Ziel unbekannt
Ziel unbekannt
Oft schläft, wie edles Samenkorn,
Das Herz der Sterblichen in toter Schale,
Bis ihre Zeit gekommen ist.
Hölderlin
Was ist ein Traum? Wie oft hat man nicht schon den Traum mit dem Leben verglichen? Wieviel Schwachsinn ist hier nicht schon geschrieben und getrieben worden? Der ungeheure Berg an Makulatur, den die Psychoanalyse allein hervorgebracht hat, ist das beredteste Zeugnis davon. Was aber weiß schon der Akademiker, der den Staub schluckt, den er aus hunderten von Büchern schüttelt, was weiß er denn schon im Vergleich zum Menschen wie du und ich einer sind, im Vergleich zum Kind, das hier Dinge weiß, die dem Erwachsenen so fern wie unbegreiflich sind? Warum sollen wir uns von jenen belehren lassen, die sich als „Berufene“ wissen wollen? Wollen wir die gelehrten Bücher fragen? Sollen wir etwa auch einen Mathematiker bitten, uns eine Formel für die Liebe zu finden? Wollen wir die Liebe auf chemische Reaktionen zurückführen? Wollen wir so absurd sein? Nein. Das wollen wir nicht. Und so will ich erzählen, was Thorwald erlebt hat.
Wir werden jemanden fragen, der es weiß, jemanden, der es selbst erlebt hat. Am eigenen Leibe, mit eigenem Bewusstsein, unbeschmutzt vom Gutdünken des Primars, der mit wissender Miene und ohne echte Ahnung um 9:15, gefolgt vom Oberarzt samt seiner Legion dienstbeflissener Schwestern zur Türe hereinplatzt, um gönner- und götterhaft seine Objekte zu begutachten. Völlig unpassend übrigens, denn um diese Zeit rastet man ja gewöhnlich vom Frühstück aus, sitzt bereits aufrecht und liest die Zeitung. Aber nein, jetzt ist „er“ da, ja, Gott in Weiß, Alleswisser und Dozent auf der Universität.
Nein. Jetzt ist es an der Zeit, sich zu erinnern. Jetzt ist es an der Zeit, zu erzählen, was gewiss geschehen ist und des Zweifels unwürdig, der sich vielleicht in den Herzen einiger Leser breit machen möchte, weil die Geschichte doch etwas apart ist.
Ganz ungewiss ist, was davor passiert ist. Der Film ist gerissen, irgendwo mittendrin im Leben einfach abgerissen. Der durchschnittliche Mensch erlebt so etwas freilich nicht, außer vielleicht nach einer durchzechten Nacht, aber dann wäre er ja kein durchschnittlicher Mensch mehr. In Thorwalds Leben war es allerdings anders. Aber der Reihe nach. Wie gesagt, hatte seine Erinnerung einen Riß bekommen; er wachte auf, doch dann war eine Zeitlang nichts. Schwarz. Aus.
Ein erster Eindruck erreichte Thorwald, irgendwann nachts oder morgens: der Druck auf alle Gliedmaßen stellte sich ein, und er begann sich zu orientieren. Er spürte dieses Ziehen in den Schläfen, das er dem Alkohol zuschrieb, dem er am Vortag offenbar zugetan gewesen sein musste. Wenn man dieses Ziehen spürt, weiß man: Mist, gestern hab ich mich schon wieder einmal nicht beherrscht. Man kennt das ja. Es musste ganz sicher zuviel gewesen sein, denn er konnte sich an nichts mehr erinnern. Was, so viel getrunken? Aber wo? Und mit wem? Alleine zu Hause? Nein, kann nicht sein. Aber, so überlegte er weiter, es hätte der Schmerz in den Schläfen marternder sein müssen; ein Wummern und Stechen, als ob jemand mir den Kopf zerdroschen hätte. Das Ziehen verging indes nach ein paar Sekunden, so rasch, wie er es noch nicht erlebt hatte. Er schüttelte den Kopf in der typischen Bewegung, die man macht, wenn einem ein peinlicher Gedanke in den Sinn kommt, den man ganz schnell wieder los werden möchte. Dann streckte er sich durch, dass die untern Wirbel knackten. Mit einem kurzen Schrei stieß er die eingegähnte Luft aus und zog sich zusammen. Er fühlte sich bereit für den kommenden Tag.
Im Geist roch er schon die lebensspendende Tasse Kaffee, die ihm den Einstieg in den Tag erleichterte. Das gehörte zu seinem Ritual: zur Haustüre, die Zeitung holen, die Beine auf den Tisch strecken und bei einer heißen Tasse Kaffe den Kunst- und Kulturteil zu studieren. Die anderen Zeitungsteile interessierten ihn nicht. Am allerwenigsten die Dreckschleuder. Regierungsbildung. Schon dieses Wort! Als gäbe es da etwas zu bilden! Als wuchere das nicht eher wie ein Geschwür, das sich nicht mehr behandeln lässt, weil viele-allzuviele Ärzte daran herumdoktorn.
Ebensowenig interessierte sich Thorwald für die Wirtschaft. Er hatte genug, und das genügte ihm. Neulich hatte er sich von Berufs wegen einen Vortrag über die Integration westlicher und östlicher neuer Erkenntnisse zur Hebung der Marktchancen anhören müssen, ausgerechnet von einem Amerikaner aus Virginia, dem Geburtsland George Washingtons. Der rotzfreche Prahlhans hatte Mumm genug, seinen altehrwürdigen Vorfahren und ersten Chef des größten Völkermörders schlechthin als Vorbild für Gerechtigkeit anzupreisen! Am liebsten hätte er ihm ins Gesicht geschmettert: Well, du dollargeiler Mediokritätsreüssierer, wenn George Washington heute noch lebte, was wäre er für ein Vorbild? Ein Vorbild für Emporkömmlinge und Mafiosi wäre er! Er, der Rockefeller seiner Zeit und reichster Mann Amerikas, ein Landräuber, ein Holzräuber und Ausbeuter! Wehe aber, wenn sich irgendwo ein paar Unternehmer zusammenschlossen, die ihm und seinen Machenschaften gefährlich werden konnten: da nütze er sein Amt wohl, um ihnen die verletzendsten Phrasen entgegenschleudern, deren Gewicht durch sein Amt nur noch schwerer wog. Dagegen verachtete alle Anwälte, Lehrer und sonstige Obskurantisten. Aber er hatte immer seinen Flachmann mit dem teuersten Whisky dabei, von dem er ausgiebig Gebrauch machte. Oh, was für ein Mann, nicht wahr?
Wer sich gegen ihn auflehnte oder demonstrierte, der wurde dem rasenden Pöbel zugerechnet, vor dem zu schützen unser lieber George dem amerikanischen Volk eifrig versprochen hatte. Beinahe wie der heutige George, nur dass der seine Methoden – so plump sie im Übrigen auch sein mögen – vorher gut mit seinen Beratern auf die Medien hin tauglich gemacht hat. Diese Höllenhunde der Plutokratie! Nein, davon hatte er genug
Und dann Sport! Diese moderne Totalversklavung des Menschen. Gerade neulich sagte doch die Mutter dieser bekannten Radsportlerin in einem Interview im Fernsehen: Wenn man als Sportler keinen Biss hat, ist man heutzutage ohnehin nicht dabei. Gefragt, was denn „Biss“ sei, antwortete sie: Wenn ein Sportler an seine Grenze kommt und sie permanent überschreitet, dann „leiste er erst etwas“. Pfui Teufel. Das ist nicht Sport. Aber: daher kommt der Spruch mit dem Sport und dem Mord, da hat er seine volle Berechtigung. Nun, für Thorwald hatte der Spruch überhaupt seine Berechtigung, überall. Nein, nicht einmal die Sommerolympiade war Anlass genug, den Kasten anzuschalten. Schon die Eröffnungsfeier: Eine kultische Handlung für einen unbekannten Gott.
Thorwald riss die Seiten immer ganz schnell nach links, bis zum Kulturteil. Freilich: auch das, was da geschmiert wird, ist eigentlich nicht Kultur, aber Neuigkeiten erfährt man nun einmal zunächst und zumeist aus der Zeitung. Es war ein Artikel über das freche Schandwerk Gustav Perlmanns angekündigt worden, der mit seiner schundigen Schreibweise in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts schon einmal das Herz der Literaturkritiker gewonnen hatte. Besonders das Herz jenes großen-übergroßen Mannes aus dem literarischen Klosett, wie Thorwald es zu nennen pflegte. Der Brechstil, in dem Perlmann seine Bücher schreibt, hatte sämtliche Kritiker zu einem Aufschrei veranlasst. Aber im positiven Sinn. Sie waren von seinem Stil begeistert. Das Zerhackte, Unzusammenhängende und Kaputte erheischt ja seit einem knappen Jahrhundert immer der Literaten größtes Lob. Trümmerliteratur für rezensierende Trümmerhaufen, dachte sich Thorwald. Aber das „Schillerblatt“ beschäftigte einen Feuilletonisten, der sich gegen die bestehende Literaturkritik verschworen zu haben schien. Als Ivor Shandor Martin Walsers „Tod eines Kritikers“ als kaputtestes, dabei in allerschlechtestem Stil geschriebenes Machwerk eines gefährlichen Langweilers verrissen hatte, in Langerweile vielleicht nur noch von Peter Handke zu übertreffen, hatte Thorwald sich in ihn verliebt. Seit dem las er jeden Artikel, den Shandor schrieb und ergötzte sich am Gift, das der Ungar auf literarische Neuigkeiten verspritzte.
Wie anders war da jener alte Kritiker aus Wloclawek, dessen erster und letzter Wunsch es immer gewesen war, sich selbst zu präsentieren! Beinahe vierhundert mal spuckte der sein Gift und seine Galle auf alles, was geschrieben worden war, ignorierte die Anwesenheit seiner Beigesellten, cholerisch zischelnd über alles, was ihm nicht zu Gefallen stand, und war davon überzeugt, ein großer Kenner und übrigens weiser Mensch zu sein. Thorwald war vom enormen Wissen dieses Mannes immer beeindruckt gewesen, bis er dahinter kam, dass man Wissen auf eine Art und Weise haben kann, in der man auch die Krätze haben kann. Er freute sich auf seinen Kaffee.
Thorwald mahlte seine Bohnen übrigens immer selbst. Das Aroma ist einfach unvergleichlich. Er freute sich auf die erste Tasse. Und auf Shandor. Das Geräusch einer erwachenden Fliege konnte ihn während des frühen Lesens rasend machen. Deshalb untersuchte er immer zuerst das Küchenfenster auf fliegende Eintagsparasiten. Die Klappe, die auf einem Stoß alter Zeitungen lag, zeugte von ausgiebigem Gebrauch. Überhaupt bemühte sich Thorwald, alles, was zur Gattung der Insekten gehörte, als Teufels Beitrag zu Gottes Werk zu betrachten und es dementsprechend auszurotten. Selbstverständlich waren der Teufel und sein Gegenspieler Metaphern, aber brauchbare, ja, durchaus.
Das war seine heile Welt: er war ein Aussteiger im herkömmlichen Sinn; ein Mensch, der sich vom Menschen zurückgezogen hatte, der nichts mehr vom Menschen wissen wollte. Er hatte es satt, die Menschen zu ertragen und zu durchschauen. Obschon es ihm immer leicht gefallen war, fühlte er, dass es zu nichts führte. Thorwald wähnte sich genau dann im Kreise seiner besten Freunde, wenn er die Türe zu seiner kleinen Bibliothek hinter sich geschlossen hatte. Morgens, wenn die Sonne ein paar Strahlen erübrigen konnte, um sie durch das winzige Fensterchen zu werfen, griff er nach Hölderlins Gedichtband, seufzte, setzte sich schwer in den Schaukelstuhl und begann laut und betont zu lesen: „Nicht alle Tage nennet die schönsten der, // Der sich zurücksehnt unter die Freuden, // wo Ihn Freunde liebten, wo die Menschen // Über dem Jüngling mit Gunst verweilten.“ Er wusste: die allerwenigsten Menschen verstehen diese hohe Dichtung. Es ist freilich nie ganz klar geworden, ob man hohen Geistes oder einfach nur gestört sein muss, um Hölderlin genießen zu können. Aber Thorwald war das egal, oder besser gesagt, es dachte nicht, dass hier ein großer Unterschied sein musste. Er hielt sich für keinen Übermenschen im Geiste, aber er verstand Hölderlin, Amen.
Zu Hölderlins Rätselsprücen trank er dann Schwarztee. Zu Hölderlin gehört einfach Schwarztee. Insiderwissen. Zu Schopenhauer trinkt man Schwarztee mit Milch, also englisch. Abends kann man mehrere Bier trinken und trotzdem noch Schopenhauer lesen, so gut schreibt der. Bravo. Zu Goethe muss man Rotwein trinken, aber das ist trivial, das wissen sogar Rezensenten. Nietzsche liest man bei einem Glas klarem Wasser, weil sonst versteht man ihn nicht. Die Biographie eines amerikanischen Präsidenten etwa oder ein Buch von David Yallop kann man durchaus mit Eistee genießen. So ist das. Thorwald kannte sich darin aus. Er wusste einfach um die Wahlverwandschaft von Werk und Getränk.
Jetzt reckte er den Kopf nach oben und rieb sich die Augen. Die Vorhänge waren zu, freilich, es war auch stockdunkel. Er fühlte sich ausgeschlafen und ausgerastet.
Vorsichtig tastend, die rechte Hand nach vorne gestreckt, die linke einige Zentimeter vor die Augen haltend, stieg er aus dem Bett. Er schlurfte ein paar Schritte, als er merkte, dass er den Holztisch nicht erreichte. Die Kante hätte ihm genau in die Hüfte fahren müssen, dämmerte ihm. Die verdammte Dunkelheit, es war doch längst Morgen! Wieso habe ich denn die Jalousien runtergelassen, tu ich doch sonst nie, dachte er. Mit wem habe ich denn gestern gezecht? Mit Christian P.? Nein, der ist ja in Irland. Es fiel ihm nicht ein.
Dann wurde ihm ganz schnell bewusst: das war weder sein Bett noch ist das sein Zimmer. Ein anderes Zimmer? Und was für ein Zimmer! Es muss ja riesig sein, dachte er nach ein paar weiteren Schritten. Was ist denn hier los? Er schüttelte sich, aber es ward kein Licht. Er musste den Schalter finden, irgendwo da an der Wand. Nur, wo zum Geier war die Wand? Er tapste unbeholfen ein paar Schritte ins Nirgendwo hinein.
Er wusste nicht, was dort auf ihn lauerte. Er wusste ja noch nicht einmal, wie er hierher gekommen war. Da war etwas, das ihn hinderte, sich zu erinnern. Aber es war nicht so, wie wenn der Suff vom Vorabend den Film hat reißen lassen. Wie komme ich hier heraus? dachte er. Wie bin ich überhaupt hier rein gekommen? Er schnüffelte herum und witterte einen schwachen Chemikalienduft, den er aber nicht zuordnen konnte. Brav, dachte er sich, die Putze hat am Vortag den Boden desinfiziert.
Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Vielleicht wird die Dunkelheit noch Einsehen haben und mir etwas anderes leuchten lassen, dachte er und schüttelte gleich darauf den Kopf über den dummen Gedanken.
Er schlurfte vorsichtig in die Richtung weiter, die er eingeschlagen hatte. Wahnsinn, was für ein riesiges Zimmer! Nach zweiundzwanzig Augenblicken fünfzig kam es ihm so vor, als sähe er etwas blinken. Vielleicht nur eine Täuschung, aber eine echt gute, dachte er. Dort vorne blinkte ein grüner Lichtpunkt. Und dahinter noch einer. Und dahinter noch mehrere. Aha, da sind wir also. Ein Stäubchen Erleichterung rieselte ihm den Rücken hinunter.
