen: „Hier, ich hab heut die Gudrun getroffen, das ist ja die, die mit dem Sohn von dem Schreiner zusammen ist, den seine Frau verlassen hat …“ Ja, okay. Muss ja eine tolle Geschichte sein, denkt man dann schon. Denn Geschichten, die schwer zu verstehen sind, und bei denen so ausgeholt wird, die müssen ja was haben, sonst würde sich keiner die Mühe machen, sie zu erzählen. Also quält man sich durch Gudruns Leben und auch durch das Leben des Schreiners und immer weiter und irgendwann kommt man zum Schluss und dann heißt es: „Die hab ich heute auch getroffen.“
So eine Art Ringschluss.
Solche Geschichten werden oft am Mittagstisch erzählt, aber ob das nun der richtige Platz für sie ist – wer will das schon sagen?
Es gibt ja auch viele Geschichten, die man gar nicht erzählen kann. Nicht, weil man nicht wollte, denn jeder will Geschichten erzählen, sondern weil man einfach nicht kann. Da erzählt man eine Geschichte und ist fertig und dann lacht keiner oder es weint keiner oder was am schlimmsten ist, die Leute drehen sich um und erzählen ihre eigenen Geschichte, und dann stehst du da und sagst: „Na ja, wahrscheinlich muss man dabei gewesen sein.“ Und eigentlich heißt das ja nur: „Ich kann die Geschichte nicht erzählen. Ich hab’s vermasselt. Tut mir leid.“
So sind viele Geschichten, gerade die wichtigen. Wobei man sagen muss, dass die wichtigen Geschichten oft ganz unwichtigen Menschen zustoßen. Und die dann nie erzählt werden, weil niemand zuhört. Ist auch schwer zuzuhören. Wer kann das schon? Lernt man ja nirgends.
Die meisten Leute erzählen ihre Geschichten, damit sie sich daran erinnern. Wenn etwas ausgesprochen wird, ist es gleich viel realer als ein Gedanke. Es heißt immer, wenn die Leute anfangen, Selbstgespräche zu führen, dann sind sie verrückt. Ich glaube, es ist gerade umgekehrt. Wenn sie aufhören, Selbstgespräche zu führen, wenn nichts Reales mehr aus ihnen kommt, wenn sich alles in den Gummiwänden ihres Hirns abspielt, wenn jeder Gedanke gedacht wird, flüchtig wie ein Hase, dem ein Fuchs auf den Fersen ist, ich glaube, dann werden die Leute verrückt.
Geschichten sind gar nicht so romantisch, wie wir immer denken. Diese Vorstellung, dass es irgendwo einen Swimming-Pool von Geschichten und Schicksalen gibt, die wild in der Gegend rumschwimmen, dann irgendwann wie Seifenblasen aufsteigen, durch die Gegend schweben, mal hier, mal dorthin getrieben werden, um dann auf irgendeinen armen Tropf zu fallen und ihm zuzustoßen. Das ist doch Unsinn. Jede Geschichte kann jedem passieren! Soviel muss klar sein, wenn man nicht anfangen will, verrückt zu werden. Wenn man nicht hergehen will und sagt: Mein Leben ist nicht erzählenswert, was auch immer heißt: Mein Leben ist nicht lebenswert. Wir müssen daran glauben, dass jedem alles passieren kann. Wir müssen Aktenzeichen XY Ungelöst schauen und unsere Haustüren abschließen und die Verandafenster vergittern aus Angst vor einem polnischen Vergewaltiger. Wir müssen Wasser kaufen und Erbsen in Dosen und Trockenfleisch, weil wir das in New Orleans gesehen haben oder die Hochwasser-Nummer und weil wir von der Vogelgrippe gehört haben und dass der Iran die Atombombe hat. Wir müssen auch an die Liebe glauben, die einen trifft wie ein Güterzug, der zu viel geladen hat und schlingert. An Unfälle müssen wir glauben: Eben noch der Kapitän des Fußball-Teams und mit einer jungen Friseurin verheiratet und dann betrunken Auto gefahren und querschnittsgelähmt und im Rollstuhl. Und die Frau ist auch weg. Aber wenigstens passiert was. Obwohl das eine Geschichte ist, die kaum einem passiert. Man sieht schon daran, wie sie gestrickt ist, dass mit ihr was nicht stimmt. Das ist keine Geschichte, keine richtige, keine die mal eine Seifenblase war. Das ist so eine gemachte. So eine „Fahrt nicht betrunken Auto“- Geschichte, eine Geschichte, die man Kindern erzählt: „Wenn du nicht zu Hause bist, wenn die Sonne untergeht, dann holt dich der schwarze Mann.“ Eine Knecht-Ruprecht-Geschichte.
Echte Geschichten ergeben keinen Sinn. In einer echten Geschichte wäre der Kapitän des Fußball-Teams nüchtern gewesen und es wäre einfach passiert. Ohne Grund, da muss ihm keine Friseuse einen blasen, da muss kein Betrunkener in ihn reinfahren, es passiert einfach. Es wäre eine Geschichte gewesen, die er viel zu oft erzählt hätte. In Kneipen zu Bier und Chips, ob die Musik nun laut war oder nicht. Und die Leute hätten sich von ihm abgewandt und ihre eigenen Geschichten erzählt.
Und so dürfen Geschichten nicht sein. Nichts passiert einfach so, in Geschichten. Man braucht ein Reh, dem ausgewichen werden muss, eine Verfehlung, Ironie, etwas Poesie, einen Anfang und ein Ende.
Wir sind satt. Vollgefressen mit Geschichten. Wahrscheinlich liegt das am Fernsehen, woran auch sonst? Jede Woche zehn, zwölf Mordfälle. Mittwochs gleich vier an einem Abend. Wer soll das alles verdauen? Man käme zu nichts anderem mehr. Nur noch verschlingen, verdauen und ausscheiden. Und das sind nur die Morde. Tragödien gibt es wie Pixel auf einem Bildschirm. Alles gute Geschichten, von Leuten erzählt, die Geld dafür kriegen. Und noch illustriert mit klangvollen Gesichtern. Dort: Michael Douglas und Sharon Stone, die erzählen eine Geschichte. Keine sehr gute, aber man sieht ihren Pelz. Und hier: Ermittler in einem Labor, frotzeln sich gegenseitig, so wie Kollegen, die man gern hätte. Lebensersatz, natürlich. Denen widerfahren Geschichten, und was für welche und wie viele, einmal die Woche eine, so groß und schön und sinnerfüllt, wer kann da mithalten?
Also. Ich nicht.
Er schloss seinen Laptop und fuhr ins Schlafzimmer.