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Zerrissen

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09.05.2004
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Zerrissen

Für E.
Auch wenn er nicht alle Gründe kennt.


Ich höre ihn brüllen. Sein Schrei folgt mir durch die Bäume hindurch, schreckt eine Eule auf und erweckt so die Nacht zum Leben. Es ist nicht mein Name, den er schreit. Das kann er nicht.
Diese Beine fühlen sich lang und staksig an, bewegen sich wie auf Stelzen vorwärts, versinken teilweise im frischen Schlamm.
Noch immer liegt Regen in der Luft. Ich kann ihn riechen und fühlen, wie er kleine, kaum merkliche Tropfen auf meiner Stirn wie Eier ablegt.
Nicht auf meiner Stirn, nein, dieser Körper gehört nicht mir. Durch diese Brust, die sich hebt und senkt, mit diesen Lungen habe ich noch nie geatmet. Mit dieser Zunge noch nie geschmeckt. Sein Hemd hängt an meinem Oberkörper als ich kurz verschnaufe, wie ein Segel an einem Mast bei Windstille hängt.
Noch immer glaube ich das Gebrüll des Mannes hören zu können, aus dessen Alpträumen ich beinah nicht entkommen wäre. Alpträume, in die nicht nur ich mit hineingezogen wurde.
Hass liegt in seiner Stimme, und Schmerz, tiefe Qualen, wie sie nur ein Mensch empfinden kann, der den Verstand verliert. Nichts anderes ist er mehr – ein Mann, verflucht durch seine Intelligenz, verloren im Nichtverstehen meines Daseins.
Langsam bahne ich mir meinen Weg durch das Dickicht und die Dunkelheit.

Er folgt mir. Wenn er stutzt, was selten geschieht, weisen ihm meine Fußabdrücke den Weg. Zu leicht sind sie zu erkennen, zu schwer liegt mein Geruch in der Luft. Ein Verwischen meiner Spuren ist überflüssig. Fast ist es so, als würden die Waldtiere meine Unnatürlichkeit erkennen und ihm den Weg zeigen. Dort lief er entlang, hier bog er rechts ab, höre ich sie flüstern.
Die Nacht ist kühl und der Schweiß lässt mich die Kälte noch mehr spüren. Beinahe wünsche ich mich zurück zu ihm, Körper an Körper, Geist an Geist, ein Glas Wein in unserer Hand. Ich denke an das Schachspiel, das Brett in Stein gehauen, die Figuren aus schwerem Glas, die wohl einiges zu der derzeitigen Situation beigetragen haben. Seine Hingabe beim Spiel und seine Liebe für guten Wein. Wäre die Eine nicht gewesen, dann …
Nein! Ich belüge mich selbst. Alle schönen Erinnerungen, werden von den Dingen überschattet, die sich hinter den Mauern abgespielt haben.
Die Ketten, die er mir anlegte … wie er mich ausnutzte. Rief mich nur, wenn es ihm an Gesellschaft fehlte, wenn er meine Hilfe benötigte. Wenn er anfing, an seinem Glück, seiner Intelligenz zu zweifeln, niemand da war, ihm zu widersprechen, ja, dann reichte ich ihm aus.
Die Zweifel meiner Unvollständigkeit, die Zweifel an seinen Taten, die sich Tag für Tag tiefer in meinen Geist fraßen, ignorierte er.
Aber von meinem Lob konnte er nicht genug bekommen.