Das Ende des Raumes musste dort sein, wo die Reihen grünlicher Lichter im Abstand von mehreren Sekunden aufflackerten. Was für ein seltsamer Ort. Vielleicht bin ich… ja, klar, Außerirdische haben mich geholt, jetzt weiß ich’s! Er ärgerte sich über den blöden Einfall. Thorwald hoffte, die Lichter würden den Raum begrenzen, ganz egal, ob E.T. oder der grüne Heinrich ihn geholt hatten. Eine solche Dunkelheit, das macht zu schaffen. Es war warm, die Luft war feucht und erinnerte entfernt an Chemikalien. Die Putze hatte den Eimer umgeschüttet. Zehn Hektar Boden und jede Menge Cif, na großartig. Er blickte sich um. Auch hinter sich konnte er das Flackern der Lichter beobachten, aber in einer Entfernung von etwa hundert(!) Metern, wie er schätzte. Das ist allerhand, dachte er. Eine große Halle oder so etwas. Sein Kopf schien nicht auf Touren zu kommen; er wurde sich bewusst, dass er unangemessen reagierte. Hätte er nicht schreien sollen? Muss man da nicht schreien? Und wo bleibt der Kaffee? Ach ja, den machte er sich ja immer selber, fiel ihm ein.
Die Lichterkette vor ihm sollte jetzt nicht mehr weiter als fünf Meter von ihm entfernt sein. Mut auf, dachte er sich, das schaff ich noch. Schritt für Schritt tastete er sich heran. Als er sich dem Leuchten bis auf einen oder zwei Meter genähert hatte, verblassten die Lichter unverhofft. Oder besser, er sah das Leuchten nicht mehr, denn als er sich einige Schritte zurückbewegte, war es wieder da. Er sah nach oben, ging zu der Stelle, wo das Leuchten sein musste. Doch das Leuchten war weg. Es blieb dunkel. Er sah zurück. Ganz schwach sah er die Lichterkette, die sich anfangs hinter ihm befunden hatte. Sollte er zurückgehen? Was würde ihn dort erwarten? Dasselbe wie hier? Dann könnte er sich den Weg sparen. Die Schlurferei ist ohnehin etwas mühsam, dachte er. Die Lichter hingen also nicht an den Wänden des Raumes. Wieder versuchte er, sich zu erinnern. Wie war er hierher gekommen? Es gelang nicht. Es war, als wich die Erinnerung ihm aus. Die Gedanken schweiften ab, sobald er versuchte, sich zu konzentrieren. Er runzelte die Stirn und drehte sich langsam um. Was für ein Grauen, das einen hier beschleicht: man muss es selbst erlebt haben, um zu wissen, wie schlimm es ist. Nachdenklich ging er weiter.
Er musste wohl an die zehn Meter gegangen sein, als er vor sich eine weitere Lichterkette sah. Erschrocken wandte er sich um – etwa zehn Meter hinter ihm pulsierten nach wie vor diese grünen Lichtgebilde, im Abstand von etwa fünf Metern. Was war das hier? Träumte er nur? Ah, wahrscheinlich bin ich in einem Raumschiff. So ein Dreck. So ein Unsinn. Einfach lächerlich, sowas. Einen solchen Raum gibt’s nicht, dachte Thorwald. Dann war er ganz sicher, dass er nicht träumte, denn er hatte Kontrolle über seine Handlungen; und soweit er sich erinnern konnte, beherrschte er die Technik des luziden Träumens nicht.
Luzid- oder Wachträumer sind in der Lage, ihr Bewusstsein mit in den Schlaf zu nehmen und Einfluss auf ihre Träume auszuüben. Das ist freilich eine Kuriosität, aber kein Unsinn. Gelegentlich passiert das jedem einmal, doch um es zur Gewohnheit werden zu lassen, ist einiges Training vonnöten. Nein, verrückt war er nicht geworden, verrückt nicht. Merkwürdig genug, dass sich seine Augen an die Dunkelheit nicht anpassen wollten; er war jetzt lange genug hier, um auch einmal Hunger verspüren zu müssen; er war sportlich, obwohl er nach seiner Ansicht keinen Sport trieb (er hatte einen schwarzen Gürtel in Karate und war zwei- bis dreimal im örtlichen Dojo, um seine Fähigkeiten zu halten) und gewöhnt, morgens einen Riesenhunger zu haben. Doch nichts von alledem. Er stellte verwundert fest, dass er nicht einmal aufs Klo musste. Ja klar, wie auch, ohne Kaffee? Er beschloss, weiterzugehen. Er ging und überlegte, sinnierte, stutzte, grübelte und fluchte, aber er kam nicht ans Ende des Raumes.
Er schnob durch die Nase. Hustete. Schimpfte. Schrie. Die Dunkelheit zeigte sich von seinen Emotionen unbeeindruckt. Er ging weiter und weiter und weiter.
Vielleicht gibt es so etwas wie eine Zwischenwelt, dachte Thorwald. Eine Welt, die gar nicht dafür vorgesehen ist, dass das Bewusstsein hier erwacht. Sie befindet sich zwischen Traum und Wirklichkeit. Man darf diese Welt keinesfalls mit Einschlafträumen verwechseln, wie das esoterisierende Halb- und Dreiviertlspsychologen gerne tun, die sich jetzt scharenweise aufmachen, um das bedürftige Volk zu missionieren. Ihr Poutpourri aus Zusammengelesenem findet heute leider immer stärkeren Niederschlag. Man erkennt ihr Schrifttum ja schon von weitem: Enneagramme, Sterne, Schutzengel, seltsame Interpretationen des Wortes „Gott“, Tarotkarten und so weiter und so fort. Die Steine nicht zu vergessen, die man zur Zeit dem Wasser beifügen soll, bevor man es trinkt. Es belebt das Wasser. Selig sind, die da glauben, Amen. Nein, was es da für selbsternannte Propheten gibt, dachte Thorwald. Ums Haar wäre ich selbst einer geworden, aber leider, mir fehlt das Quentchen Blödsinnigkeit gepaart mit jenem Hauch von Charisma, das die aktiven Esoteriker zu umgeben pflegt.
Ideen hätte ich einige gehabt, dachte er. Was man allein aus dem Sufismus, der persischen und arabischen Geheimlehre und Mystik entwenden und verdrehen kann. Man hat damit schon Geld gemacht, oh, man hat schon. Was bremst mich eigentlich, nicht auch meine Erkenntnisse als neues Christusbewusstsein oder feinstofflichen Krimskrams irgendwelchen Irregeleiteten zu verkaufen, die, enttäsucht von Welt und Kirche, den Schmarrn aufsaugen wie Schwämme das Regenwasser nach einer Dürreperiode? Soll ich nicht Hausfrauenverdreher werden? Ein bisschen Reiki hier, ein wenig Chi-Gong dort, Homöopathie und Bach-Blüten für logisch „Nachholbedürftige“, alles schön im Feldenkrais. Thorwald musste schmunzeln, als er an Frau Smelin dachte, die vor einem guten Jahr in die Nachbarwohnung eingezogen war. Zuerst hatte sie versucht, seine Schwingungen zu lesen, seine „Aura“, wie sie sagte. Schon nach wenigen Wochen erkannte sie ihren „Irrtum“ und schwenkte auf Chi-Gong um. Nur zwei Monate später wusste sie dann, dass man seine inneren Spannungen aber mit Reiki lösen muss und wollte nun auch Thorwalds Spannungen lösen, wie sie sagte. Thorwald hatte ihr entspannt zugehört, ihrem impulsiven Reden nach einiger Zeit etwas verspannt gewehrt und dann gespannt darauf gewartet, welche Richtung ihr Hokuspokus nehmen werde. Es war das Pendel. Seitdem hatte er nichts mehr von ihr gehört. Vielleicht war sie endgültig ins Wassermann-Zeitalter hinübergeschwungen, dachte er sich.
Diese Zwischenwelt. Wie hieß der nochmal, der in seinen Werken immer wieder darauf hingedeutet hatte? Thorwald dachte intensiv nach, doch der Name wollte ihm nicht einfallen. Die Zwischenwelt oder das Zwielicht, wie er einmal gelesen hatte, erreicht der Mensch höchst selten, und immer ist es dann Zufall. Man kann nicht mit Absicht dahin gelangen, denn der Eingang ist ähnlich seltsam wie der Ausgang in „Alice hinter den Spiegeln“: nicht vorwärts zu erreichen. Thorwald war der Meinung, man erreiche diesen Ort normalerweise nur mit Drogen. Man braucht dafür einen Führer. Ein Indianer wäre optimal. Don Juan. Thorwald war davon überzeugt, dass Don Juan der Mann war, dessen Name ihm zuerst nicht einfallen wollte. Was für Bücher hat dieser Don Juan geschrieben? Ja, jetzt fiel es ihm wieder ein. Don Juan, der Indianer. Genau der. Der war dort, in jener Zwischenwelt. Aber Einstein soll auch dort gewesen sein, denn wie die heutige Einsteinforschung wissen will, hat Einstein Teile seiner Theorie unter dem Einfluss von Drogen im Jahre 1898 empfangen.
Er schüttelte seinen Kopf. Thorwald verwarf seine Zwischenwelttheorie. Er war aufgewacht, nach dem er sich gestern alkoholisch wieder in eine andere Dimension gesprengt hatte. Jetzt war er in die riesige Ausnüchterungszelle der Stadt München gebracht worden, wahrscheinlich. Verdammt, wieso kann ich keinen klaren Gedanken fassen hier drin? Diese irritierenden Lichtpunkte. Was ist das alles bloß. Und ging und ging und ging. Ja! Jetzt weiß ich es! Es ist ein Trip! Na klar, was sonst! Mensch, bin ich ein Trottel. Grad vor ein paar Tagen haben wir es doch verabredet: An der Isar werden wir es tun. Kalle hat dort unten ein Schrebergärtchen, allerliebst. Fünf Leute können dort übernachten. Kalle würde die Pilze auch besorgen können, weil: sie wachsen ja überall. Man muss sie nur kennen. Und Kalle kannte sie. Von „Set“ hatte er gesprochen. Und welches „Setting“ man beachten musste. Thorwald hasste die englische Sprache. Jedes Wort empfand er zeitweise als Qual. Als ob man es auf deutsch nicht auch sagen könnte. Aber die Zauberpilze waren Kalle wichtiger als linguistische Befindlichkeiten. O über diesen Kalle!
Aber jetzt erinnerte er sich gar nicht mehr daran, dass sie sich an der Isar getroffen haben sollten. Nein. Wie könnte es gewesen sein? Lagen sie jetzt allesamt am Boden der Hütte, gefangen in dem zauberpilzinduzierten Halbwelt-Schlaf, oder irrten er durch den Wald, gefangen im eigenen Ich? Thorwald fröstelte bei der Vorstellung, in Wirklichkeit durch einen dunklen Wald zu irren, nicht wissend, wann er in welches Loch treten werde, wann über welchen Baumstrunk stürzen, oh, es war einfach schrecklich. Hoffentlich, so dachte er, haben wir uns nicht in jener Hütte getroffen.
Als ihm nach einigen Stunden nicht einmal die Füße weh taten, wusste er: er schätzte die Zeit falsch ein. Ja, das ist keineswegs abwegig: bekanntlich vergeht die Zeit doppelt so langsam, wenn man Schmerzen oder Fieber hat. Sie vergeht im Normalzustand ohnehin schon langsam genug. Besonders, wenn man sinnlos vor sich hindämmert, wie das Thorwald oft tat. Oder wenn man lange in einer Situation regungslos verharrt. Und dann erst doppelt! Doch das war ja nicht der Fall, und die Zeit – es war unerklärlich. Warum taten die Füße nicht weh? Lag das am Untergrund? Eigenartig, dass er noch nicht auf die Idee gekommen war, den Boden zu betasten. Er bückte sich und fühlte den Boden mit seinen Fingerkuppen. Der fühlte sich seltsam weich und warm an. Thorwald stampfte auf. Nichts. Kein dumpfes Geräusch, das sein Stampfen hätte verursachen müssen. Nichts zu hören: wie wenn die Ohren verschlagen wären.
Es musste also doch ein luzider Traum sein. Vor ein paar Jahren hatte er einen solchen Traum gehabt. Es war in einer abgelegenen Fabrikhalle gewesen. Jemand hatte ihn verfolgt, er wusste es noch genau; und dieser Jemand hatte ohne jeden Zweifel böse Absichten mit ihm. Es war einer dieser typischen Angstträume gewesen, die einen heimsuchen, wenn die Umstände des Lebens von Stress und Ärger erfüllt sind. Im Traum kann man sehen, wie die Seele das erlebt: sie fürchtet um ihr Leben, sieht die Verkörperung jeder einzelnen bösen Situation auf sich zukommen und will sich verstecken; aber das geht ja nicht, der Feind findet sie ja doch usw. usf. Deshalb bleibt ihr nur das Davonlaufen. Aber Thorwalds Fabrikhallentraum war anders gewesen: er, Thorwald, hatte sich seinen Verfolgern gestellt. Ein muffiger Raum, voller Maschinen und Geräte, die er nicht kannte. Es roch nach abgestandenem Öl und einer beißenden, fauligen Flüssigkeit. Jemand würde kommen, und dieser Jemand würde etwas aus Thorwald herausexerzieren wollen. Dafür waren diese Maschinen wohl da. Aber Thorwald wusste, dass die Maschinen das Produkt seiner Traumphantasie waren. Traumarbeit, Verdichtungsarbeit. Verschiebungsarbeit. Nein, nein, nein. Das ist alles Blödsinn, dachte er. Freud kannte keine luziden Träume. Keine Zeit jetzt zum Nachdenken. Wie absurd: nachzudenken in einem Traum.
Die Türe, die den Raum von der übrigen Fabrik abgeschottet hatte, hatte sich geöffnet. Es war der Jemand gewesen. Und der Jemand war nicht alleine, sondern hatte andere Jemande bei sich. Thorwald fürchtete sich nicht. Sollten sie nur kommen, diese Hunde, diese Mörder, diese Quäler. Er war ihnen mit liebenswürdiger Mordbereitschaft noch ein Stück entgegengegangen und sie hatten ihn angestarrt, als wären sie darüber erschrocken, dass sie in Thorwalds Augen keine Angst sehen konnten. Der hinterste Jemand hatte Thorwald ungläubig angeblickt; er schien den Fleischerhaken vergessen zu haben, der in seiner Hand baumelte. Die Gesichter der Jemande hatten sich verzerrt. Die Gesichtswinkel wurden länger, die Nase verschwand nach innen, die Augen wurden größer, das Oval ihrer Form verzog sich zu einem bananenförmigen Grinsen; ein entsetztes Grinsen röchelte aus ihren verformten Mündern.
Dann waren sie auf ihn losgestürzt. Er hatte darauf gewartet. Endlich. Endlich. Die Allmacht durchströmte ihn. Die Lust, etwas zu zerfleischen, pulsierte durch seine Adern. Er konzentrierte sich auf den vordersten Angreifer. Es war der Jemand mit dem Fleischerhaken. Thorwald fing den herniedersausenden Arm ab, drehte sich, den Arm festhaltend, in Richtung des Angreifers ein, schlüpfte geschickt an dessen Seite durch und bohrte ihm den Fleischerhaken ins Bein. Dann flog er förmlich auf die übrigen Jemande zu. Seine Fäuste trommelten, seine Beine flogen und zertrümmerten, was sie trafen. Nach wenigen Augenblicken war es getan. Was für ein berauschendes Gefühl war das gewesen! Er hatte mehrere Angreifer erledigt, erledigt im wahrsten Sinn des Wortes. Als er an sich herabgeblickt hatte, hatte er das Blut der Bösewichter an ihm herabfließen sehen.
Das alles hatte nicht lange gedauert, vielleicht zwei Minuten, nicht länger. Und da lagen vier Jemande und rührten sich nicht. Im Traum, hurra! war alles möglich.
Gerade dieser Umstand beruhigte ihn jetzt, hier, in dieser Nacht der blinkenden, grünen Lichter. Im Traum damals war er der Herr gewesen, der alleinige Herr. Und auch jetzt träumte er: nichts und niemand konnte ihm hier etwas anhaben. Aber genau das war das Problem: hier war auch nichts und niemand. Könnte man die Blinklichter verändern? Könnte man…
Thorwald ging und ging. Jedesmal, wenn er eine Lichterreihe passierte, achtete er sorgsam darauf, genau unter eines dieser pulsierenden Dinger hineinzutreten. Das musste er tun. Er musste es tun, weil es richtig war, das fühlte er. Die Lichter wiesen den Weg; Wahrheit, Licht und Leben, dachte Thorwald. Manche Wahrheiten sind urplötzlich da, man hinterfragt sie nicht. Wie klar und deutlich Thorwald erkannte, welchen Sinn das alles hatte! Der Sinn liegt doch auf der Hand. Wie konnte er das nicht schon vorher sehen? Da war der dunkle Raum, und er war im Raum und der Raum war um ihn. Alles, was um ihn war, war Raum. Und er kam in den Raum, und der Raum nahm ihn auf. Alle aber, die der Raum nicht aufnahm, blieben draußen.
