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Zirkus
Es gab ein Problem. Das fühlte Carlo genau. Irgendetwas war passiert, was ganz und gar nicht in Ordnung war. Irgendeine Kleinigkeit hatte sein Unterbewusstsein alarmiert. Doch sosehr er auch grübelte, es fiel ihm einfach nicht ein. „Wird schon nicht so wichtig sein“, versuchte er sich einzureden und machte sich auf den Weg zur Arbeit.
Carlo Lorenzo, der große Trapezartist. Eigentlich hieß er ja Karlheinz Lorenzen und kam aus Dortmund. Doch das war natürlich kein geeigneter Zirkus-Name. Mit den Jahren hatte er sich so sehr an Carlo gewöhnt, daß es ihm direkt unangenehm war, wenn einer seiner alten Freunde oder seine Mutter bei seinen seltenen Anrufen ihn an seine Dortmunder Karlheinz-Vergangenheit erinnerte. Carlo – das klang doch viel passender. Zwar sprach er kein einziges Wort Italienisch, doch in Sachen Amore fühlte sich der schwarzhaarige Junge aus dem Ruhrgebiet noch jedem heißblütigen Sizilianer gewachsen. In der Tat konnte Carlo sich über mangelnden Erfolg beim anderen Geschlecht nicht beschweren.
Das war schon immer so gewesen – kaum ein Mädchen an der Schule, das nicht in den eher kleinen, sehr schlanken, dabei aber dank des Turn-Trainings muskulösen Jungen mit dem unwiderstehlichen Grinsen und den Grübchen verliebt gewesen wäre. Er hatte in seinem Viertel kaum Konkurrenz und stets leichtes Spiel, wenn es um die Gunst seiner Mitschülerinnen (und auch der einen oder anderen ihrer Mütter) ging.
Doch seine Erfolge als Vorstadt-Casanova langweilten ihn bald ebenso wie die gerade angefangene Banklehre. Deshalb heuerte er beim nächstbesten Zirkus an, der gerade in der Stadt war.
Es folgten vier, fünf harte Jahre. Statt Hochseil oder Trapez, wofür der durchtrainierte Turner sich berufen fühlte, standen erst einmal Zelt aufbauen und Elefantenscheiße schippen auf dem Programm – was Karlheinz (an Carlo war noch nicht zu denken) freilich immer noch lieber war als Geldstücke rollen und Anlagen zu Kontoauszügen suchen.
In seiner freien Zeit trainierte er mit den Artisten. Es zeigte sich, dass er ein großes Talent für das Trapez hatte. Er war schnell, kräftig, bewegte sich elegant – und hatte absolut keine Angst. Der Verletzung eines Artisten verdankte er die Chance eines ersten Auftritts vor Publikum. Er nutzte sie, und damit begann seine steile Zirkus-Karriere.
Er verließ die Provinztruppe, bei der er angefangen hatte, und ging zu einem Zirkus mit internationalem Ansehen. Dort arbeitete er seit knapp vier Jahren mit Enrico Carnevale zusammen, der aus Rupolding kam und im Gegensatz zu Carlo außerhalb der Arena lieber mit seinem richtigen Namen Heinz Kannwald angesprochen wurde. Heinz und Carlo waren nicht gerade Freunde; Carlo glaubte nicht, dass Heinz überhaupt irgendwelche Freunde hatte. Aber sie waren ein ideales Artisten-Team. Der Stoiker Enrico war ein hundertprozentiger Fänger. Sein Job war es, so gleichmäßig wie ein Uhrwerk durch die Zirkuskuppel zu schwingen und Carlo sicher aufzufangen, nachdem dieser das Publikum mit seinen diversen Schrauben und Salti begeistert hatte. Carlo war der Star, aber er wusste genau, dass er einen Großteil seines Erfolges den starken und vor allem zuverlässigen Armen von Enrico verdankte.
Privat gingen Heinz und Carlo ihre eigenen Wege – soweit das beim Zirkus möglich ist. Was Enrico-Heinz in seiner Freizeit trieb, wusste niemand genau, und es interessierte auch kaum jemanden, am wenigsten Carlo.
Das Privatleben des früheren Ruhrpott-Stenz Karlheinz dagegen war eines der beliebtesten Klatsch-Themen der Zirkusleute. Denn natürlich hatte Carlos Zirkus-Karriere seinem Erfolg bei Frauen nicht gerade geschadet. Und Karlheinz, so konnte halb Dortmund bestätigen, war noch nie einer gewesen, der in dieser Beziehung etwas anbrennen ließ. Weil es dem angehimmelten Trapez-Star dabei immer nur um die Schönheit der Damen ging, nie aber um deren Familienstand, hatte es schon ein paar unangenehme Konfrontationen mit gehörnten Ehemännern gegeben. Doch weil der Zirkus meist nach wenigen Wochen weiterzog, war es Carlo bisher noch immer gelungen, rechtzeitig die Stadt zu verlassen, bevor ihm ernsthafte Schwierigkeiten drohten.