Der Morgen graut. Stundenlang muss ich bereits vorwärts gestolpert sein und jetzt, da ich mir dieser Zeitspanne bewusst werde, fangen diese Waden, sofern man nur aus Haut und Knochen bestehenden Stecken als Waden bezeichnen kann, an zu brennen. In die Seite stechen sich mir bei jedem Atemzug unzählige glühender Nadeln und die feuchte Luft geht in meinen Lungen auf wie Hefe. Und immer diese Stimme des Mädchens. Ich kann nichts verstehen, es ist nur ein Wimmern, das sich in meine Gedanken frisst wie Säure. Langsam hasse ich sie dafür. Hasse sie, weil sie sich den falschen Mann zum Opferwerden ausgesucht hat. Hasse sie, weil sie für all die Streitereien verantwortlich ist. Hasse sie, weil ich es mit ansehen musste …
Ich bin völlig erschöpft.
Als ich stehen bleibe, muss ich mich an einen Baum lehnen, damit die Schwärze eines Schwindels nicht über mir zusammenschlägt.
Er ruft wieder, ist wütend. Und dabei habe ich ihn noch gewarnt! Verschwinden würde ich, abhauen, ihn allein lassen mit seinen Taten und seiner Einsamkeit. Aber wer hätte schon gedacht, dass ich das könnte? Nicht einmal ich selbst habe daran geglaubt.
Und wie es mir letztendlich gelungen ist … darüber bin ich mir selbst nicht ganz klar.

Müde, werde müde. Diese Beine, sie können dich doch nicht so weit tragen!
Er ist dicht hinter mir; ich fühle es mehr, als dass ich es höre. Je näher er mir kommt, desto enger zieht er die Schnüre, die zwischen uns gespannt sind, die mittlerweile nicht mehr nur unseren Geist miteinander verbinden.
Wie schafft er es bloß, schneller als ich zu sein? Haben wir nicht beide dieselben Voraussetzungen? Müssten wir nicht ewig Katz und Maus spielen?
Ich habe keine Zeit diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Ich glaube schon seine Schritte hören zu können, fühle, wie der Sog zu ihm zurückzukehren stärker wird. Die Vögel kreischen über mir, hinter mir, umzingeln mich, schreien mich an, lotsen mein Schicksal in meine Richtung. Als könnte es den Weg nicht allein finden.

Ich schlage wahllos Richtungen ein, es dürfte mir unmöglich sein, zurückzukehren. Würde dasselbe dann nicht auch für ihn gelten? Wie kann er mich finden, wenn nicht einmal ich selbst mich wieder finden könnte? Es ist sinnlos darüber nachzudenken, ich spüre deutlich die Wut in meinem Rücken, die er über meine Flucht empfindet. Und kann ich es ihm verübeln?
Ich bleibe stehen und drehe mich einmal im Kreis. Wo bin ich überhaupt? Überall nur Wald und Moos, das an allen Seiten der Baumstämme wächst. Ich mache einige Schritte vorwärts, schiebe Zweige eines Wacholderbusches beiseite und stehe vor einer kleinen Lichtung, in deren Mitte sich ein überdachter Futtertrog befindet. Daneben zwei Vogelhäuschen, auf denen mehrere Sperlinge schweigsam sitzen.
Ich gehe darauf zu, schrecke dann plötzlich zusammen, als ich das Rascheln von Blättern höre. Er ist viel zu nah. Ich haste auf eine große Eiche am Rande der Lichtung zu und verstecke mich so gut wie möglich hinter ihr. Die Rinde ist feucht, sie fühlt sich in meinem Rücken so kalt an, dass mir ein Schauer durch meinen Körper fährt.
Stille.
Weshalb nur nehme ich all diese Strapazen auf mich? Es wäre so schön, in seiner Gesellschaft auf der Terrasse zu sitzen und das rege morgendliche Treiben der Dörfer und Städte einfach nur zu beobachten. Keinen Gedanken daran verschwendend, welche Strafe mir droht, sollte er mich schnappen oder welch grauenvolles Dasein, das andere Leben nennen, wenn ich ihm entwische?
Vor mir lässt sich still ein Sperling nieder. Sieht mich aus schwarzen Augen an, deren Tiefe ich nicht schätzen kann. Immer wieder plustert er seine Brust auf.
Wo bleibt er nur? Ich kann ihn nicht fühlen, und doch müsste ich es, so nah wie er sich befindet.
Was war das?
»Wo bist du?« Diese Stimme, wie ich ihrer überdrüssig bin! So verletzend, er darf … nein! Aufhören, ich muss mein Denken einstellen.
Nach wenigen Sekunden springt der Sperling auf und lässt sich auf mir nieder. Seine Krallen können beinah meinen Unterarm umfassen.
Nein, er wird doch nicht … bevor er in der Lage ist zu kreischen, packe ich ihn fest und zerquetsche ihn mit überraschend wenig Mühe.
Das Knacken seiner Knochen kann ich nicht hören, es geht im Knirschen der Äste unter, als er sich wieder von mir weg bewegt.
Aber fühlen kann ich es.