Thorwald fühlte die Erhabenheit seiner Worte, die Erhabenheit seiner hochtrabenden Gedanken. Jetzt war er die Wahrheit geworden, jetzt brauchte er das Schicksal nicht mehr, jetzt – das ist die Stunde der Erleuchtung.
Was war schon Wahrheit? „Was ist Wahrheit, Pilatus?“ schrie er mit verzerrtem Grinsen. Er wischte sich die Spucke vom linken Mundwinkel. Ich brauch kein Licht hier. So ist das. Licht und Leben hatte er, wenn auch nicht gerade viel davon. Großmutter hatte die Wahrheit gekannt. Hatte sie behauptet. Der Christengott sei Mensch geworden und für die Menschheit gestorben. Was für ein Gott, der seinen Sohn schlachten lässt. Und das ist die Wahrheit? Ruf’ ihn an in der Not! Pah, den Teufel werd’ ich tun, solange auch noch der letzte Tropfen Blut in meinen öden Adern rauscht. Thorwald war jetzt wütend geworden.
Er atmete tief ein, als er die Stelle durchschritt, an der das Licht pulsierte. Aber es geschah natürlich gar nichts. Leg dich nieder, Thorwald! Ja, genau, ich muss ja ausrasten. Während dieser Zeit könnte ich die Lichter zählen. Er legte sich auf den Rücken. Er war so lange gegangen, dass er den Unterschied zwischen Gehen und Liegen nicht mehr fühlte. Es kam ihm so vor, als ginge er noch. Nach einigen Minuten kamen seine Beine zur Ruhe. Langsam hob und senkte sich sein Brustkorb, während das Blut in seinen Ohren rauschte.
Nach einer Weile fing er an, zu singen.
„Oh, life, he said, there must be more!
From the bridge I see a lifetime,
being washed upon the shore
oh life, he said, there must be more...”
Er sang lauter, fing an zu rufen, zu schreien, während er wild um sich schlug und Grimassen zog, die niemand sehen konnte. Aufspringen und rennen. Und dabei schreien. Ha, das war gut: er konnte ja nirgends anstoßen. Laufen, Augen zu und Augen auf, alles egal. Nichts konnte ihm geschehen — und nichts geschah auch. Er atmete wieder tief ein. Roch es hier nicht nach Moder? Nein, Moder war das nicht. Es roch nach Erbrochenem. „Hier riecht's nach Kotze! He, du Superputze, was iss mit deiner Schicht? Putz weg, putz weg, oder du fangst ein paar!“ Meine Sinne täuschen mich, dachte Thorwald. Wenn ich einmal schnuppere, rieche ich ein Putzmittel. Und wenn ich nochmals schnuppere, ist es weg. Dieser Scheiß-Traum, verdammtnochmal. Wie hieß es: wer luzide träumt, kann bestimmen, wann er aufwachen will. Also aufwachen. Jetzt. Sofort.
Nichts.
Er war wieder in einen langsamen Trott verfallen; Niedergeschlagenheit und brennende Lungen begleiteten ihn. Bei aller Niedergeschlagenheit aber dachte er sich: verzweifelt bin ich nicht. Die sollen mir nur kommen! Ich dreh’ ihnen die Hälse um. Wer, die? Nein, verzweifelt bin ich nicht. Es gibt gar keinen Grund dazu! Warum ist das Auswachen nur so schwer?
Thorwalds Füße stapften zum hundertsten Mal grünen Lichterketten entgegen und er begann zu zweifeln, dass dies ein Traum sei. Wieder einmal. All dies glich ja nichts, das er zuvor erlebt hatte. Warum bereitete ihm dieser Zustand bloß keine Angst? Das war doch paradox. Er sinnierte hin und her, kam zu keiner Lösung. Vielleicht war es doch ein Traum, nur kein Wachtraum eben? Konnte man nicht auch träumen, dass man träumt? Was sagte Freud: jeder Traum ist ein versteckter Wunsch. Ein Trottel ist das, der Freud. Thorwald schmunzelte. Was für ein Narr! Und seine Epigonen erst! Gesammelte Ausbünde, dachte er. Lauter Idioten. Es lag Jahre zurück, dass er Freuds Traumdeutung gelesen hatte. Er hätte seinen Traum wohl deuten können. Es war doppelt paradox: langsam bekam er Angst, weil ihm das alles keine Angst bereitete — und das hätte man doch wohl annehmen müssen. Aber warum sich über eine Sache den Kopf zerbrechen, die einen nicht weiterbringt? Das ist kein zielorientiertes Denken, dachte er. Es ist mit meinem Kopf etwas nicht in Ordnung: die ratio verschiebt sich ins Sinnliche. Aber das ergab alles keinen Sinn. Wie war das eigentlich: was war „zuletzt”? Ich bin Single, dachte Thorwald. Ich bin einsfünfundsiebzig, gut gebaut, nicht gerade athletisch zwar, oder doch ein bisschen, aber jedenfalls weit davon entfernt, unattraktiv zu sein. Ich bin mit mir zufrieden.
Sein Leben war im Grunde einfach. Er trank nicht und rauchte nicht. Gelegentlich leistete er sich ein Mädchen. Er betrachtete sich als Gentleman. Er war keiner von denen, die Samstags spät nachts einem Mädchen nachstellen. Oh, nein, so etwas hatte er nicht nötig. Die Mädchen kamen zu ihm, fielen ihm quasi in die Arme. Er war einfach da. So wie die Brünette neulich. Die hatte ihn glatt angebaggert in Tom’s Bar. Klar hatte er sie mit nach Hause genommen. Er konnte sie ja nicht einfach da lassen; angetrunken, wie sie war. Ein Samariter bin ich. Oh, wie war sie warm und weich gewesen – und duftend nach Jasmin. Ich lasse mir viel Zeit mit ihr. Ein Liedvers Heines fiel ihm ein:
Und es summt mir ins Ohr die Tanzmusik:
„die schönste der Stunden kehrt nimmer zurück,
Dein ganzes Leben war nur ein Traum,
und diese Stunde ein Traum im Traum.”
Sie hatte sich alles gefallen lassen. Hatte sich gestreckt, die Arme nach oben gereckt, ein erotisches Lächeln auf den Lippen, als Thorwald ihr das T-Shirt unerhört langsam nach oben gerollt hatte. Sie hatte sich ihm entgegengepresst, wollte schnell mehr. Aber Thorwald hatte ihr Verlangen gebremst. Er hatte das Vibrieren ihres Körpers genossen, das Zittern ihrer Hüften. Als er begonnen hatte, schwerer zu atmen, hatte er sich noch gedacht: was bin ich doch für ein toller Liebhaber. Die soll zittern, ja, die soll zittern!
Thorwald war Lehrer am Gymnasium. Er unterrichtete die letzten zwei Klassen. Mit Kindern konnte er nicht. Er konnte den Geruch der Pubertierenden nicht ausstehen. Der Geruch, wo sich unreife Pheromone mit Schweiß vom Vortag vermischen, pfui Teufel. In der Abschlussklasse war das anders. Die Mädchen schminkten sich und rochen einigermaßen gut. Billigparfum zwar, aber wenigstens kein alter Schweiß wie die Jungens. Die Jugendlichen behandelten einen Lehrer hier ganz anders als in den übrigen Klassen. Sie hängen an meinen Lippen, wenn ich spreche. Weil die Biester genau wissen, was auf sie zukommt. Es geht ums Ganze, und wehe denen, die ihre Lehrer jetzt noch verärgern; deren Teil wird sein bei den Heulern und Zähneknirschern, dachte sich Thorwald, der Machthaber über die Noten. Gerade jetzt, wo es so schwer geworden war, einen Studienplatz zu bekommen. Entweder man hatte die Noten, oder man unterzog sich der Nachprüfung, die aber jeder fürchtete, weil nur ein kleiner Prozentsatz diese Prüfung bestand. So weit sind wir in unserem schönen Lande gekommen, dachte Thorwald. Die armen Gymnasiasten, die keinen Studienplatz ergattern konnten. Neulich hatte sich einer aufgehängt, weil er nichts anderes als einen Job als Putztuchverkäufer bekommen konnte. Es war einer von Thorwalds Lieblingsschülern gewesen: intelligent und voller Esprit, voller Ideen, dabei so wenig tauglich für das wirkliche Leben. Aber es erwischt allzu oft diejenigen: untauglich zu Lug und Trug, daher unfähig zum Politiker und Verkäufer, auch untauglich zu stumpfsinnigen Arbeiten, daher unfähig, ein Handwerk zu erlernen und saures Geld zu verdienen. Anstatt dessen die Seele eines Künstlers, ohne jedoch von den Musen geküsst worden zu sein. Es hatte Thorwald schwer gekränkt, dass Linus sich erhängt hatte, ohne doch ihn, seinen Lehrer, ins Vertrauen zu ziehen. Wo Linus doch genau gewusst hatte, dass Thorwald immer ein offenes Ohr für ihn gehabt hätte. Alles nur vier Monate nach dem Abitur. Ein Scheiß-Leben. Er hatte Linus zu dessen 17. Geburtstag Nietzsches Zarathustra geschenkt. 17 ist ein gutes Alter, um mit Nietzsche anzufangen, dachte er. Großmutter war plötzlich wieder da. In seinem Kopf. Ruf’ ihn an in der Not! Großmutter, bitte laß gut sein. Laß mich in Ruhe mit dieser Religion der Decadence, in die viele, allzuviele ihre philosophischen Halbwahrheiten hineingelogen haben und jetzt als große Dogmen präsentieren.
Thorwalds Gedanken schwenkten weiter wie die Scheinwerfer eines Gefängnisturmes, die einen entflohenen Häftling suchen. Er dachte an Katharina, seine Nachbarin. Sie war Mitte vierzig und hatte schon hie und da ein graues Haar in ihrer struwweligen Frisur. Wenn sie auf einen Sprung zu ihm hereinschaute, und das war nicht allzu oft, dann hieß das: Kerzenlicht, jede Menge Tee und einen ordentlichen Joint. Keinen Dreck von der Straße, versteht sich, sondern reinstes und bestes Marihuana vom Rif-Gebirge in Marokko. Katharina unterrichtete Kunst an einer Hochschule und veranstaltete Vernissagen. Dabei lernt man die richtigen Leute kennen, sagte sie. Lauter Verrückte: skandalbereit, vernichtungslustig und kultsehnsüchtig stelzen sie um die Schmierereien der Postmoderne, dabei gelangweilt vom Leben und vom Geldausgeben. Man kriegte von diesen Leuten immer, was man wollte. Verramschte Seelen, alle miteinander, psychopathologische Existenzen. Aber voller Geld eben. Katharina war Spezialistin, das Geld aus anderer Leute Tasche zu ziehen; sie konnte einem Trottel mit Geld eine selbstangefertigte Schweineblutschmiererei für einen „echten Nitsch” andrehen. Was sollte der Geprellte schon machen? Den Schweineblutaktionisten fragen, ob die Sauerei von ihm sei? Aber privat war Katharina ganz anders; sie war angeekelt von den seelischen Trümmerhaufen, die sich auf ihren Kunsteröffnungen regelmäßig ihr Stelldichein gaben. Wenn sie Zeit hatte, dann immer spontan. Sie läutete an und fragte, ob er Zeit hätte, Thorwald. Oder ob er gerade am Sprung sei. Immer dieselbe Frage. Auf welchem Sprung sollte er schon sein, Thorwald? Thorwald hatte immer Zeit. Und während er seine Junggesellenwohnung in einen Zustand versetzte, der es einer Dame erlaubt, sich niederzulassen, hatte sie immer schon eine Tüte fertig gedreht. Alles war so herrlich ungezwungen.
Der erste Zug hatte freilich immer ihr selbst gebührt. Krebserregend tief hatte sie an der Tüte gesaugt. Erst wenn der Hanfharzdampf das Zimmer in eine diffuse Atmosphäre verwandelt hatte, die jeden Feuermelder wie am Spieß hätte schreien lassen, hatten sie zu philosophieren begonnen. Ganz gleich, ob es sich um Frauenfragen, um französischen Existenzialismus oder um den ontologischen Gottesbeweis gedreht hatte: die Tüte Harz sorgte dafür, dass die Sätze und Ideen aus ihnen herausquollen wie Wasser aus einer Quelle. Thorwald war immer erstaunt gewesen, wie gebildet Katharina war. Sie las Tucholsky, Mann und Günter Grass auf ihrem Klo, so währenddessen, du weißt schon, hatte sie gesagt, und danach hatte sie einen Lachanfall bekommen mit ihrer rauchigen Altstimme. Nein, es war immer köstlich, sie zu Besuch zu haben. Kokain verabscheute sie, zur anfänglichen Verwunderung Thorwalds, da doch bekannt war, dass man im Vergleich zum nüchternen Zustand mit Koks etwa zehn- bis zwölfmal so viele Ideen haben kann und diese auch in der selben Zeit wie sonst nur eine aussprechen kann. Später hatte sie ihm dann von den Künstlern erzählt. Als Ausstellerin sah sie auch hinter die pittoresken Kulissen ihrer Vernissage. Und was sie dort sah, all die „Tage danach“, all die Depressionen, die Selbstvorwürfe und die grauenvoll-episodische Sucht einiger selbsternannter Redekünstler ließ sie davor zurückschrecken, selbst einmal zu ziehen. Erwin Schumel, der bekannte Ikonograph aus dem Süden Österreichs, war seit einiger Zeit davon überzeugt, dass sich unter seiner Haut Käfer eingenistet haben. Er hatte sich mit einer Rasierklinge den Unterarm vom Handgelenk aufwärts bis zur Ellenbeuge aufgeschnitten und immer geschrieen: Ich widersage dem Bösen. Widerlich. Das hatte ihr gereicht, um weiten Abstand vom Schnee zu halten.
Einmal hatte er sie gefragt, ob sie auch glaube, dass man auf Kokain besser und länger kann. Das wollte er ganz genau wissen, aber er hatte sich nie getraut, Katharina direkt zu fragen. Also tat er es, als sie schon eine gehörige Menge geraucht hatten. Sie hatte einen Lachanfall bekommen und ihm erklärt, dass dazu schon eine gewisse Grundhaltung vonnöten sei. Kokain, so hatte sie gesagt, ist ein Aphrodisiakum für genau die Klientel, die auch im nüchternen Zustand an nichts anderes denkt als Kopulieren, haha. Dabei hatte sie versucht, ernst dreinzuschauen, was einen Lachanfall bei Thorwald ausgelöst hatte. Na gut, hatte er sich gedacht, dann eben nicht Kokain. Ist vielleicht besser so.
Thorwald hätte für die vermanschte Buchstabenkacke der Günter Grass, Martin Walser, Gerhard Szczesny nicht einmal auf seinem Klo Platz gehabt. Was hier unter der Literaturdiktatur dieser Säulenheiligen der deutschen Kultura produziert worden ist, gehört der Unterwelt und ihren Protagonisten an, davon war er überzeugt. Und obschon Thorwald alles andere als ein guter Christ war und somit gut eingestellt für den deutschen Literaturbetrieb: hier blieb er sich selbst noch treu, hier bewahrte er Anstand, hier bedeuteten ihm noch Sittlichkeit, Form und Ehrlichkeit zu viel, als dass er seine Zeit mit derlei Gesindel versauen wollte. Schon der abscheuliche Brecht-Kult, diese Neuauflage des Baalkultes, erregte in ihm einen Brech-Reiz. Was für ein Schwätzer! Diese Altweiberlippen und diese kalten, seelenlosen Augen! Wahrlich, dachte er, du deutsches Volk hast wieder einmal nicht verstanden, was du meiden sollst! Wem rührt sich nicht in tiefster Seele der Urabscheu vor dem Banalen, das dieser schleimige Theaterschmierer in bühnenwirksamer Rührseligkeit zu sozusagen sozialen Anklagen ausgewalzt hat? Und man findet noch immer Gefallen daran. Thorwald schüttelte sich bei dem Gedanken. Er hatte auch nicht zu befürchten, dass man ihm das Sakrileg, Brecht nicht anzubeten, mit dem Mikromaß anmisst und ankreidet. Thorwald war eben noch zu sensibel, zu gesund, zu wenig kaputt an Anstand und Moral, als dass er die Selbstbesudelung gutheißen konnte, die soviel Anlass zu großem Lob unter den Literaturkritikern anrichtete und noch tut. Hier offenbart sich eben der ganze Abgrund deutschsprachiger Boden- und Seelenlosigkeit; erst das Kaputte, Dreckige, Niederträchtige in der Literatur steigert bekanntlich die Verkaufszahlen.