Mit Silvia Manzoni war das etwas anderes. Nicht nur, dass sie zur Zirkus-Truppe gehörte und somit Probleme nicht durch einfaches Weiterziehen gelöst werden konnten. Nein, ausgerechnet die Frau des Messerwerfers musste Carlo in sein Bett holen.
Gianni Manzoni hatte sich für den Zirkus keinen Namen ausdenken müssen, obwohl der Mailänder Messerwerfer viel weniger italienisch aussah als Karlheinz aus Dortmund.
Silvia war seine Frau und Assistentin, was bedeutete, dass sie zweimal täglich das Opfer war, das sich seinen Wurfmessern gegenübersah. Zwar wirkte Gianni augesprochen phlegmatisch – möglicherweise hatte er sich diesen Charakterzug antrainiert, um eine ruhigere Hand zu bekommen. Auch schien ihm das Interesse an seiner schönen Frau abhanden gekommen nach fünf Jahren Ehe, in denen er Silvia tausende Male mit seinen Messern, aber höchstens zweimal monatlich im Bett traktiert hatte. Dennoch war Gianni Manzoni ein sehr eifersüchtiger Ehemann. Ein Tierpfleger, der allzu offen mit Silvia geflirtet hatte, war von dem Messerwerfer erst übel verprügelt und dann aus der Truppe geworfen worden. Carlo war also gewarnt. Doch er wollte Silvia nicht aufgeben.
Montags hatten die Artisten frei, es war der einzige Tag ohne Vorstellung. Montags ging Gianni fischen, egal ob es regnete, hagelte oder die Sonne schien. Egal auch, wo der Zirkus gastierte – Gianni fand immer einen Teich, See oder Fluß. Jeden Montag fuhr Gianni frühmorgens zum Fischen, und grundsätzlich kam er erst nach Sonnenuntergang zurück. Er hasste Städte.
Ganz anders Silvia. Für sie waren die Montage Bummel-Tage. Sie nutzte die freie Zeit zum Einkaufen. Und immer brachte sie auch Gianni eine Kleinigkeit mit. Doch die Shopping-Touren waren nur die Fassade. Silvia kaufte morgens etwas für sich an einer Ecke der Stadt und am späten Nachmittag das Mitbringsel für Gianni am anderen Ende der City. Es gelang ihr dabei fast immer, von Kollegen aus dem Zirkus gesehen zu werden. Jeder konnte bestätigen, dass Silvia nun einmal leidenschaftlich gern einkaufte und die freien Tage in Boutiquen und Warenhäusern verbummelte. In Wirklichkeit verbrachte Silvia jeden Montag vier, fünf, sechs Stunden in etwas schmuddeligen, dafür aber verschwiegenen Zimmern von Stundenhotels. Denn die Montage waren für Silvia vor allem eins: Carlo-Tage.
Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, zumindest wenn man die schmerzhafte Sehnsucht nach jedem Blick, jedem Wort, jeder Berührung Liebe nennt. Seit dem Moment, als der Direktor seiner Truppe den neuen Messerwerfer und seine Assistentin vorstellte, hatte Carlo nur noch einen Gedanken: Ich muss mit dieser Frau schlafen. Nicht einmal, wie mit so vielen anderen, oder für ein paar Wochen. Nein, von dieser Frau würde er niemals lassen können – das wusste Carlo seit der Sekunde, als ihn Silvia zum ersten Mal anlächelte. Es war dieses Lächeln, warmherzig, wie eine Mutter, die eine kleine Dummheit ihres Jüngsten belächelt, und dabei doch verführerischer als das laszivste Angebot, mit einer winzigen Portion wohlmeinendem Spott in den Augen. Dieses Lächeln ging Carlo nicht aus dem Kopf, selbst jetzt nicht, nachdem sie bereits seit fast einem Jahr ein Montags-Liebespaar waren. War das Liebe? Es war zumindest Besessenheit.
Es war nicht Silvias Aussehen, das Carlo verrückt machte. Er hatte mit schöneren, auf den ersten Blick aufregenderen Frauen geschlafen. Sicher, Silvia war durchaus attraktiv mit ihrer sehr schlanken, fast knabenhaften Figur, ihrem schulterlangen dunkelblonden Haar und den blauen Augen, die immer zu lächeln schienen. Doch wenn die Männer, die widerwillig ihre Kinder in den Zirkus begleitet hatten, nach der Vorstellung das Zelt verließen, träumten sie viel eher von der vollbusigen Seiltänzerin Andrea oder von Natalia, die sich an ihrem prachtvoll roten Haar aufhängte, um mit ihrem kurvenreichen Körper immer schnellere Drehungen zu vollführen. An die schmächtige Silvia, die noch immer ein wenig ängstlich wirkte, wenn die Wurfmesser auf sie zu flogen, erinnerten sie sich schon gar nicht mehr.