Noch immer ist die Sonne nur zu erahnen und der Nebel bedeckt sanft die wenigen Häuser des Dorfes. Von der Hügelkuppe aus habe ich eine weite Sicht. Die Ruhe, die über der Siedlung liegt wie eine dünne Schicht Staub, wartet nur darauf, vom Morgen weggewischt zu werden.
Kurze Zeit stehe ich einfach nur da und lasse meinen Blick über die wenigen Behausungen streifen. Wohnte sie hier?
Das Quietschen einer Tür reißt mich aus meinen Gedanken. Es ist so laut, dass ich es als Berührung in meinem Nacken wahrnehmen kann. Eine geschlechtslose Person verlässt das kleine Haus. Auf Kies, der wie Glasscherben klingt, kehrt sie mir den Rücken zu und lehnt sich über den Rand eines Brunnens, der einige Meter von ihrem Haus entfernt wie ein einzelnes, halb geöffnetes Auge aus der Mitte des Dorfes herausstarrt.
Mich anstarrt.
Ich höre das Plätschern von Wasser, das Quietschen alter ungeschmierter Zahnräder. Als sie fertig ist dreht sie sich um, einen Eimer wankend in einer Hand haltend, und geht auf mich zu. Ihren Blick, gerade noch auf den Boden geheftet, hebt sie, als spüre sie dieses eine Kribbeln, das man nicht zu begründen weiß, und sieht mich an. Weder kann ich ihre Augen erkennen, noch den Ausdruck ihres Gesichtes, doch scheint sie direkt auf meines zu blicken. Ich fühle mich ihr ausgeliefert, verurteilt ob meiner Gestalt, die ihres Gleichen erschreckend erscheinen muss.
Der Eimer fällt, und dann sie selbst. Sie kriecht rückwärts, noch immer zu mir aufschauend, schafft es dann, sich wieder aufzurappeln und geht hastig, rennt fast, auf das Haus zu, aus dem sie gekommen ist. Quietschend fällt die Tür hinter ihr ins Schloss.
Um einer weiteren Konfrontation aus dem Weg zu gehen, verschwinde ich wieder im Wald, mir plötzlich dem Knacken der Äste und dem Vogelgezwitscher, das wie auf Anweisung losgebrochen ist, bewusst werdend.
Er ist nah.