Das war das Seltsame an Thorwald: Obschon er Nietzsche verehrte – das ist kein Geheimnis –, wollte er die Umwertung aller Werte doch nicht so verstanden wissen. Dabei haben die deutschen Gegenwartsschriftsteller ganz haarklein das getan: die Werte umgewertet, niedergebrochen, versaut. Thorwald wusste das wohl, aber hier war er nicht konsequent genug zu fragen, ob nicht sein Liebling Nietzsche selbst auch ein wenig Schuld haben konnte an dem Giftsumach, der aus den Tinten der Jetztzeitschreiber spritzt. Hat er nicht indirekt die Literatur aufgefordert, zur Zote zu werden? Gut, Nietzsche war schizophren genug, gleichzeitig zu fordern und zu verdammen. Welche Marter sind deutsch geschriebene Bücher für den, der das dritte Ohr hat? Wie unwillig steht er neben dem langsam sich drehenden Sumpfe von Klängen ohne Klang, von Rhythmen ohne Tanz, welcher bei Deutschen ein „Buch“ genannt wird! Das sind wahre Klänge Nietzsches, noch ganz frei von der Forderung nach der Umwertung. Nietzsche hat sich in den letzten zehn Jahren auch selbst besudelt, hat sich mit dem eigenen Kot und Urin eingeschmiert (Thorwald stiegen die Tränen jenes Mitleids in die Augen, welches Nietzsche so verdammt hat). Der Unterschied ist nur: der heutige Leser ist nicht wahnsinnig und besudelt sich dennoch mit dem Kot und Urin seiner Landsleute, die von den „Kritikern“ als „Autoren“ hochgelobt werden. Thorwald war überzeugt: hätte man Nietzsche zum Zeitpunkt seiner Akme mit einem Stück deutscher Nachkriegsliteratur bestraft – er wäre schon mit fünfunddreißig wahnsinnig geworden.
Thorwald selbst hatte nie versucht, zu schreiben. Die Achtung vor seinem Liebling hatte ihn immer davon abgehalten. Vielleicht hätte er es tun sollen, vielleicht hätte er seine Gedanken herausschreien sollen, vielleicht wäre ein Körnchen Sand ganz gut gewesen in den Augen derer, die jegliche Kritik an ihren Idolen als eine Art von Gotteslästerung diffamieren. Sie wälzen sich im Schmalz ihrer Medienpräsenz und drücken und furzen ihre unqualifizierten Abortmeinungen über alles, was ihnen nicht in den Kram passt.
Allein schon der Danziger Trilogie-Schmierer: wie man so viel Schlechtes in ein Buch hineinschreiben kann, war Thorwald ein Rätsel. Nach hundert Seiten Blechtrommel kommt unweigerlich der Brechreiz – dem Gesunden. Aber: er passt ins Klo. Dort gehört er zu den ganz großen Kulturgewalten, wie Nietzsche gesagt hätte. Am Klo aber könnte man ihn lesen; auch hätte er den Vorteil, dass man ihn alternativer Verwendung zuführen könnte. Das könnte Probleme mit der Spülung geben, dachte Thorwald. Katharinas Altbauwohnung verfügt über keine neue Toilettenanlage, wie sich Thorwald morgens einer solchen erfreuen konnte, insonderheit nach dem ersten, starken Kaffee. Selbst wenn er seine Ausscheidungsorgane mit Feuchttüchern behandelte: die Villeroy & Boch riss alles in Sekundenschnelle weg. Man hat schon gehört, dass Ratten den Kanal bis in den x-ten Stock hochklettern und defäkierende Menschen fürchterlich erschrecken können – so hätten sie dann große, deutsche Literatur vor sich, die sie vom Klettern abhielte.
Katharina gegenüber hielt er sich mit dieser Meinung zurück: sie wollte ihren Danziger eben auch dort nicht missen. Oh Danzig, welch Genie hast du dagegen im Jahre 1788 hervorgebracht? Was für ein Glück, was für ein seltenes Geschenk du der Menschheit an jenem 22. Februar doch gemacht hast! Welche Katharsis für die deutsche Sprache und für deutsche Gedanken! Aber ach, es kam ja, wie es kommen musste: man hat Schopenhauer seit eh und je totgeschwiegen, diesen Liebhaber und Verehrer der Wahrheit, den man auch dort noch lieben und schätzen muss, wo er gemeint hat, in seiner seltsamen, indischen Philosophie die letzte Wahrheit zu entdecken. Man lese dagegen die ersten Seiten der Blechtrommel – wer bräuchte da keine Brechtrommel?
Thorwald lächelte unverwandt, als er sich Katharina vorstellte: Oskar Matzeraths entglasendes Gekreische, während sie sich eine Stange Lehm aus dem Kreuz leierte.
Über das Defäkieren wird überhaupt zu wenig geredet, fand Thorwald. Da findet dieser lebens- und überlebenswichtige Vorgang ein- oder mehrmals täglich statt – und man schweigt darüber. Man spricht offen über alles Sexuelle: hier, in dieser einstigen Tabuzone darf, nein, muss heute alles geschrieben und gesagt werden, trotz oder vielleicht wegen alller moralischen Implikationen; aber das Defäkieren ist nach wie vor tabu, wenn man einmal von Bukowski und anderen Schmutzfinken der Art absieht. Dabei macht sich keiner schuldig, wenn er tut, was sogar George Bush und jener altehrwürdige Chef in Rom tun muss. Aber wer darüber spricht, ist ein Barbar, ein Schmutzfink. Cäsar ließ seine Soldaten vor jeder Schlacht ihr Ei legen: die Soldaten fühlten sich danach frischer und mutiger, ihre Gegner zu massakrieren. Die Vorgänge des Verdauens sind nun einmal keine Pariser Parfumpräsentation, aber ehrlich: wer möchte sie missen? Wer weiß schon, welcher hochrangige Politiker etwa an Flatulenz leidet und vor der Kamera mit lautmalenden Worten und Gesten gerade das Abgehen eines Windes zu überblasen sucht? Vielleicht nimmt man es einem Politiker ja auch gerade deswegen nicht allzu übel, wenn ihm oben (freilich ohne die olfaktorische Eindeutigkeit) dieselbe warme Luft entfleucht. Wer ist schon so grausam, in einem Furz große Weitsicht entdecken zu wollen?
Thorwald wusste zwar: die deutsche Literatur hatte nur wenig Großes zu bieten. Brechtrommel, Schmatz und Graus, was für Hundejahre: eine ranzige Trilogie eben. Im Grunde war ihm das alles unendlich fremd. Thorwald, der Literaturdilettant. Thorwald, der Außenseiter, Thorwald, der Gotteslästerer. Hier versuchte er Katharina nicht. „Du hast Grass oder Brecht gelästert? Ihre Barden werden dich züchtigen, du getünchte Wand!“ Das oder ähnliches hätte er sich anhören müssen, hätte er Katharina mit seiner Privatmeinung konfrontiert. Ja, Katharina wäre verstimmt gewesen, und schließlich war sie es, die das Zeug zum Rauchen mitbrachte. Er hätte sich vor Angst in die Hosen gemacht, einen Dealer zu kontaktieren und nach dem Zeug auch nur zu fragen.
Wenn er sich seine privaten Aufzeichnungen machte, so gelegentlich, wie das jeder tut, da wähnte er sich schon manchmal in seinem Element. Da wetzte er seine Zähne über jedes, das er nicht verstand, da biss und riss er, da pinkelte er Leuten ans Bein, die himmelhoch über ihm standen, einfach, weil er sich für einen begnadeten Stilisten und Schriftsteller hielt, der es leichtens mit ehrfurchtgebietenden Stilgrößen wie Dan Brown, Michael Moore oder Ähnlichem aufnehmen könnte. Er dachte daran, seine Aufzeichnungen herauszugeben. Er wollte einen Preis haben.
Obschon freilich seine Selbsteinschätzung den Wahrheitswert eines Zeitungsartikels hatte, freute er sich seiner Selbstzufriedenheit. Letzten Donnerstag war’s, als er diesen unglaublichen Durchfall gehabt hatte. Beinahe glaubte er an eine allergische Reaktion auf das Stück Geburtstagstorte, das er mit einem Gläschen Sekt genossen hatte. Martina, seine Kollegin aus der Nebenklasse, hatte die Torte angeblich selbstgekauft; sie schmeckte aber gar nicht nach Pappe und diversen E-Nummern, wie das selbstgekaufte Torten sonst tun. Vielleicht falsche Bescheidenheit, hatte sich Thorwald gedacht. Aber kurz vor Unterrichtsende hatte er dann regen Verkehr in seinen Geleisen gefühlt, hatte gemerkt, dass der Unterricht für ihn etwas früher als gewöhnlich zu Ende sein musste; mit Mühe und viel Not hatte er im Stillen und Geheimen seiner Beckenboden- und Schließmuskulatur das Größte abverlangt. Als er sich entschuldigte, das Referat über Nietzsche – wieder einmal Nietzsche – kurz unterbrechen zu müssen, um einen dringenden Anruf tätigen zu können, war es höchste Zeit gewesen, diesen „Anruf“ sofort zu „tätigen“.
Katharina hatte herzlich gelacht, als er ihr diese Indisposition erzählt hatte. Thorwald war traurig, dass Katharina jetzt nicht da war. Sie hätte ihm helfen können, da war er sicher. Was war das doch alles? Aber die Sache mit dem Koks hatte ihn so schnell nicht losgelassen.
„Und du hast kein einziges Mal gekokst?“
„Nein. Auf einer Kokserparty fühlte ich mich so fehl am Platz wie ein Saunagast bei einem Staatsempfang. Jedes Mal, wenn ich versuchte zu sprechen, wussten die andern immer schon, was ich sagen wollte. Das war gar nicht komisch. Seit dem…“
„Ist klar. Ich frage mich, was die Rapper wohl ohne den Stoff machen würden? Die gesamte Rap-Lyrik ist ja das Ergebnis ausgiebiger Kokserei, nicht?“
„Ach, das ist Klischee. Glaube nicht alles, was du hörst. Und vor allem: glaube niemand, der Koks nimmt. Er würde niemals die Wahrheit sagen. Das gehört mit zur Droge.“
Thorwald hatte ihr geglaubt. Überhaupt beschränkten sich seine Kontakte in letzter Zeit abgesehen vom geplanten Wochenende an der Isar ganz auf die Besuche Katharinas, was vor einiger Zeit noch anders gewesen war. Noch vor einem halben Jahr war er gelegentlich bei den Kollegenabenden anwesend. Aber mit der Zeit fragte er sich immer öfter, weshalb er da war. Man beachtete ihn auch nicht mehr so wie früher. Und wennschon. Jeder Lehrer kennt doch diese sporadischen Treffen unter seinesgleichen: entweder geht es um Interna (Dreck elendiger!) oder um Fußball, diesen primitiven Nachfolger der römischen Gladiatorenspiele. Das hatte Thorwald nicht lange ausgehalten. Diese schmierige Heuchelei, diese ekelhaften Versuche: wer dringt weiter in den Arsch des Direktors vor? Thorwald war zuletzt immer „krank“ gewesen, wenn es ein solches Treffen gab. Er scherte sich einen Dreck darum, was die anderen von ihm hielten. Sogar als ihm Hugo Kurtz, der stellvertretende Oberarsch, persönlich eingeladen hatte, täuschte er echt weiblich eine handfeste Migräne vor. Er war gut genug in seinem Beruf, als dass er hätte befürchten müssen, rausgemobbt zu werden. Katharina nahm in, wie er war. Des Menschen Seele lechzt nach Anerkennung, und Katharina bewunderte ihn, weil er, wie sie sagte, der einzige Mensch sei, der noch mehr las als sie selbst.
Katharina war übrigens kein einfacher Mensch. Sie flog mit achtzehn von der Schule, nachdem sie zwei Lehrer angezeigt hatte, die sie auf einer Abschlussparty in der Gartenlaube hinter dem Schulgebäude angeblich vergewaltigt hatten. Die Sache kam aber nicht vor Gericht, da ihre Eltern es für besser hielten, wenn die Sache nicht ans Licht kommt. Sie holte das letzte Jahr in Hannover nach und begann dann ein Studium der Psychologie, das sie fünf Jahre später summa cum laude abgeschlossen hatte. Danach arbeitete sie eine Zeitlang in einem Frauenhaus, vielleicht, um ihr Trauma zu verarbeiten. Weil sie in jedem Mann einen potentiellen Vergewaltiger gesehen hatte, besonders aber, weil sie dem Chef höchstpersönlich eine höchst unschmeichelhafte Bemerkung über seine Nase an den Kopf geworfen hatte, flog sie auch dort raus. Die Freundschaft zu Thorwald war ganz ohne den Makel des Sexuellen – ein Umstand, den sie offensichtlich genoss, denn Thorwald nahm auch sie so, wie sie war. Es war alles in allem eine erfrischende Beziehung, und beinahe hätte sich Thorwald mehr gewünscht als das, aber er sah ein, dass dann alles zu Ende gewesen wäre.
Und jetzt? Wo war das alles geblieben hier in dieser Dunkelheit? In Thorwalds Seele begann es zu brennen. Lass das nicht zu, schrie er sich selbst an. Das kannte er schon. Das kam immer in ausweglosen Situationen. Er streckte die Zunge heraus und machte ein Geräusch des Abscheus. Über dieses Chaos von Dreck und Rätsel einen erlösenden Himmel stülpen. Genau. Deshalb werden Philosophien und Romane erschwitzt, Bilder geschmiert, Plastiken gebosselt, Symphonien hervorgeächzt und Religionen gestartet. Genau so fühlte er sich jetzt: verloren, verlassen und verzweifelt. Und doch auch nicht verzweifelt. Denn der Traum musste einmal endigen, und zwar bald. Vielleicht war dies eine Möglichkeit, das Leben auf die Seinsfrage hin abzuklopfen. Verdammt, jetzt werd’ ich sentimental, dachte er. Der Mensch ist ein Wesen, dem es in seinem Sein um dieses Sein geht. Geworfensein ins Dasein hin zum Tode. Die hervorgeschwitzten philosophischen Phrasen kannte er genugsam; leer, grau und völlig ohne jeglichen Sinn haben sie schließlich jahrzehntelang die deutsche Universitätswelt geprägt. Das ist alles ohne Sinn.
Thorwald war das Produkt eines arbeitsfreien Nachmittages zweier Menschen, die nichts besseres zu tun hatten als Partys feiern und ihr Kind alle möglichen Bücher lesen zu lassen. Besser er liest: das bildet; das war der Wahlspruch seines Vaters. In seinem Elternhaus gab es keine Schundliteratur (so sagten seine Eltern), keine Belletristik, abgesehen von jenen Werken, die „zur Weltliteratur” gehörten. Natürlich. Don Quichotte las er mit dreizehn und verstand die Hälfte nicht. Dickens, Boyle, Cooper; alles hatte er in sich hineingefressen. Dabei entsteht in einem jungen Kopf eine gefährliche Konfusion: ein ungesundes Gemengsel, das gärt und gärt. Als er mit siebzehn den Zarathustra las, schien sein Vater das erste Mal etwas verwirrt gewesen zu sein. Er bekam mit, dass er sich mit seiner Mutter darüber unterhalten hatte: ob siebzehn wohl das richtige Alter für Nietzsche sei? Genau deshalb hatte er auch Linus zum Siebzehnten den Zarathustra geschenkt. Es ist Zeit zur Selbstüberwindung, Linus! Mit diesen Worten hatte er ihm das Buch in die Hand gedrückt. Er hatte es in ein Tuch eingewickelt, denn es ist ein besonderes Buch, ein Buch für alle und keinen. Ach Linus, schaffen wolltest du die Welt, vor der du hättest knien können, und so wurde es deine letzte Hoffnung und Trunkenheit. Mag doch alles zerbrechen, auch du, Linus! O, manches Haus gibt es noch zu bauen... Er wurde einen Augenblick traurig. Also sprach Zahratustra.
