- Beitritt
- 10.07.2006
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Zerschmetterling.
Sie ist verändert.
Sie hat den Kopf in ihren verschränkten Armen vergraben, als ich mich in den Türrahmen ihres Zimmers schleiche und sehe. Ich sehe sie, vier leere Weinflaschen und eine angebrochene, die neben ihr auf dem Schreibtisch stehen und ein ästhetisches Bild abgeben in diesem hellgrauen Raum aus Rauch und farblosen Möbeln. Der Raum ist klein, ich auch. Ich bin klein, sie ist erwachsen und die Rollen vertauschen sich nicht erst in diesem Moment. Sie atme leise und unregelmäßig, während die Sonne bereits untergegangen und der Himmel trotz allem noch nicht schwarz ist; der Himmel ist dunkelgrau und die Farben der Situation passen so gut zusammen, dass es ist wie im Bilderbuch.
Ich bin traurig und ein wenig hilflos, wirklich. Ich wünsche mir, dass sie normal ist und kurz darauf schreckt sie auf aus ihrem alkoholisierten Halbschlaf, mit zerbissenen Lippen und Haaren die aussehen, als hätte ich sie mitten in der Nacht mit einer Axt geschnitten.
Dafür, dass ich wütend bin, hasse ich mich nicht in diesem Moment; obwohl in Ratgebern über Co-Abhängigkeit meist von derartiger Schuldgebung die Rede ist und sie sich benimmt wie ein Kind. Nichts sagt, doch es besteht eine Gefahr, dass sie sowohl vor Instabilität als auch aufgrund meines hasserfüllten Blicks gleich vom Stuhl fällt. Bereits bei der zweiten Flasche ist ihr der prinzipiell notwendige Gleichgewichtssinn aus den Ohren gefallen und nun befindet sie sich im Besitz diverser Schwierigkeiten mit den dazu gehörigen Vorgehensweisen: Sehen, sitzen, reden und denken.
„Geh ins Bett.“
Meine Stimme ist kratzig und mein Kopf tut weh. Die Worte erfüllen das Zimmer und zwar auf eine schrecklich böse Weise, die mir im Nachhinein doch nur ihren momentan nicht vorhandenen Sinn für das Geschehen in die Fresse feuert. Sie lallt etwas, setzt die bereits erwähnte angebrochene Flasche erneut an.
„Geh ins Bett, verdammt, ja? Mama?“
Ich gehe auf sie zu, weil ich bin ihre Tochter. Packe sie am viel zu dünnen Arm und versuche sie auf irgendeine unbedachte Weise vom Stuhl wegzuziehen. Sie ist zu schwer aufgrund dieses Elans, mit dem sie sich hängen lässt und macht mein Gemüt ohne sich zu wehren sehr kaputt. Ich schaffe es nicht.
Ich fange an zu weinen, als sie plötzlich auf dem Boden liegt und ihr Kopf droht, gefährlich gegen das Tischbein zu stoßen. Ich schaffe es nicht; denke ausschließlich an den Tag im Schwimmbad mit ihr und ihr Gesicht, das anders und schön aussieht wenn die Sonne scheint und ihre Vorsätze stärker sind als der Rest. Sie legt einfach da und zwar nicht in der Lage, aufzustehen; offenbar versucht sie es zwei Mal, ihr Körper allerdings gibt schneller als nötig auf und es verändert sich nichts.
Die Sonne müsste scheinen, weil sie es mir schuldig ist.
Es müsste jemand hier sein und meine Hand nehmen, weil sie es mir schuldig sind.
Sie darf nicht weg, weil wir sind uns das schuldig.
Nachdem ich aus halber Verzweiflung heraus zwei Runden durch die dunkle Wohnung gedreht habe und viel zu sehnsüchtig das Telefon angestarrt, schleichen sich die schlechten Gewissen ein. Der Gedanke bohrt sich in mein Herz und lässt jegliche Ignoranz absterben. Es ist unmöglich in diesem Moment, halbwegs kühlen Kopfes ins Bett zu hüpfen und dem verzerrenden Schlaf abzuwarten in aufgeregter Stellung. Ich habe Angst um sie und das erlösende Glück liegt ausschließlich in der Hoffnung, ihr in geraumer Zeit die Decke über den Kopf ziehen zu dürfen.
Mittlerweile liegt sie auf der Seite und versucht sich mit aller verschwunden Kraft an der Tischkante hochzuziehen. Sie bleibt auf dem Boden und schreit vor Schmerzen, weil der Kopf an das zu ungünstig stehende Regal geknallt ist; es blutet nicht aber die Angst vor etwas Gravierendem existiert trotzdem meinerseits.
„Mama, bitte!“, schreie ich zurück und komme mir kitschig vor und wie in einem theatralischen Schmatzfetzen aus Hollywood, in dem die diesjährige Oskarhoffnung die verzweifelte Hauptrolle spielt und ihr verkrüppelter und trotzdem unglaublich gut aussehender Boyfriend am Ende plötzlich laufen kann und dann gehen alle bei einem unglaublich romantischen Sonnenuntergang glücklich nach Hause. Nur, bei uns ist es Nacht. Und wir sind zu Hause, was die Situation nicht grade erleichtert.
„Ich bin doch deine Tochter!“
Mein Schreien vermischt sich mit einem schrecklich hysterischem Heulkrampf und einem gewissen Zittern. Ich schreie und schreie und immer denselben Satz, der für sie keine Bedeutung mehr zu besitzen scheint. Ich knie mich auf ihre Höhe, nehme ihre nahezu leblose Hand und warte vergeblich auf eine Reaktion. Wirklich, vergeblich.
Sie unternimmt einen neuen Anlauf zum Aufstehen, während ich mit aller Kraft versuche, ihr dabei zu helfen und es fast funktioniert. Sie steht, aufgrund meiner angespannten Muskeln zwar, aber sie ist um einiges aufrechter als je zuvor in den vergangenen zwei Stunden und wehrt sich noch immer nicht, als ich sie zwei Schritte zum Bett schubse.
Diesmal knallt ihr Kopf gegen die Wand und sie scheint schmerzresistent geworden zu sein. Gibt keinen Laut von sich, als sie endlich auf der Matratze liegt und das Bett quietscht vor Erschrockenheit. Pflichtbewusst helfe ich ihr dabei, sich in einer einigermaßen würdevollen Position zu platzieren, von wegen normal.
Ich liebe sie nicht. Nicht jetzt.
Ich lege mich neben sie und achte auf jeden Atemzug und ich hoffe. Das Ticken der Uhr ist das einzige Geräusch.