Es muss daran liegen, dass er diesen Forst so gut kennt wie diesen Körper, jeden Weg, jede Falte, jeden Hang, jede Narbe. Ich hingegen habe keine Ahnung von beidem.
Die Zweige stechen in meinen Körper und wenn ich meine Beine so betrachte, wie sie die Hosen verformen, habe ich das Gefühl, sie wären ebenfalls Äste. Ich brauche mich nicht darüber zu wundern, Angst in Menschen hervorzurufen, bin ich mir doch selbst nicht geheuer. Die Erde unter mir ist glitschig und weich, so dass es für die Würmer ein Leichtes ist, sich ihren Weg an die Oberfläche zu graben. Ich fühle sie unter meinen nackten Füßen, die in keine Schuhe passen. Wie unter Qualen wälzen sich die Regenwürmer in den Tautropfen, die von den Blättern des Busches herabregnen, und sehen aus, als bereuen sie ihren Entschluss, der schützenden Dunkelheit den Rücken gekehrt zu haben. Wie gut ich sie verstehen kann.
Zusammen mit einem Rascheln tauchen seine dürren Beine, Zwillinge von meinen, vor mir auf. Die beigefarbenen Hosen von Wasser und Schlamm dunkel gefärbt. Er weiß, dass ich hier bin. Und er weiß, dass ich das weiß.
Vorsichtig muss ich sein, oh, ich darf ihn nicht verschrecken, ist der doch nichts anderes als ein Hündchen, das ich mit dem richtigen Knochen wieder an mich zu binden weiß. Er sehnt sich nach mir, aber ich darf ihm das nicht … oh Schluss! Es ist so schwer, unsere Gedanken voneinander zu trennen! Jetzt, da er mir so nah ist, zum Greifen nah, gleichen sie sich wie ein Ei dem anderen und es ist mir fast unmöglich, den Richtigen zu fassen.
»Komm raus«, sagt er und irgendwo hinter ihm bellen Hunde. Ich bleibe sitzen. Vielleicht verunsichert es ihn, wenn … nein, mit … dem … Denken … aufhören.
Er macht einige Schritte auf mich zu, steht jetzt direkt vor mir, ich könnte ihn berühren, meinen Körper wieder mit dem seinen verschmelzen lassen, wieder zu einem Ganzen werden. Doch ein Ganzes, von dem ich die unterdrückte Hälfte bin.
Nah, so nah, fühle, wie er sich verzehrt, fast so sehr wie ich.
Meine einzige Bewegung ist das Zittern meiner Hände, das ich nicht unterdrücken kann.
»Du machst dich lächerlich.« Woher nimmt er nur die Kraft, die hinter seiner Stimme steckt? Wieso hat er nicht dieses Gefühl, seine Brust wäre zum Zerplatzen mit Laub gefüllt?
»Du warst schon immer der dümmere Teil von uns, aber das …« Er lacht. Nur kurz und leise.
Ja, es mag stimmen, dass nicht ich mit Intelligenz gesegnet bin, aber noch habe ich meinen Überlebenswillen.
»Allein schaffst du es nicht hier Draußen. Mitten drin zu sein ist etwas anderes als alles nur zu beobachten.«
Möge er auch noch so gering sein.
Die Einsamkeit ist die Schuldige. Sie ist dafür verantwortlich, dass wir beide uns einen Verstand, einen Körper teilen und somit nur die Hälfte von allem haben, um damit klar zu kommen.

Ich verharre jetzt schon lange so. Zwingen kann er mich nicht, das weiß er. Doch ihm macht es nichts aus, stillzustehen, während mein Körper meiner Kontrolle zu entgleiten droht. Ich habe keine Ahnung, wie man die Schmerzen unterdrückt. Ich hatte doch nicht einmal eine Ahnung, was Schmerzen sind.
Meine Arme verkrampfen sich um meine Knie und die Kälte sticht in meinen Magen.
Ist das Freiheit? Sie in einem selbst gewählten Gefängnis ohne Gitterstäbe, ohne Schlösser zu verbringen, das man doch nicht verlassen kann? In Ketten gelegt von den Blicken anderer?
»Willst du hier ewig hocken?«
Sollte es nötig sein! Meine Fingernägel graben sich in meine Handballen. Meine Wut … ich habe sie schon immer nur schwer unter Kontrolle halten können. Wir sind selten einer Meinung gewesen, er und ich. Doch ich habe nachgegeben, bin wie ein Köter vor ihm gekrochen, Rückgrat hatte ich keines. Zwar habe ich geschrieen, doch dieses Geschrei war nur ein plakatives Aufbegehren, das ich dachte zeigen zu müssen. Es kann doch nicht sein, dass ich jetzt, da ich der Freiheit so nahe bin, wieder in diesen Zustand zurückkehren muss?
»Nun gut«, sagt er und lässt sich vor mir im Schneidersitz nieder. »Du hältst die Einsamkeit für das kleinere Übel? Doch hier, in diesen Büschen sitzend wie ein ungeschickter Dieb, der sich vor dem Gesetz versteckt, wird man dich bald finden. Dein eigener Hunger oder ein Mädchen, das diese Beeren pflücken möchte, die bereits kurz vorm Zerplatzen stehen, liefert dich ans Messer.« Ja, ein Mädchen. Letztendlich ist es doch immer ein Mädchen, nicht wahr?
Noch immer wage ich keine Bewegung. Wieso macht er mir plötzlich solche Angst?
»Du fürchtest dich zu Recht. Denk nur daran, wie sie dich«, uns, »behandeln werden, wenn sie dich finden? Weder siehst du aus wie ein Mensch, noch denkst du wie einer.« Ich habe ihn
Ach, er hat Recht! Diese Person, die selbst aus dieser Entfernung meine Abartigkeit erkannt hat, ist doch Beweis genug.
»Du musst das begreifen.«
Er schiebt seine Hand durch das Geäst. Einige Sekunden tue ich nichts. Das Gesicht dieses Mädchens, dieses Kindes, das sich in jedem Fenster, jedem Wassertropfen spiegelt, lässt sich nicht aus meinen Gedanken vertreiben.
»Nun? Ein Neuversuch?«
Wie an Fäden hebt sich meine Hand und verschmilzt mit seiner.