Seine Großmutter hatte immer einen Abscheu vor all diesen Büchern gehabt. Des Büchermachens sei kein Ende, hatte sie gesagt. Ja, Omi, weißt du, die Leute leben davon, nicht wahr? Sie hatte ja kein Einsehen gehabt. Sie war es gewesen, die Thorwald mit den „Ideen des Christentums” bekannt gemacht hatte, wie er das Katharina gegenüber einmal ausgedrückt hatte. Als er später dann neben Geschichte auch Theologie zu studieren begann, da entstand auch der Hass gegen alles Christentum. Während er Hebräisch, Latein und Griechisch büffelte, hatte er immer wieder in jenem Buch gelesen, das die Ursache für so viel Leid und Weh in dieser unserer Geschichte geworden war. Dieses Substrat ekstatischer Fanatiker. Bibel. Er hatte sich fleißig durch Deschners „Kriminalgeschichte des Christentums” gearbeitet, Karl Barth gelesen, Bultmann, Tillich und all die vertrockneten Köpfe der deutschen Leben-Jesu-Forschung. Überhaupt ließ Thorwald alles in sich hinein, was in Büchern stand: er war von Jugend auf nichts anderes gewohnt. Es führte ihn zweifelsohne zu einer gewissen Belesenheit, wenn nicht sogar Bildung. Ruf’ ihn an in der Not! Zum Geier, schon wieder dieser Gedanke. Großmutter, du kannst mir hier nicht helfen, also tu mir den Gefallen und halt endlich den Mund.
Der Scheinwerfer schwenkte weiter. Jetzt, mit sechsunddreißig, da hat man andere Sorgen. Wo man sein Nest hinbaut, ob man jetzt doch einmal heiratet — wie wärs mit Claudia? — oder ob man sich ins Ausland absetzt, jetzt, wo man noch Elan dazu hat. Mit sechsunddreißig spürt man bereits die ersten Vorwehen des nahenden Alters samt den gespielt-bestürzten Dementis, die man bekommt, wenn man diesen Umstand besorgt äußert. Haha, blablalba, mit sechsundreißig fängt das Leben doch erst und blablabla bestes Alter usw. Nun, man gewöhnt sich daran.
War es nicht schön gewesen, bei den Kollegen beliebt zu sein? Wehe, wenn er eine Party versäumt hatte! Bin ich nicht der perfekte Lückenfüller, wenn die Schnösel einmal nicht mehr wissen, was sie tratschen sollen? Dann mime ich einen Politiker, einen Philosophen, einen Professor. Herrlich, wie sie dann alle lachen. Besonders Dr. Brode, der Lehrersprecher. Er war Anfang 50, rundlich, angehende Glatze und einen Porsche Carrera. Dass er sich nicht schämte mit einer solchen Schlampenschleuder. So billig sind die Mädchen nun auch nicht, dass sie den fetten Brode wegen seines Autos bewunderten. Er war ja verheiratet, glücklich, hieß es, aber das konnte auch heißen: Kabale. Jedenfalls war Brode ein netter Kerl, solange man ihn nicht auf seine Figur oder auf sein Auto ansprach. Einen silbernen Carrera mit einem Mords-Spoiler. Einfach ekelhaft. Aber das macht die Midlife-Crisis aus einem. Vorher hatte er einen Volvo gehabt. Einen dunkelblauen. Das war normal.
Die Lehrerparties gab meist Dr. Kraeplin, der Psychiater, ein Freund Brodes. Der war ein gemachter Mann. In einer seiner Villen hatte Katharina sogar einmal eine Ausstellung geleitet. Kunst und Psychiatrie, oder Kunst in der Psychiatrie; Thorwald wusste es nicht mehr so genau. Aber es passt irgendwie, dachte er sich. Er war sich seiner Haß-Liebe zur modernen Kunst wohl bewusst; man muss Duchamps „Akt, eine Treppe herabsteigend”, einfach bewundern. Und dennoch strahlt eine solche Zerrissenheit aus diesem Bild, eine gefährliche Seelenlosigkeit, die ansteckend wirkt. Die Kunst der Postmoderne ist auf die Psychiatrie angewiesen, oder vielmehr: sie zeigt, dass die Menschheit durch eben diese Kunst psychiatriert werden muss. Das hatte Dr. Kraeplin gesagt. Im größeren Partyzimmer hing Pop-Art von Jim Dine und Carolee Schneemann. Diese Kunst versteht nicht jeder. Aber du spürst, dass sie dich nicht kalt lässt.
Dr. Kraeplin war ein hervorragender Gastgeber, der keine Kosten scheute, damit er diesem Ruf gerecht werden konnte. Aber — das ist vielleicht ein Klischee — man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Dr. Kraeplin ein gewisses Abgrenzungsproblem zu seinen Patienten hatte. Er wirkte leicht paranoid; so ließ er nach jeder Party seine Villa inventieren, überprüfen, putzen. Jedes Taschentuch, das fehlte, musste aufgeschrieben werden. Aber hat nicht jeder seine Verrücktheiten? Und Dr. Kraeplin nahm man seinen Spleen nicht übel. Jede Party ein Zirkus verschrobener Gestalten, Ohrenbläser, Verleumder, Gottesverächter, Freche, Übermütige, Prahler, erfinderisch im Bösen und Thorwald einer von ihnen. Er wusste genau, woher dieser Ton kam, dieser biblische. Seine Großmutter hatte ihn seinerzeit Verse aus der Bibel auswendig lernen lassen. Zeiten waren das noch: die Eltern nicht zu Hause, und er noch viel zu jung, um sich gegen exzessiv-religiöse Indoktrination zur Wehr setzen zu können. Später hatte er dann freiwillig auswendig gelernt, aber aus der Anti-Bibel, dem Zarathustra. Da man diese Verse aus der Bibel so herrlich zu jedweder Gelegenheit anwenden konnte, war Thorwald ihr auch heute noch nicht gram darüber. Er suchte sich freilich ganz bestimmte Verse aus. Zum Beispiel aus dem Propheten Daniel. „Und der König Belsazar machte ein Mahl für seine tausend Mächtigen und soff sich voll mit ihnen.” Bildung zeigte Wirkung, gerade unter den Angeheiterten auf Dr. Kraeplins Party. Das konnte man mischen mit Zitaten von Nietzsche (All das Schwache und Mißrathene soll zugrunde gehen, und man soll ihm dazu auch noch helfen), Hölderlin (Die Deutschen sind tatenarm und gedankenvoll) und mit ähnlichen Pikanterien aus der Welt der Literatur. Man musste nur darauf achten, dass es etwas gab, worauf die Sprüche passten.
Die Bibelsprüche freilich hatten die größte Wirkung, weil sie kernig waren und man unweigerlich lachen musste, wenn einer, der so gar nichts Religiöses an sich hat, mit ernster Miene einen evangelischen Erweckungsprediger mimt. Thorwald kniff dann die Augenbrauen zusammen, räusperte sich, reckte den erhobenen Zeigefinger weit in die Luft und begann salbungsvoll, ein wenig Bergpredigt zu zitieren. Wenn er merkte, dass seine Mime gut ankam, wurde er zu Wesley. Er malte seinen Zuhörern die Schrecken der ewigen Verdammnis aus, bis ihnen die Tränen waagerecht aus den Augen spritzen. Es muss Großmutter zu verdanken sein und ihrer Zauberei, dass ich dann und wann Bedenken verspürte, mich über das alles lustig zu machen. Aber ehrlich: Jeder Politiker versteht heute schon Satire, nicht wahr? Wieviel mehr dann denn Gott, wenn es ihn gäbe? Er war nicht sehr von seinen Beschwichtigungen überzeugt.
Die Zitate fielen Thorwald ein, je nach Bedarf. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen, jawohl. So sprach Goethe. Aber dagegen sprach der Prophet Jeremiah: Arglistig ist das Herz mehr als alles und verderbt. Thorwald wusste instinktiv, wer recht hat, Goethe oder der Prophet. Er kannte es aus seinem eigenen Leben sehr genau. Schon seltsam, dachte er: auch die Bibelzitate fallen mir noch ein, obschon ich mich doch völlig von der Materie gelöst habe. Aber hier hat die deutsche Sprache doch einen guten Griff getan: die Verse fielen ihm ein, sie fielen bei ihm ein, etwa wie die Westgoten unter Alarich 410 nach Christus in Rom einfielen. Jeder einzelne Vers, in seine Seele gedrückt von der frommen, allzufrommen Großmutter, verursachte ihm jetzt aber Unbehagen. "Nicht jeder soll ein Lehrer werden, denn die werden ein desto strengeres Urteil empfangen", hatte sie einmal zitiert, als er davon gesprochen hatte, welche berufliche Laufbahn er dereinst einzuschlagen gedenke. Freilich verstand er damals noch nicht die Zweideutigkeit der Aussage, sondern bezog sie lächerlicherweise auf den profanen Lehrer. Natürlich, was auch sonst? Erst später dann, beim Theologiestudium, wurde ihm bewusst, auf was Oma angespielt hatte. Aber was denn für ein Urteil? Vom Gott des Platonikers Paulus? Vom unbekannten Gott? Vom Gott, den Nietzsche als toten Gott entlarvt hatte? Ach, welche Erinnerungen!
Kraeplins Sohn hatte gegen den Willen seines Vaters die Universität verlassen und hatte sich — ausgerechnet — einer Sekte angeschlossen. Das war auf den Parties tabu, aber die Vermutungen, wem sich Peter angeschlossen hatte, reichten von den Zeugen Jehovas über Hare Krishna bis zu den Promise Keepers. Scientologe war er keiner; das hätte sein Vater nicht zugelassen. Und das hätte man dann auch bald erfahren. Nicht die Scientologen. Man wollte sich im Hause Kraeplin zwar Extravaganzen leisten, aber solche nicht. Die Scientology-Sekte war wieder eimal im Verruf wegen irgendwelcher Spendenaffären. Dr. Kraeplin schien jedenfalls zu wissen, welcher Gemeinschaft sich Peter angeschlossen hatte; er hatte diese Gemeinschaft für ungefährlich gehalten, denn wenn nicht – was hätte Peter da geblüht! Man tat übrigens besser daran, sich ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr damit zu beschäftigen, denn man hätte ganz leicht das Mißfallen Kraeplins erregen können.
Thorwald mochte Peter; sein freundliches Wesen fand jedermann angenehm. Auf den Parties hatte sich Peter stets abseits gehalten; er schien den Rummel nicht zu mögen. Er verstand einfach keinen Spaß, fand Thorwald. Thorwald war einmal in seinem Zimmer gewesen: spartanisch eingerichtet, ohne Schnickschnack, einige Bücher auf einem rustikalen Gestell und ein riesiger Rhododendron in der Ecke. Sie hatten auf der Couch gesessen und Gin Tonic aus Martinigläsern getrunken. Peter ausgenommen. Zu welcher Sekte Peter nun gehörte, konnte Thorwald nicht herausbekommen. Aber es war ja auch egal: hatte nicht jedermann das Recht zu glauben, was er wollte? Durch Peter lernte er auch Claudia kennen. Eher zufällig. Sie waren zu dritt in ein Lokal gegangen, um einen zu trinken. Doch als Peter zu frömmeln anfing, hatte Thorwald beschlossen, sich nicht mehr mit ihm zu treffen. Dafür traf er Claudia, die ebenso nicht viel von Peters religiösem Enthusiasmus gehalten hatte. Claudia war eine Kommilitonin Peters gewesen. Sie hatte Peter ganz süß gefunden, aber seine neufundländische Art war ihr immer schon zu plump. Er hatte ihr gegenüber nie eingestanden, dass er sich in sie verliebt hatte, obschon nichts leichter zu sehen war als das. All die verstohlenen Blicke, die er ihr zuwarf, und wie er dann verschämt wegsah. Wenn sie mit ihm redete, war er stocksteif gewesen. Und indifferent wie eine Parkbank. Thorwald dagegen hatte sie merken lassen, dass er nicht aus Holz war und ihren Reizen ganz und gar empfänglich. Leider konnte Claudia wie die meisten Frauen dem Impuls nicht widerstehen, ihre neue Errungenschaft alsbald veredeln zu wollen. Wenn immer die Frau den Mann in irgendeiner Hinsicht von sich abhängig weiß, wird sie beginnen, ihn zu veredeln. Böse Zungen würden sagen: verändern. Claudia war ein künstlerisch angehauchtes junges Ding, das sich beim Studium nicht schwer tat und auch sonst wenig zu tun hatte. Sobald sie gemerkt hatte, dass sie auf Thorwald Eindruck gemacht hatte, hatte sie begonnen, an seinen Ansichten zu deuteln und sie in die „richtige“ Richtung zu verändern. Sie hatte wenig Verständnis dafür, dass Thorwald auf dieses Ansinnen recht reserviert reagiert hatte. So stand dem möglichen Glück schon zu Beginn eine gewisse Skepsis entgegen, wenngleich diese Skepsis natürlich ganz von Thorwald ausgegangen war.
Diese und andere Erinnerungen kreisten ständig in Thorwalds Kopf herum, während er dumpf und von einer unsichtbaren Kraft angetrieben eine Lichterkette nach der anderen durchschritt. Ob Claudia ihn lieben könnte? Claudia. Beim Klang dieses Namens wurde er immer noch wehmütig. Wie hatte er sie gleichgültig behandelt, wie war ihm sein Training wichtiger, als ihren täglichen Belangen zu lauschen, die doch immer die selben waren: Ihre Figur, ihre Eltern, ihre Geschwister, was die Leute wohl denken würden, wenn sie dies und das machte und so weiter. Das wollte er sich nicht alles tausendmal anhören. Wieso denn Kampfsport? Ob er denn vorhabe, sich irgendwann zu prügeln usw. Ganz sicher musste er das haben, denn jeder, der etwas erlernt, der wolle das Erlernte ja irgendwann anwenden. Man wird ja auch nicht Koch, um dann in einem Büro zu sitzen, nicht wahr? Auch der Arzt, und insonderheit der Chirurg: wenn er das Handwerk schon erlernt, dann will er irgendwann auch schneiden. Das ist ganz klar. Ob sie denn meine, hatte Thorwald ihr entgegengesetzt, dass es Ärzte gäbe, die sich am Unglück der Patienten erfreuten? Sie hatte entrüstet reagiert. Nun, hatte er gefragt, wie würden wohl alle Chirurgen einen großen Krankenhauses reagieren, wenn sie erführen, dass sie alle schlagartig arbeitslos geworden sind, weil ein Heiler sein „Unwesen“ treibt und alle Patienten per Haundauflegung heilt? Sie war beleidigt gewesen. Also hatte er immer weniger Zeit für sie gehabt, bis sie schließlich von sich aus den Kontakt abgebrochen hatte. Thorwald war damals nicht unglücklich darüber gewesen. Jetzt war er es.
Das Schwimmbad in München war überfüllt gewesen an jenem Dienstagnachmittag, an dem er Claudia damals kennengelernt hatte. Er hatte sich von ein paar Jugendfreunden – welche Ausnahme – dazu überreden lassen, den Nachmittag im Wasser zu verbringen. Thorwald war nicht gegen Wasser. Aber er hasste es, seinen Körper den Blicken der Menschen auszusetzen. Völlig grundlos: war er doch jugendlich gut gebaut, dazu gut durchtrainiert. Er schimpfte immer auf den Sport. Es war ihm wichtig, dass die Leute wussen: so sah er immer aus, auch ohne regelmäßiges Training. Dabei trainierte er freilich regelmäßig, wenngleich auch ohne Fanatismus. An jenem Dienstagnachmittag hatte er sich vorgenommen, Claudia anzumachen. Nein, eigentlich hatte er sich vermessen vorgenommen, dass Claudia sich in ihn verlieben sollte. Er schwamm ständig um sie herum, scherzte, lächelte, zwinkerte ihr kaum merklich zu, wenn sie ihn ansah und – steter Tropfen höhlt den Stein – schließlich hatte sie Interesse an ihm gewonnen, ließ sich von ihm anstubsen, berühren, ja, durch das Wasser tragen, als könne sie nicht schwimmen.