***

Acht Wochen sind seitdem vergangen. Ich lag die Nächte wach, musste mit einem Gefühl leben, das einer Schwerelosigkeit gleich kam. Ich war meines Körpers beraubt worden und glaubte nun, die Verbindung zum Boden zu verlieren. Dieser plötzliche Wechsel von Nichtexistenz zu Materialität und wieder zurück hatte meine Kräfte erschöpft und obwohl ich zu keinem Zeitpunkt schlief, konnte ich die Welt um mich nicht mehr wahrnehmen. Alles war, als würde ich durch Milchglas blicken und selbst wenn er mich ansprach, dauerte es oft Minuten, bevor ich mir dessen bewusst wurde. Bis auf das Gesicht, ihr Gesicht, in dem der Tod erwacht war. Und ich hatte nichts getan, um ihn zu daran zu hindern.
Es dauerte nicht lange und er verlor das Interesse an mir.

Es ist kaum zu glauben! Jetzt, da er mir keine Aufmerksamkeit mehr schenkt, ist es mir ein Leichtes, meinen eigenen Gedanken zu folgen. Sein Einfluss auf mich ist von mir abgefallen und obwohl ich noch immer genauso wenig Mensch bin wie zuvor, denke ich zumindest wie einer. Trotzdem darf ich nicht unachtsam werden. Misstrauisch bleibt er, da bin ich mir sicher. Nur wenn er schläft, habe ich meine Ruhe. Da habe ich Zeit, meinen letzten Versuch zu planen.
Doch so sehr ich es auch probiere, wenn er schlummert, dann auch sein Körper.
Ich habe also nur eine Möglichkeit: Ihn bei wachem Zustand zu überrumpeln.

Seit ich ihm nicht mehr als Gesprächspartner diene, hat er versucht, sich wieder ins Gesellschaftsleben zu integrieren. Zweimal in der Woche lädt er Männer aus den umliegenden Dörfern und Städten ein, um beim Kartenspiel seiner Zunge wenigstens etwas Bewegung zu verschaffen. Meist sogar zu viel Bewegung.
Den Wein lässt er bei diesen Gelegenheiten fließen, um zu vergessen, dass er über ihnen steht, dass die Intelligenz seiner Gäste sich nicht mit seiner messen lässt. Um zu vergessen, was er getan hat. Hin und wieder verschwindet er in der Küche, ein »Einen Augenblick«, murmelnd, um den Wein durch etwas Stärkeres zu ersetzen. Whiskey, Likör oder Rum, den Zweck erfüllen sie alle.

Es ist spät, die Zeiger der Uhr nähern sich Mitternacht und die Männer sitzen bereits einige Stunden beieinander.
Ich muss nur darauf warten, dass er sein Lächeln vortäuscht, mit vorgebeugtem Oberkörper den Stuhl mit den Waden von sich schiebt und sagt: »Entschuldigt mich.«
Auf den Moment, in dem er das Glas Whiskey von seinen Lippen nimmt, die Augen wieder öffnet und dann von einem kurzen Schwindel übermannt wird.
Ich denke an den Sperling und das Mädchen und ich glaube, dass ich es schaffen kann.

© Tamira Samir

 

Hi Blackwood!


Erstmal vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar.


Dass die Geschichte kein Glanzlicht ist, war mir bereits beim Schreiben klar. Vielleicht hast dus gemerkt - ich hatte meine Poe-Zeit, als ich sie schrieb. Da mir bei meiner letzten Geschichte nahegelegt wurde, das Thema wäre zu sehr "an den Haaren herbei gezogen" (ich weiß den genauen Wortlaut nicht mehr ;) ), wusste ich nicht genau, wie ich die nächste Geschichte anpacken sollte. Und deshalb was einfaches. Und deshalb der altmodische Stil.

Sehr verbessern werde ich die Geschichte allerdings nicht mehr können, selbst wenn ich die von dir genannte "Zerrissenheit" im Text und im Zusammenhang (hast hier übrigens Recht, hab ich wirklich übersehen!) beseitigen könnte, denn dann müsste ich die Geschichte komplett neu schreiben. Anderer Stil - anderes Setting. Denn zu einem "modernen" Stil, wie ich ihn normalerweise lieber verwende, passt keine "Verfolungsjagd" durch einen Wald, kein kleines Dörfchen, etc.
Und dazu bin ich nicht in der Lage, zumindest derzeitig, denke ich, da ich zurzeit sowieso kaum was zustande bringe. ;)

Die Antwort darauf, und ein paar Andeutungen zu ‚wie hat er denn die erste Trennung geschafft?’ bleibst Du noch schuldig.
Naja, da die erste Trennung bereits in der Vergangenheit liegt, dachte ich, es wäre nicht wichtig, wie sie denn funktioniert hat. Sie muss allerdings einfacher gewesen sein, da das andere "Ich" (der Bösewicht sozusagen) nicht damit gerechnet hat, was er dann später ja tut. Ach, irgendwie schaff ich den Grad zwischen zu viel und zu wenig Informationen nicht.


So, viel Blabla um nichts: Werde mir deine Kritik zu Herzen nehmen und das nächste Mal versuchen, mehr zu experimentieren, auch wenn eigentlich die ganze Story schon ein "Experiment" war. :)
Wenn ich nur wüsste, wie...


Liebe Grüße
Tamira


Merkwürdig: Je länger und ausführlicher eine Kritik, desto weniger weiß ich darauf zu antworten... *g*

 

Hi Tamira,

dein "Zerrissen" hinterlässt einen zwiespältigen, fast schon schitzophrenen Eindruck bei mir. Und um ehrlich zu sein, habe ich nicht hundertprozentig verstanden, von wem oder was du erzählst. :confused:

Der Prot. scheint ja ganz offensichtlich eine andere, dunkle Seite zu haben, einen Zwilling, vor dem er einerseits zu entfliehen versucht und sich ihm gleichzeitig entgegenstellt. Zerrissen eben.

Die Rolle des Mädchens war auch mehr als mysteriös, soll sie etwa die Versuchung für den Prot. darstellen? :hmm:

Tja, soviel zur ungenauen Analyse, gefallen hat mir vor allem deine, vor Metaphern strotzende Schilderung der unmittelbaren Umgebung und Ereignisse. :thumbsup: :thumbsup:

Überall nur Wald und Moos, das an allen Seiten der Baumstämme wächst. Ich mache einige Schritte vorwärts, schiebe Zweige eines Wacholderbusches beiseite und stehe vor einer kleinen Lichtung, in deren Mitte sich ein überdachter Futtertrog befindet. Daneben zwei Vogelhäuschen, auf denen mehrere Sperlinge schweigsam sitzen.