Er begann, sie mit seiner Nase am Oberarm zu stubsen. Bei der Nase blieb es freilich nicht. Sie ließ alles gerne mit sich geschehen, genoss die Aufmerksamkeit, genoss, dass sie begehrt wurde.
Jetzt kämpfte er gegen diese Dunkelheit, gegen diese absolute Ratlosigkeit, die ihn einhüllte, mehr und mehr. Er erreichte wieder eine Lichterkette. Er wollte aufgegeben, herauszufinden, woher die eigenartigen Lichterscheinungen rührten. Er nahm sich vor, die blöden Lichter zu ignorieren, ja, sie mit Ignoranz zu bestrafen. Unvermittelt begann er, den Lichterketten entlang zu wandern. Er konnte seinen Kurs jetzt genau halten.
Warum war er nicht früher darauf gekommen? Wie es dem Menschen eigen ist, wenn sich die Hoffnungslosigkeit breit zu machen pflegt, dachte auch Thorwald daran, ein Gebet an Gott zu richten. Nicht dass er überhaupt jemals an diese altmodische Vorstellung eines Gottes als einer Person geglaubt hätte. Manchen Menschen ist das von Geburt auf verwehrt. Die Seele ist bei der Geburt keine Tabula Rasa; gewisse Dinge hat man von Natur aus, zum Beispiel eine Abneigung gegen Tomaten. Das ist nicht erlernt, denn Geschmack ist nicht erlernbar. Man kann sich an etwas gewöhnen, ja, aber Geschmack ist etwas einzigartiges, unerlernbares. Er ist immer schon da, man findet sich in ihm. Gott. Schon die Vorstellung. Gott, nein. Nein, Thorwald hatte nie an Gott geglaubt. Das hatte er auch während seiner Studienzeit nie getan. Aber da war etwas in ihm, das ihm sagte, dass an der Sache mehr dran ist, als er je gemeint hatte. Genau die Stimme in ihm, die er den Großteil seines Lebens nicht beachtet hatte, meldete sich auch jetzt wieder. Er interpretierte diese Stimme als Ausdruck der nach „außen” projizierten Hoffnung: die Sehnsucht seelische Triebkraft, die sich an das Unbekannte wendet, weil es in Not geraten ist.
Thorwald begann zu beten: Gott, sagte er, wenn es dich gibt… Er stockte. Was tat er hier? Zu welchem Gott betete er da? Zu jenem, der zu seinen Lebzeiten auch nur zugesehen hatte? Warum sollte ihn der wohl jetzt hören? Außerdem gab es ihn ja nicht. Er begann noch einigemale, seinen Hilfeschrei nach oben zu richten, doch ähnliche Gedanken wie anfangs hielten ihn davon ab, mehr als die ersten Wörter zu sprechen. Seine Hoffnung mischte sich mit der Stimme seiner Großmutter (Ruf’ ihn an...) und seinen theologischen „Erkenntnissen”. Er hasste Gott, fluchte, spottete, schimpfte, drohte, schrie Lästerungen, bis ihm die Lungen weh taten. Er tat mit vollem Bewusstsein das, welches die evangelische Kirche: „die Lästerung gegen den heiligen Geist nannte”. Er lästerte den heiligen Geist. Eine Sünde, die nicht vergeben wird, in Ewigkeit nicht. Pah! Die Kirche hatte es schon immer verstanden, ihre Schäflein auf der Weide zu halten. Aber Thorwald wollte sein eigener Hirte sein. Immer schon.
Als er mit seinen Überlegungen fertig war, sprang ihn etwas aus der Dunkelheit an. Es war die Angst. Spürbar hatte sich etwas anderes, vertrautes, von ihm gelöst. Die Angst schlich sich in ihn hinein wie der Morgennebel, der durch die Wälder zieht, grau und kalt. Es war völlig aussichtslos, etwas gegen diese Angst zu unternehmen. Er schrie noch ein paarmal und fluchte, versuchte, sich Mut zu machen. Er sehnte sich nach Müdigkeit. Wieviel Sinn hat es wohl, umzukehren? Aber an ein Umkehren war nicht zu denken. Man geht nach vorne, ganz klar, man geht nicht zurück, nicht wahr?
Als Thorwald mehrere Stunden längs der Lichter geschritten war, blieb er stehen. Langsam drehte er sich um. Dabei fiel ihm auf, dass sich die Lichterkette krümmte. Ja, wenn er genau hinsah, musste er feststellen, dass die Lichter einen Bogen bildeten. Der Eindruck verstärkte sich, als er abwechselnd auf die eine, dann auf die andere Kette blickte. Das war keine optische Täuschung. Warum war ihm das nicht gleich aufgefallen? Es dauerte nicht lange, bis sich Thorwald eine schlimme Befürchtung aufdrängte. Wenn er sich längs der Lichterketten bewegte, musste er an ein Ende kommen. Es sei denn, es war kein Raum, den er hier durchschritt. Wenn es aber kein Raum war, dann... Thorwald verdrängte den Gedanken, als er merkte, wohin das führte. Nein, das ist Kitsch, sagte er sich. Ich hätte nicht so viele schlechte Filme ansehen dürfen. Das hab’ ich jetzt davon. Nein, solche Gedanken wollte er nicht weiterverfolgen. Keine Konsequenzen, keine Konsequenzen, keine Konsequenzen. Unaufhörlich plapperte er diese zwei Worte vor sich hin. Er war überrascht, dass es ihm gelang, das innere Drängen und Suchen, ja, die Angst jetzt auszuhalten. Dann war es klar. Es war so einfach. Und brilliant. Er musste von vorne beginnen. Die Lichter bedeuteten gar nichts, außer, dass sie eben da waren. Er würde sich aus seiner Situation herausmanövrieren, sich herausdenken. Er hob den linken Fuß, um von vorne zu beginnen. Dümmlich grinsend schritt er weiter auf seinem Wege ins Nichts. Und schritt weiter die Lichterkette entlang.
Im Leben eines jeden Menschen gibt es Momente, wo das Selbstverständliche in Frage gestellt wird. Dann wiederum gibt es Momente der Verzweiflung, wo die Verzweiflung in ein Stadium gerät, in dem sie sich selbst nicht mehr erkennt, sich nicht mehr erkennen will. Sie sucht sich einen Ausweg. Sie findet ihn aber nicht, denn darin besteht gerade die Verzweiflung: dass sie keinen Ausweg findet. Aber dieser Moment, der phantasiert sich einen Ausweg zusammen. In diesem Moment schützt sich die Verzweiflung davor, das Unechte am phantasierten Ausweg zu sehen. Sie glaubt an ihr Phantasieprodukt. An diesem Punkt war Thorwald jetzt angelangt.
Aber es gibt keinen Neuanfang, gab nie einen, würde ihn nicht geben. In unsinniger Fröhlichkeit begann er, ein Lied zu trällern. Oh, böse Menschen haben keine Lieder. Wie recht Nietzsche doch hatte. Aber wie hieß es doch gleich weiter? Wie kommt es, dass die Russen dann Lieder haben? Nun gut, ich bin ja kein Russe. Die Russen waren ja immer die Bösen, zumal zu Nietzsches Zeit. Heute heißen die Bösen anders. Aber das ist nicht weiter von Belang. Thorwald war nicht böse. Er hatte nichts Böses getan. Weder hatte er gestohlen, noch betrogen, ja, nicht einmal gelogen. Denn da stand er drüber. Man muss zu seiner Tat stehen, hatte er immer gesagt. Man muss stark genug sein, zu jeder Tat zu stehen. Er beruhigte sich und trällerte weiter. Links neben ihm blubberten die Glühwürmchen — so nannte er die Lichter jetzt — auf und ab. Tauchte links eins auf, dann sprang er in die Höhe, um dem Glühwürmchen zu zeigen, wie kraftvoll und voller Leben er doch war. Das Würmchen kümmerte sich nicht um seine Pose, es pulsierte einfach nur weiter. Es will mich ärgern, dachte Thorwald belustigt. Wie aus weiter Ferne drang ihm ein Gedanke ins Bewusstsein: es ist alles nicht real, aber — so wirklich! Dunkel sind doch die Wege, die das Schicksal geht.
Seit Tagen bin ich unterwegs, dachte Thorwald. Und gleich darauf sah er ein, wie unsinnig der Gedanke war. Man kann nicht tagelang wandern, ohne zu schlafen. Oder nächtelang. Thorwald versuchte wieder, sich zu erinnern, wie er an diesen Ort gelangt war. Was war das letzte, an das ich mich erinnere? Ein Schlafwagen in einem Zug. Ein Gespräch mit einem gut gekleideten Herrn am Gang. Über was hatten wir nochmal geredet? Wieso sind wir nicht an die Isar gefahren? Oder liege ich im Drogenrausch in seiner Hütte? Er wusste es nicht mehr. Eine Krankenstation tauchte auf. Ja, eine Krankenstation war da, oder besser, er war da.
Weiß, alles weiß. Und ein seltsames Stechen. Da waren Ärzte und Krankenschwestern, und alle riefen und fuchtelten mit den Armen; die Mienen der Schwestern hatten zwischen Erstaunen und maßlosem Entsetzen geschwankt. Beine und Arme – sie hatten sich nicht bewegen lassen. Nein, das konnte nicht sein. Er sah sich aus dem Krankenhaus gehen, auf einen Stock gestützt, nein, es war eine Krücke. Aber er sah sich aus dem Krankenhaus hinausgehen. Daran erinnerte er sich genau. Er war nicht im Krankenhaus geblieben. Er hatte das Bewusstsein vielleicht nur kurze Zeit verloren. Aber in diesem Zustand war er nicht: er hatte ja jetzt Bewusstsein. Der Unfall war mehr als zwei Jahre her, erinnerte er sich. Nichts Ernstes, ein paar Prellungen; man hatte ihn nach ein paar Tagen schon aus dem Krankenhaus entlassen.
Die Lichter. Thorwald blieb stehen. Langsam wandte er den Kopf nach links und starrte die Lichterkette an. Ungläubig ließ er die Gedanken laufen. Nicht ich denke, sondern es denkt sich in mir. So ist das. Descartes, der alte Narr. Cogito, ergo sum. Was für ein Blödsinn. Non cogito, tamen sum, hatten sie auf der Uni gewitzelt, ich denke nicht und bin trotzdem. Er stäubte sich nicht gegen die Erkenntnis, die ihn mit Verwunderung, aber auch mit Enttäuschung erfüllte.
Es musste so sein: er sah die Welt von einer anderen Seite. Aber was bedeutet das: die Welt von einer anderen Seite zu sehen? Nein, es war kein Koma, in dem er sich wähnte. Hatte er sich nicht aus dem Krankenhaus hinausgehen sehen? Eines ist klar, dachte er sich: ich lebe noch, wenn vielleicht auch nur in meinem Gehirn. Was, wenn Descartes nun doch recht hatte? Wie war er bloß hierher geraten, in sein Gehirn? Wie konnte das sein, dass das Denken überlebt hatte und bewusst sein konnte? Die Möglichkeit, seinen Körper zu empfinden und ihn zu steuern, hatte Thorwald ja noch, oder etwa nicht? Bildete er sich seine Wanderung am Ende nur ein?
Der Zug. Es musste im Zug geschehen sein, aber hier ließ ihn sein Gedächtnis noch immer im Stich. Nun, da er zu der Erkenntis gelangt war, sich in seinem Gehirn zu befinden, überlegte er sich, wie er es verlassen könnte. Er ahnte nicht, was er da dachte. Wenn das ein Koma ist und ich mein Gehirn verlasse, dann... Oder bin ich mein Gehirn? Was ist „ich”? Ich werde wahnsinnig. Aufmerksam beobachtete der die pulsierenden Lichter. Wenn ich meine Gedanken nicht auf mich selbst richte, so bin ich. Tue ich es aber, so bin ich jemand anders.
Irgendwann, nach Stunden, nach Tagen, nach Wochen stellte Thorwald verwundert fest, dass ihm seine endlose Wanderung zum Bedürfnis geworden war. Das war unsinnig, aber es war doch so. Er fühlte zwar, dass ihn sein Weg nirgendwohin führen werde. Er fragte sich, ob er aus freiem Willen handelte. Ha! da war sie, die endlose Frage. Die Gemüter hatten sich seit Jahrhunderten an dieser Frage erhitzt; ihm war es da auf der Universität nicht anders ergangen. War er damals nicht zur Überzeugung gelangt, dass die Vorstellung eines freien Willens ein Widerspruch in sich ist? Hatte nicht der große Leibniz gezeigt, dass dem Willen immer ein Motiv zugrunde liegen muss, um zu wollen? Also ist er nicht frei. Oder was bedeutet sonst frei sein? Frei sein von Motiven ist nun ebenso freilich Unsinn. Daran hat sich auch bis heute nichts geändert. „Liberum arbitrium” sagten die Scholastiker im Mittelalter. Freier Wille. So, als ob ein Esel verhungern müsste, wenn er links und rechts von sich den gleichen Haufen Heu erblickte. Das hatten die Strohköpfe im Mittelalter wirklich geglaubt und ihre grandiose Erkenntnis dann auf den Menschen übertragen.
Aber so ist das mit Dingen, die man ins Extrem treibt: sie pendeln zurück und wandern ins andere Extrem, um für eine kleine Zeit auch dort zu verweilen. Aus dem freien Willen der Scholastiker wurde in unserer Zeit der totale Fatalismus, Determinismus, Vorausbestimmtheit: der Geist ist nichts als das Produkt seines Gehirnes. Das hat — wie könnte es anders sein — ein Amerikaner wissenschaftlich bestätigt: David Libet, der berühmte Gehirnforscher. Den müsste man da haben, in dieser Situation. Thorwald war glücklich. Er entrann seiner Situation. Er konnte sich herausdenken aus all diesem Schlamassel. Wie wunderbar war es doch, dass er so ein eifriger Leser gewesen war, von Kind auf schon. Wie wär’s, dachte er sich, wenn ich mir Libet hier in mein Gehirn her-ein-lade. Er wäre dann da, und ich könnte ein Gespräch mit ihm führen. Sehr verehrter Herr Professor! würde ich sagen. Und er würde mir antworten: Ich danke ihnen für die nette Begrüßung, aber kenne ich Sie? Und Thorwald würde dann sagen: Noch nicht, aber Sie sind das erste Mal in ihrem Leben dort, wohin Sie schon immer hinwollten: in einem Gehirn. Hoppla, dachte sich Thorwald, das könnte Libet falsch verstehen, als Beleidigung. Und beleidigen wollte er den Mann auf gar keinen Fall. Er würde es anders formulieren: Nein, Sie kennen mich nicht, aber da Sie in meinem Gehirn sind, sollten wir diesem Umstand abhelfen. Sie haben doch nachgewiesen, dass jede Handlung, die ein Mensch tut, dem Bewusstseins dieser Handlung zeitlich vorausliegt? Das heißt also, wenn ich meinen Arm heben will, zum Beispiel jetzt, so war die Absicht schon da, bevor sie mir bewusst wurde? Und Libet würde sagen: Ja, genau so ist es. Ich habe diese Versuchsreihen unter verschiedenen Bedingungen durchgeführt: immer mit dem selben Ergebnis. Das Bereitschafspotential für meine Handlung hat in meinem Gehirn bereits begonnen, bevor ich mich entschließe, diese Handlung zu begehen. Wenn ich meine Hand zur Faust zu ballen entschließe, dann hat mein Gehirn schon etwa eine halbe Sekunde „beschlossen”, dass ich das beschließen werde. Ich selbst, mein Bewusstsein oder wie immer Sie das nennen möchten, kann allenfalls ein Veto gegen den primären Beschluss meines Gehirns einlegen. Nicht ich beginne eine Handlung, wie Kant vermutlich gesagt hätte, sondern mein Gehirn beginnt sie. Das Ich ist daher gewissermaßen eine Illusion.