Bei solchen Beschreibungen entsteht ein klares, glaubhaftes Bild im Kopf des Lesers (also bei mir) und die Handlung gewinnt an Fahrt.

Dann verfällst du aber wieder in einen mysteriösen Monolog und servierst mehr Fragen als Antworten, was auf Dauer extrem frustrierend wirkt.

Leider ist die Auflösung genauso vage und man bleibt mit einem unzufriedenen Gefühl zurück, sehr schade. Zeitweilig habe ich mich aber an einen meiner Lieblingsfilme, Fight Club, errinnert gefühlt, denn irgendwie ist das Ganze, wie gesagt, schitzophren.

Ciao, Marv

 

Hi Marvin und gleich noch ein herzliches Willkommen!


Erstmal vielen Dank fürs Lesen und Kritisieren.


Der Prot. scheint ja ganz offensichtlich eine andere, dunkle Seite zu haben, einen Zwilling, vor dem er einerseits zu entfliehen versucht und sich ihm gleichzeitig entgegenstellt. Zerrissen eben.
Ne, eigentlich spaltet sich nicht nur seine Seele, sondern letztendlich auch sein Körper. Anfangs erschafft der "andere", der eigentliche Mensche, diese Persönlichkeit (den Prot) nur, um seine eigene Einsamkeit zu überbrücken, die er sich selbst auferlegte, als er das Mädchen getötet hat.
Und immer diese Stimme des Mädchens. Ich kann nichts verstehen, es ist nur ein Wimmern, das sich in meine Gedanken frisst wie Säure. Langsam hasse ich sie dafür. Hasse sie, weil sie sich den falschen Mann zum Opferwerden ausgesucht hat. Hasse sie, weil sie für all die Streitereien verantwortlich ist. Hasse sie, weil ich es mit ansehen musste …
Doch als diese andere Persönlichkeit zu einer eigenen Persönlichkeit wird, beschließt sie, sich von dem Körper zu trennen. Wie das funktioniert, keine Ahnung. :D

Die Rolle des Mädchens war auch mehr als mysteriös, soll sie etwa die Versuchung für den Prot. darstellen?
Ne, das Mädchen ist einfach ein Mädchen. Eine Liebe vielleicht, oder eine Hure, oder ein Versuchskaninchen. Auf jeden Fall wurde sie zum Opfer des anderen.

Leider ist die Auflösung genauso vage und man bleibt mit einem unzufriedenen Gefühl zurück, sehr schade. Zeitweilig habe ich mich aber an einen meiner Lieblingsfilme, Fight Club, errinnert gefühlt, denn irgendwie ist das Ganze, wie gesagt, schitzophren.
Leider ist das das Problem der multiplen Persönlichkeitsspaltung (übrigens ist Schizophrenie etwas komplett anderes und hat mit der multiplen Persönlichkeitsspaltung, von der ich nicht einmal weiß, ob sie überhaupt so funktionieren würde, deshalb das Übernatürliche, nichts zu tun!) - man denkt an Fight Club. (Warum eigentlich die wenigsten an Jeckyll & Hyde denken frage ich mich wirklich *g*)

Ach ja - zur Auflösung: Der Prot (das andere Ich, das keinen eigenen Körper besitzt) überrumpelt den Körper, wenn dieser betrunken ist, um die Oberhand zu übernehmen. Keine Spaltung mehr, da diese nicht funktionierte (sie hingen geistig noch zu sehr aneinander), sondern direkte Übernahme.


Danke fürs Lesen und wenn ich die Story überarbeite, bei Zeiten, nehme ich mir deine Kritik zu Herzen. Schade, dass es nicht dein Ding war, aber, wie bereits erwähnt, habe ich damit gerechnet.


Liebe Grüße
Tamira

 

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