Das musste Thorwald erst einmal verdauen: das Ich, das Selbst nur Echo der Gehirnsubstanz. Damit ist der Spielraum meines Ichs relativiert! Aber ich bin mir doch meiner selbst als Instanz eines Regulationszentrums bewusst! Libet konnte Thorwalds Gedanken folgen, denn er war ja in Thorwalds Gehirn. Er fügte dem mentalen Schmerz Thorwalds hinzu: Ohne unbewusste neuronale Vorbereitungen von Aktionen könnte der Mensch ebendiese Aktionen gar nicht ausführen. Und Sie kennen das ja: Man spricht manchmal etwas aus, was uns dann überrascht; so hatte man das gar nicht sagen wollen, oder, das hatte man eigentlich gar nicht sagen wollen. Aber was man gesagt hat, ist vom Unterbewussten schon vorbereitet worden. Ich bestreite aber gar nicht das Ich, sondern nur dasjenige, was wir uns unter Ich vorzustellen plegen. Wir haben ein Bild von unserem Ich, und das ist falsch oder zumindest fraglich. Aber ist das nicht ein schöner Ausdruck der Kreativität, wenn das emotionale Erfahrungsgedächtnis steuert — intelligent, sozusagen —, was wir glauben, bewusst zu tun? O nein, das schmerzt, dachte Thorwald. Aber es könnte die Spur zu meinem Aufenthaltsort sein. Was, wenn alles, was ich hier erlebe, also doch das Echo dessen ist, was — sagen wir mal — eine halbe Sekunde „vor mir” geschieht? Wo bin ich dann? Und was ist „Ich”? Bin ich im Koma?
Libet war gegangen. Thorwald war alleine mit der Frage. Vielleicht, so dachte er sich, ist das auch der falsche Ansatz zu fragen. Ob Koma oder Traum, wenn Descartes mit seiner Behauptung recht hat, dass man am „Sein” teilhat, wenn man bewusst ist, dann bin ich noch „da”, wo immer „da” auch bedeutet. Es ist also noch nicht aus. Aber da stand Thorwald vor dem nächsten Problem: Seine Überlegungen waren nur dann richtig, wenn es ein „totales Aus” gäbe. Wenn nun eine der vielen Religionen recht haben sollten? Wenn der Tod nicht das Ende aller Dinge bedeutete? Wenn Schopenhauer unrecht hatte mit seiner Philosophie? Dass man nicht verlischt, wie das Licht einer Kerze, wenn das Wachs zu Ende ist? Wo aber könnte ich dann jetzt sein? Im Nirvana, in der Hölle? Aber wenn ich in der Hölle wäre, wo ist der Teufel, wo das Feuer und alle anderen, die hier sein müssten? Thorwald sah sofort, dass das nicht weiterführte. Libet konnte sich auch irren. Nun gut, er war eine Kapazität unter den Forschern, man betrachtete ihn bestimmt mit einer gewissen Scheu. Aber Thorwald war es immer sauer aufgestoßen, dass in der Fachwelt — und nicht nur dort — die Floskeln „wissenschaftlich erwiesen” und „unwissenschaftlich” als Synonyme für wahr und unwahr gelten. Wahr und unwahr sind Naturkonstanten. Man kann sie nicht fälschen. Es sind Archetypen, würde ein Platoniker vielleicht sagen. War Carl Gustav Jung vielleicht ein solcher Platoniker?
Thorwald sah einen Mann mit einer Nickelbrille und einem weißen Schnauzbart auf sich zukommen. Das war zweifelsfrei Carl Gustav Jung. Jung auch hier? dachte Thorwald. Er hatte ein bitteres Lächeln in seinem alternden Gesicht. „Ich habe euch beiden zugehört”, sagte er. „Es ist doch schlimm, welche Zweige eure moderne Wissenschaft schon treibt. Höre genau zu, was ich dir jetzt sage: Wenn ein Feuer mich brennt, so zweifle ich nicht an der Realität des Feuers. Wenn ich aber Angst habe, ein Geist könnte mir erscheinen, so suche ich Schutz hinter dem Gedanken, es sei eine bloße Illusion. Aber wie das Feuer ein psychisches Bild ist von einem dinglichen Vorgang, dessen Physik in letzter Linie noch unbekannt ist, so ist meine Angst vor dem Spuk als psychisches Bild geistiger Herkunft ebenso real wie das Feuer mir realen Schmerz verursacht — denn es macht mir reale Angst, genau wie mir das Feuer realen Schmerz verursacht. Auf welchen geistigen Vorgang die Angst vor dem Spuk in letzter Linie hinausläuft, ist mir ebenso unbekannt wie die unbekannte Natur der Materie. Geist und Materie werden so zu bloßen Herkunftsbezeichnungen für die psychischen Inhalte, die in mein Bewusstsein drängen. Psyche ist das allerrealste Wesen, weil es das einzig Unmittelbare ist.” Thorwald starrte in das verblassende Gesicht des Mannes, den er sich eingebildet hatte. Wie war das möglich? Warum sah er jetzt Menschen, die gar nicht da waren? Er drosselte seinen Gang zu einem Schlendern. Er hatte Jung gesehen, daran war nicht zu zweifeln. Etwas verschwommen zwar, aber immerhin. Jung war aber verschwunden, verschwunden in die Irrealität dieses verfluchten Raumes, in dem er sich befand. Das allerrealste Wesen, hatte Jung gesagt. Aha, dachte Thorwald triumphierend, Jung ist kein Platoniker, sondern ein Staubkopf aus dem Mittelalter, ein Scholastiker: das allerrealste Wesen ist ein Widerspruch. Entweder existiert etwas, und dann ist es real, oder es existiert nicht, und dann ist es auch nicht real. Allerrealstes Wesen, welche Monstrosität des Denkens! Wie sagte doch Nietzsche so schön über Gott: Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt, als Ursache an sich, als ens realissimum… Daß die Menschen die Gehirnleiden kranker Spinnweber hat ernst nehmen müssen!
Ja, manchmal in Jahrhunderten quält sich die Natur eine Perle heraus, die den anderen Menschen weit voraus ist; sie ist im eigentlichen Sinn der Übermensch, der Vertreter des höheren Menschentums. Oh, wie recht hatte doch Nietzsche, als er so sinnig bemerkte, dass gerade diejenigen die Freiheit ihres Willens am meisten suchen, die am festesten an allzu irdische Veranlagungen gebunden sind. Es ist, meinte er, als ob der Seidenwurm die Freiheit seines Willens gerade im Spinnen suchte.
Thorwald war glücklich über Nietzsche. Nietzsche war von seinem siebzehnten Geburtstag an sein Vademecum gewesen: Nicht ohne meinen Nietzsche, hatte er jedesmal gedacht, wenn er verreiste. Das Nagen der Einsamkeit hatte Nietzsche zerfressen, der Schmerz, die Krankheit und das Leiden hatten seine Philosophie hervorgeächzt und Thorwald liebte sie dafür. Typischerweise war gerade er es, den seine Großmutter am meisten hasste. Ihre Augen hatten sich geweitet, als sie den jungen Thorwald vor dem Zarathustra seines Vaters gesehen hatte. Junge, hatte sie gewarnt, halte dich fern von diesem Satan — sie erhob ihre Stimme nur selten, aber jetzt tat sie es — , das Böse sintert aus seinen Werken wie das Blut aus den Augen der Gorgonen! Thorwald pflegte dann seinen Zarathustra zuzuschlagen und wegzupacken. Großmutter ließ ihrer schicksalhaften Warnung meist noch ein paar Verse aus der heiligen Schrift, wie sie die Bibel nannte, folgen. Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse nennen; die Finsternis für Licht und Licht für Finsternis erklären; die Bitteres süß und Süßes bitter nennen! So sprach sie immer. Und meinte damit, Nietzsche beschrieben zu haben. Thorwald wusste zwar, dass sie damit nicht ganz unrecht hatte. Nietzsche hatte in der Tat mit seiner Umwertung aller Werte Ähnliches gesagt. Aber es war doch einfach alles zu kompliziert für Großmutter. Stell’ dir vor, dachte Thorwald, ich müsste mit Großmutter über die Freiheit des Willens reden. Einfach schrecklich. Sie würde mich mit Bibelzitaten töten. Ei, wer merkt denn nicht, dass Nietzsches Satz über den Seidenwurm ein wenig platt ist? Aber man kann doch nicht in einer Konfrontation die Schwachstelle seiner eigenen Argumente zugeben. Wo käme man da hin? Die Zuhörer überfielen einen wie eine hungrige Meute Hyänen, denen sich endlich nichts mehr in den Weg stellt.
Da war wieder der Zug. Er sah unvermittelt einen Zug auf sich zukommen. Dann hatte er das Empfinden, als stände der Zug still und er selbst käme dem Zug mit rasender Geschwindigkeit näher. Der Zug und das Krankenhaus, der gutgekleidete Mann und Nietzsche. Kopfschüttelnd schritt Thorwald weiter, die Dunkelheit tief in sich hineinatmend. Das war ihm nicht fremd. Ja, er erinnerte sich, ein Freund hatte diese Worte einmal gebraucht, ja, Peter war’s, der Sektenmensch, der wollte ihn damals zu seiner sinnlosen und hoffnungslos veralteten Mitleidsreligion bekehren. Er, Thorwald, atme unentwegt die Dunkelheit in sich hinein, hatte er gesagt. Was für eine Dunkelheit denn? Wie erfrischt und erleuchtet fühlte er sich, wenn er dagegen Argument für Argument mit dem Hammer von Nietzsches Philosophie erschlagen konnte. Ja, er fühlte eine böse Freude, wenn er daran dachte, dass sein Liebling ja selbst mit dem Hammer philosophiert hatte. Immerzu dieses blöde Gerede von Demut. Er, Thorwald? Nein. Er war kein getretener Wurm, der sich krümmte. Mögen sich die getretenen Würmer nur krümmen, freute sich Thorwald, sie sind ja so klug, sie müssen das auch tun, denn damit verringern sie die Wahrscheinlichkeit, von neuem getreten zu werden. Haha, in der Sprache der Moral nennt man das Demut! Dümmlich grinsend schritt Thorwald weiter und weiter und weiter.
Auch das Gespräch mit Peter damals war nichts weiter als eine Stufe gewesen, über die er hinweggeschritten war. Eine weitere Stufe, die gemeint hatte, er wolle sich auf ihr niederlassen. Peter pflegte stets abscheuliches Mitleit mit ihm zu haben. Stand nicht in der Bibel — in seiner Bibel: „Was ist schädlicher als irgendein Laster? — Das Mitleiden der Tat mit allen Mißrathenen und Schwachen — das Christenthum...” Thorwald bezeichnete Nietzsches Werke als seine Bibel. Er gefiel sich darin, seinen antibiblischen Übermut in dieser Weise zu kühlen — ganz lapidar, sachlich, das „Mitleid” seines Freundes auskostend, aussaugend, zum Schluss noch zertretend.
Irgendwie hatte Thorwald nach einer Unendlichkeit des Wanderns Mitleid mit den Glühwürmchen. Das ging ihm so nach und nach auf. O welche Schande, dachte er sich. Ich und Mitleid. Aber das Gefühl des Mitleids war echt. Er fühlte, dass er die Lichter liebte. Sie waren ja doch auch das einzige, was er in dieser Welt der Finsternis noch hatte. So lange sie da waren, fühlte er sich einigermaßen sicher, hatte er ja doch noch irgendeine Hoffnung. Es war ihm nur ganz und gar nicht klar, auf was er jetzt noch hoffen sollte. Die Hoffnung stirbt zuletzt! kreischte er. War nicht eine angenehme Ruhe an diesem Ort? Schließlich hatte er auch niemals das Bedürfnis zu schlafen, zu essen, zu trinken oder sonst einer Sache, zu der einen das Leben sonst zwingt.
Thorwald ging und ging. Manchmal stolzierte er, manchmal schnitt er Grimassen, beschimpfte die glimmenden Glühwürmchen, oder was zum Teufel sie auch immer waren. Das Nichts nichtet. So ein dämlicher Spruch. Auswurf eines Existenzialisten. Von wem konnte sowas sonst auch kommen? Mit solchen Sprüchen kann man die verdorrten Köpfe einiger Gelehrter füttern. Die fressen solchen Mist bücherweise. Das ist das gleiche wie die Nahrung für alle Banausen und Handwerker: das Fernsehen. Du erkennst den Geistesinhalt eines Handwerkers an der umgekehrt proportionalen Zeit, die er in die Glotze schaut. Thorwald streckte wieder die Zunge heraus und machte erneut das Geräusch tiefsten Abscheus, so als müsste er sich übergeben. Er konnte die Handwerkszunft mit allen ihren Gliedern nicht ausstehen. Platt und dumm wie fünf Meter Feldweg, pflegte er zu sagen. Sie kennen nur die Arbeit; die Arbeit ist ihr Heiligtum, ihr Anfangs- und Endpunkt, ihr Ziel, ihr Ein und Alles. Pfui Teufel. Die meisten von ihnen arbeiten, um nicht denken zu müssen: ein anderes Wort für Faulheit. Arbeit ist der Fluch der trinkenden Klassen, hatte Oscar Wilde einmal gesagt. Und waren nicht Claudias Geschwister und Freunde samt und sonders aus dieser üblen Zunft? Sie hatten die Bildung eines Holzbretts: flach und verzogen; wenn man mit der Hand darüberfährt, zieht man sich einen Spahl ein. Daher hatte Thorwald dieses Geschmeiß auch so gemieden. Thorwald versuchte, sich vorzustellen, was wohl mit den Arbeitslosen geschähe, wenn die Arbeiter im Staate das Sagen hätten. Die Antwort war einfach: es würde sie nicht geben. Zwangsarbeit und Arbeitslager und...
Die Suche nach Antworten zerann in seinem Kopf wie Wasser, das im Wüstensand versickert. Sich eine Ewigkeit lange Sinnfragen stellen, um auf kurze Ergebnisse zu kommen? Was der Sinn des Lebens sei, das wusste er bereits: die Menschen tragen zu wenig Hüte. Haha, ja, Monti Pyton waren doch heitere Gesellen! Verdammt, wie war doch gleich der Name des Christengottes? Er fiel ihm nicht ein. Das ist doch seltsam: habe ich mich nicht jahrelang mit allem, was rund um diesen Christengott kreiste, beschäftigt? Habe ich nicht Theologie studiert? Großmutter war wieder da. Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt? Haben wir nicht in deinem Namen böse Geister ausgetrieben? Haben wir nicht in deinem Namen viele Wunder getan? Haben wir nicht Exegese betrieben und historisch kritisch alles genau beurteilt und zu aller letzt David Friedrich Strauß gelesen? Wie hieß nochmal der Titel seines Buches? Das Leben des Nazaräners oder so ähnlich. Ja, ja, genau. Das Leben des Zimmermanns aus Nazareth. Eigentlich ein seltsamer Titel. Nietzsche hat ihn ordentlich verrissen. Gehet hinweg von mir, ich habe euch nie gekannt.
Die Ewigkeit ist ein Kreis, hatten die Alten gesagt. Bis dieser Wirrkopf Einstein kam und behauptete, der Raum sei eine Kugel. Dann ist die Zeit eine Schleife, ein Möbiusstreifen, ein endlos geflochtenes Band. Es wäre gut, hierzubleiben; hier fehlte nichts. Das Leben des Nazaräners (wie war nochmal sein Name?). Peter hatte gemeint, man müsse diesen Namen anrufen, wenn man in Not sei — und man würde gerettet. Ein spöttisches Prusten kam aus Thorwalds Brust. Jaa, ganz sicher: Jetzt den richtigen Namen rufen und Simsalabim ist man aus allem raus. Wie Menschen sowas glauben können. Ein beißender Zweifel fraß sich in Thorwalds Seele. Seine Großmutter war zwar religiös; dumm war sie aber nicht. Wie konnte sie all das glauben? Wenn Sie nun recht gehabt hätte? Nicht auszudenken. Er merkte, wie er wieder zu grinsen anfing. Jetzt wusste er, dass er den Namen aus einem anderen Grunde wissen wollte. Er wollte ihn verhöhnen und verspotten, denn in der Not war er ja nicht. Doch es blieb dabei — der Name fiel ihm nicht ein. „I’m on a highway to hell!”, schrie er hinaus, „highway to hell!”. Ja, da hatte er „abreagieren” können, wenn der Geist des Hardrock die Ruhe in seinem Zimmer zerfetzt hatte. Wenn AC/DC, Black Sabbath und Mötly Crue die Boxen zum Vibrieren brachten. In solchen Augenblicken war er überzeugt gewesen, dass auch Nietzsche diese Musik gemocht hätte. Sie wertete einfach alles um. Diese vertrottelten Christen, die diese Musik für schädlich hielten; auf ihn hatte sie hingegen immer reinigend gewirkt, eine echte Katharsis, die ihn jedesmal aus dem Komplex an Minderwertigkeitsgefühlen herausriss, die sein dominanter Vater in ihm aufgebaut hatte. Wie die Pest hasste er seinen Vater, aber er hatte diesen Gedanken früher nie zugelasssen. Der Hass ist ein Gefühl, so echt, dass man die Echtheit selbst noch an diesem Gefühl messen konnte. „I’m on a highway to hell!” hörte er sich schreien, während er dabei beobachtete, wie sich seine Stirnfalten zusammenzogen, wie er die Nase rümpfte. Etwas Unsagbar Böses sprang ihn aus dem Nichts der Dunkelheit an. Er formte seine Hände zu Krallen.
In diesem Moment, das wusste er, würde er jeden töten, der hier seine Seelenruhe störte. „Father, I want to kill you...”. Er schrie und schrie und schrie; und als seine Stimme begann, immer mehr dem Krächzen eines altersschwachen Raben zu ähneln, war ihm das kein Anlass, aufzuhören. Bald war sein Stimme nur mehr ein Hauch, und danach hatte er sie verloren. Wie war doch bloß dieser Name? Er fühlte die unsägliche Qual, diesen Namen vergessen zu haben. Was würde er nicht alles anstellen, wenn er sich an diesen Namen erinnerte. Hatte man den Namen einer Sache, so hatte man auch Gewalt über sie. So hatte er es auch seinen Schülern beigebracht. Das Lehrerkollegium hatte ihn wegen seiner Fähigkeit, die Schüler zu motivieren, immer gelobt. Es war ihm gelungen, den Gesamtnotendurchschnit der Abschlussklasse in Latein und Philosophie um eine ganze Note zu erhöhen. Man mag ermessen, was das bedeutet! Sein Faible für die Antike hatte es ihm erlaubt, die staubtrockene Rache Roms in lukianische Spottverse zu kleiden, die seine Schüler mit Vergnügen gelernt hatten — so war ihnen quasi erlaubt gewesen, das Schmutzige in lateinischer Frischhaltefolie der Öffentlichkeit zu präsentieren, nebenbei noch als gebildet zu gelten und nicht riskieren zu müssen, irgendwelche Rüffel zu bekommen. Wer verstand schließlich schon Latein? So hatte er es auch verstanden, unter seinen Schülern einen gewissen Elitedünkel aufzurichten; ja, wie oft hatte er sich daran ergötzt, wenn er sich als Urheber des Lobes geuwsst hatte, welches dann und wann aus den Mündern der Professoren in die jungen und hocherhobenen Rotznasen geträufelt war.
Alkohol und Christentum, diese beiden, und Nietzsche, der den Stab darüber gebrochen hatte. Nietzsche liest man nicht, man lebt ihn, diesen Kyniker par excellence, diesen Antipoden alles Metaphysischen und Jenseitigen. Und Thorwald lebte seit seinem Studium nach Nietzsche. Er hatte schwer an sich gearbeitet, sein Gewissen abzutöten, dabei allerdings keinen Eindruck nach außen zu machen. Er hatte immer eine karamasowsche Kraft gefühlt, in Laster zu ertrinken, seine Seele in Schande zu ersticken. Er wusste, dass dies nötig war, um sich jenseits alles Guten und Bösen zu stellen. Das Gute existiert genausowenig wie das Böse; es sind Bezeichnungen von Tatsachen, historisch gewachsen, durch die Aufklärung in Verwesung begriffen und in der Neuzeit endlich auf den Mist der Zeit geworfen. Die Neuzeit und hier besonders die Postmoderne bewirkte bekanntlich den Umsturz des Menschensinnes; das Objekt wurde vom Subjekt verschlungen und assimiliert, der Realismus löste die Metaphysik der Jenseitshoffnungen ab und verwandelte das Leben des Menschen in das Tor zur Hölle. So sprechen alle Kleingeister, dachte sich Thorwald. Die Lebensunwilligen. Die letzten Schranken der Moral sind durchbrochen und müssen es auch, um zum höheren Menschentum zu gelangen. Das Leben vor dem Tode. Lasciate omni speranza, hatte Dante über dieses Tor geschrieben; lasset alle Hoffnung fahren. Ist es nicht interessant, wie sich der Wahrheitsbegriff in einer Welt verflüchtigt, in der wahr und falsch nicht länger Pole einer Achse sind, sondern in der erforscht wird, „was der Fall” ist? Metaphysik ist eben doch nich notwendig, wie der alte verknöcherte Königsberger gemeint hatte. Es gibt nicht Dualismus, es gibt nur grünes Leben, ein Leben, welches Thorwald entschieden der gelehrsamen Vertrotteltheit und der doktoralen Dummheit vorzog. Nach seinem Abschluss hatte er eine Zeitlang überlegt, ob er zwei weitere Jahre anhängen sollte, um zu promovieren. Es hatte ihn damals ein Ekel ergriffen, als ein Komilitone ihm stolz seine Dissertation gezeigt hatte: Moral oder Aufklärung — ein ethischer Diskurs unter Berücksichtigung der Dekonstruktion. Das hatte ihm gereicht. Daraufhin hatte er sein Praktikumsjahr absolviert und war Lehrer geworden. Ist es schließlich nicht viel amüsanter, anderen seine Ideen zu oktroyieren als die stickige Vorlesungsluft noch weitere zwei Jahre einzuatmen? Eine Luft, die ihn zum blutarmen und an Lebensfrische vergreisten Fachidioten verpestet hätte? Aber seine eigenen Ideen den jugendlichen, ja, beinahe jungfräulichen Gehirnen einzuprägen, verlieh doch eine gewisse Macht. Er hatte die Macht über die Gedanken seiner Schüler haben wollen, hatte sie zu Propheten des Zarathustra erziehen wollen. Ein Spiel am lebenden Objekt. Peter hatte ihn gemieden, als er ihm diese seine grandiose Idee eröffnete. Der bewusste Eingriff, hatte Peter gemeint, sei die neue Sünde der alten Schlange; Machtwissen als Wissensmacht zu mißbrauchen sei einfach schändlich. Als ob je ein Lehrer etwas anderes getan hätte. Zur psychologischen Betrachtung tue er das doch nur, hatte Thorwald gesagt. Alles muss erforscht werden. Der Natur muß ihr Zauber entrissen werden, jawohl, haben wir nicht selbst von Gott den Auftrag erhalten, uns die Natur zu unterwerfen? So werden wir uns selbst umerschaffen — vom Naturzauber zur Zaubernatur. Angehaucht vom Ungeist des Nihilismus sei sein Vorhaben, hatte Peter gemeint. Was für ein Kleingeist! Oh, ihr Dreiviertelschristen, hatte sich Thorwald gedacht; wie kann man je das Seziermesser der Argumentation gegen diese verstockte Halbbildung gebrauchen? Entzückende Naivetät ist an sich eine reizende Blume, vertrottelte Ignoranz ist aber der Boden, der sie entsprießt.
Für Thorwald hatte immer festgestanden: was menschliche Vernunft nicht greifen kann, ist Mythos. Dieser Grundsatz war es, den er allem im Leben entgegengetragen hatte. Nicht dass er von sich selbst glaubte, je einst genug ergründen zu können: soviel gestand er der ganzen Gelehrtheit der Welt nicht zu. Es war Thorwald nicht gelungen, der Welt auch nur ein einziges ihrer Geheimnisse zu entreißen, doch hatte es ihm zutiefst widerstrebt, seine Zuflucht zu einem Gedankensystem zu suchen, wie etwa das existenzialistische war: Jaspersche Zerblasenheit zum System erhoben, pfui Teufel. Daß ein solcher Mensch geschrieben hat, hat wahrlich die Konfusion auf der Welt vermehrt.
Thorwald merkte längst die Inkonsequenz seines Denkens nicht mehr. Er begann, alle möglichen Sentenzen und Aphorismen herzuleiern, die ihm einfielen. Er merkte längst nicht mehr, welchen Unsinn er sich zusammenreimte, merkte nicht mehr, was er angriff und was verteidigte, und dass er manchmal das eine mit dem anderen verwechselte. Er versuchte, sich wie Münchhausen aus dem Sumpf zu ziehen. Er fühlte, dass die gesamte Geisteswelt ein ständiges Sichdrehen im Kreise ist, nur um sich die Tatsache verheimlichen zu können, dass sie nie ihren Rücken wird sehen können. Die Philosophie liegt seit hundert Jahren im Sterben und kann es nicht, weil sie nie bereit war, über das zu schweigen, worüber sie nicht reden konnte. So oder ähnlich hatte dies ein kluger, allzukluger Kopf aus Deutschland in seinem grandiosen Werk formuliert. Kritik der zynischen Vernunft. Das genau war es, was Thorwald hier betrieb. Doch er merkte es längst nicht mehr...
Manchmal schien es Thorwald, als verschmolzen die grünen Lichter zu einer einzigen Linie; als wäre an ihrem Aufflackern abzulesen, was der Sinn des Ganzen sei. Er hätte vielleicht doch nicht seine besten Jahre dem Stumpfsinn sokratischer Epigonen opfern sollen, fiel ihm ein. Versteht sich nicht die ganze Philosophie als Fußnote zu Platon? Hätte er doch einfach mehr gelebt, ja, gelebt! Die Lichter schienen ihn daran zu erinnern. Einige Lichter begannen zu hüpfen, höher als andere. Dann sah er wieder nur eine Linie. Es war doch eine gute Idee gewesen, längs der Lichter zu laufen.
Wie ein Blitz durchzuckte ihn eine Erinnerung. Er saß ihn einer U-Bahn. Da war Dunkelheit. Das monotone Fahrgeräusch. Ta-tam, Ta-tam. Dann wurde es hell. Eine Station, in das gleißende Licht der Scheinwerfer getaucht. Vorbeiflitzende Figuren ohne Gesichter. Zwei, drei Säulen; Reklametafeln. Wieder Dunkelheit. Warum hielt die Metro nicht an? Es war zu später Stunde, er erinnerte sich wieder. Das Abteil war beinahe leer gewesen. Er hatte einen Anzug getragen, was merkwürdig war, weil er Anzüge nicht mochte. Auf seinen Beinen hatte ein länglicher Gegenstand gelegen. Dann verließ ihn die Erinnerung wieder. Ich will jetzt nicht an den Anzug denken, dachte er. Die U-Bahn, die Menschen im Abteil. Ein versoffener Sack, der einen Menschen enthielt. Dürfte früher mal eine Hose gewesen sein. Dieser Mensch — war es einer? — hatte langes Haar, das mit Sicherheit nur währnd der Regenzeiten in Berührung mit Wasser kam. Grau, schmuddelig, fasrig, verklebt; das Haar eines Gossenliegers eben. Fuhr wahrscheinlich schwarz. Eine untergehende Art; stirbt aus, dachte Thorwald. Diese Sorte Mensch nimmt von Tag zu Tag zu, erkannte Thorwald dann. Das Gegenteil ist sein eigener Beweis. Oder seine eigene Ursache: causa sui. Wieder spürte Thorwald einen Ruck. Kein Schmerz, kein körperlicher, wenn das Wort angebracht ist; man kann nicht sagen, dass Thorwald über ein Körperempfinden im herkömmlichen Sinne verfügte. Der Horizont vor ihm, das rhytmische Aufblinken der Lichtbojen, die auf der Dunkelheit schwammen, bog sich. Er hatte das Empfinden, im Inneren einer gigantischen Kugel zu wandern, wobei die Schwerkraft nach allen Seiten hin wirkte, nur nicht ins Zentrum. Daher also „klebte” er an der Innenseite dieser Hohlwelt.
Er verwarf den Gedanken so rasch, wie er ihn gefasst hatte. Die Hohlweltperspektive verschwand wieder. Gibt es am Ende einen Zusammenhang zwischen meiner Wirklichkeit und meinem Denken? Er fühlte wieder stärker den Hang zur Zerstörung in sich aufkeimen. In seinem Gehirn kämpften objektive Synapsen gegen subjektive; reduktionistische Theorien verhöhnten holistische, Welt, Seele und Gott senkten sich als die drei unentbehrlichen Basen auf ihn herab. Er sah seine Thesen und Antithesen zerschmelzen wie die Uhr auf Salvador Dalis Gemälde: die Beständigkeit der Erinnerung.
Zuletzt schossen Erinnerungen und Gedankenfetzen durch sein Gehirn. Sein Geist verwirrte sich nun mehr und mehr, dieses Produkt seines Gehirnes und seiner Synapsen. Denkt die Materie? Aber freilich, du Trottel, du, du selbst bist ja diese Materie! Denkst du dir etwa ein Geistlein in deinem Kopf? Meinst du denn, die Immaterialität könnte das Zepter schwingen über eine streng determinierte Materie? O heilige Ursache und Wirkung! Photonen und Quanten, Deus ex machina — der Geist in der Maschine. Transzendental, phänomenal, wir alle nur ein Gedanke im Kopfe eines alten englischen Bischofs, der neben unsinnigen und noch dazu logisch falschen Spekulationen auch noch so nebenbei philosophiert hatte. Wär’ der Depp doch Pfaff’ geblieben. Berkeley. Nein, was für ein Narr.
Thorwalds Wahnsinn steigerte sich. Abwechselnd verfluchte er Kant, den deutschen Idealismus, den englischen Empirismus, Konrad Lorenz, diesen Nils Holgerson der Evolution, die Traumdeutung und die Farbe grün. Er fühlte ein seltsames Würgen. Die erste wirklich körperliche Empfindung, dachte er. Die Dinge kommen in Bewegung. Er ahnte sich dem Ausgang entgegen. Ja, das Sein ist eigentlich ein Nichtsein, ein Sein zum Verschwinden, zum Verlöschen. Denn alles was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht. Bin ich jetzt auf diesem Wege?
Als Thorwald etwas mehr als ein paar unzählige Weiten durchschritten hatte — ob es Tage waren oder Monate, konnte niemand sagen — , richtete er seine Aufmerksamkeit vom Glühen seiner gedanklichen Exzesse erneut auf das Glühen der Lichter. Er ging immer noch haargenau links neben ihnen her. Dieses phosphoreszierende und faszinierende Leuchten. Es schien ihm jetzt, als seien die Abstände zwischen den einzelnen Lichtern kleiner geworden. Ich mag mich täuschen, dachte Thorwald. Aber Thorwald täuschte sich nicht. Zu echt war diese Veränderung, als dass er sich täuschen mochte. Er hatte alles versucht und alles verspielt. Und so kam die letzte Erkenntnis mit der letzten Erinnerung. Er war der U-Bahn noch entstiegen, hatte sich auf seine Krücke gestützt und auf die Geleise gestarrt.
Das seltsame Oszillieren der grünen Lichter war also nichts anderes als — genau. Er hatte sich mit dem Koma nicht geirrt. Das Oszilloskop war der einzige Faktor der Außenwelt, der zu ihm vorgedrungen war. Und zuletzt war auch noch sein Herzschlag kurz schneller geworden; die Abstände zwischen den Lichtern wurden kürzer. Dann hatte sein Herz aufgehört zu schlagen. Ein Bildersturm durchzuckte sein Denken — der Zug — der Beschluss — die letzte Sinnlosigkeit — der Sprung. Wie konnte er das überlebt haben?
Genau das war der Punkt. Er hatte es nicht überlebt. Jede Hölle hat ihre eigene Spielart. Und Thorwalds letzter Wunsch war in Erfüllung gegangen: seine Hölle nahm ihn in Empfang. Er wusste es just in dem Augenblick, als das Leuchten der Lichter erlosch. Thorwalds Hölle war eine immerwährende Finsternis mit der Verdammnis, sich nicht in den endgültigen, nietzscheanischen Wahnsinn flüchten zu können.