Es war nicht Silvias Aussehen, es war auch nicht ihr Charme oder ihre Intelligenz – ehrlich gesagt redeten sie gar nicht sehr viel an diesen Montagen. Nach einer ganzen Woche, während der sie sich so viel wie möglich aus dem Weg gingen, einerseits um keinen Verdacht zu erregen und andererseits, um das Verlangen zu unterdrücken, fielen sie hungrig übereinander her und widmeten den größten Teil der gestohlenen Stunden der Lust, die auch nach fünfzig gemeinsam verbrachten Montagen noch nicht nachgelassen hatte.
Aber es war auch nicht nur der Sex. Carlo hatte schon Wilderes erlebt mit den zahllosen Frauen, die bereit gewesen waren, dem schönen Trapez-Star jeden noch so abwegigen Wunsch von den Lippen abzulesen. Schon manch einen Montag hatten Carlo und Silvia nach der ersten schnellen und hitzigen Vereinigung damit verbracht, nebeneinander zu liegen und so friedlich zu schlafen, wie den Rest der Woche nie.
Wenn es all das nicht ist, Schönheit, Charme, Intelligenz, Sex, was zum Teufel ist es dann, was mir seit einem Jahr jegliche Lust auf andere Frauen nimmt und mich zwingt, diese gefährliche Affäre mit der Frau des Messerwerfers weiterzutreiben? Das fragte sich Carlo häufig. Er wusste keine Antwort, nur, daß er sich völlig leer fühlte, wenn Silvia nicht da war.
Nicht eine einzige Nacht war seit jenem ersten Montag vergangen, in der Carlo nicht von Silvia geträumt hätte. Es gab diesen schönen Traum, in dem er mit seiner Geliebten fortging und für immer zusammenlebte. Doch häufiger wachte Carlo in jüngster Zeit nach seinem immer gleichen Alptraum auf. Darin hört er Silvia schreien, stürmt in den Wagen der Manzonis, sieht seine Geliebte stumm auf dem Boden liegen, das weiße Spitzen-Nachthemd voll Blut, und Gianni dreht sich zu ihm um, das blutige Messer in der Hand, worauf Carlo jedes Mal mit rasendem Puls und starken Kopfschmerzen aufwacht.
Gestern war wieder Montag gewesen. Und in der Nacht auf Dienstag hatte Carlo wieder diesen Alptraum gehabt – schlimmer als je zuvor. Seit dem Aufwachen hatte er das unbestimmte Gefühl, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Gianni wusste etwas, das spürte Carlo.
Er ging in Gedanken den gestrigen Tag durch. Silvia und er hatten sich in dem Stundenhotel getroffen, in das sie schon seit fünf Wochen gingen. Sollte der Inhaber? Nein, was hätte der davon; Carlo war zwar ein leidlich bekannter Artist, aber alles andere als reich und deshalb für Erpresser uninteressant.
War ihm irgend etwas Besonderes an Silvia aufgefallen? Nein. Nachdem er sich nackt aufs Bett gelegt hatte, fing sie wie immer mit ihrem „Spießer-Strip“ an. Das war eine Art Spiel, das beide halb erregend und halb belustigend fanden. Silvia zog sich ihre Kleider aus und ahmte dabei mehr oder weniger talentiert die Bewegungen einer Stripperin nach. Doch dann legte sie jedes einzelne Kleidungsstück fein säuberlich über einen der beiden Stühle im Zimmer – eine nötige Vorsichtsmaßnahme, denn Gianni war nicht nur sehr eifersüchtig, sondern hatte auch ein gutes Auge, was er für seinen Beruf ja auch zweifellos brauchte. Zu gern hätte Carlo wenigstens einmal Silvia die Kleider vom Leib gerissen oder sie zumindest langsam ausgezogen. Doch ein fehlender Knopf, eine zerknitterte Bluse oder ein schwarzes Haar am Kragen hätten Giannis Argwohn wecken können. Aus Vorsicht, ja aus Furcht, küssten sich Carlo und Silvia „vorher“ nicht einmal, genauso wenig wie nach dem Ende ihrer montäglichen Liebesspiele, nachdem sich Silvia ausgiebig geduscht und sorgfältig wieder angezogen hatte.
Doch für diese eher sterilen Begleitumstände entschädigten sich die beiden in den gemeinsamen Stunden im Bett um so mehr. Für sie waren diese schäbigen Zimmer ihr gemeinsames Zuhause.
Gestern hatten sie über Gianni gesprochen. Das hatten sie zuvor noch nie gemacht. Doch Carlo musste es einfach wissen. „Schläfst Du eigentlich noch mit ihm?“
Dieses Lächeln.
„Natürlich, mein Schatz. Es wäre doch sehr gefährlich, wenn ich Gianni plötzlich seine ehelichen Rechte verweigern würde. Das könnte ihn sehr misstrauisch machen.“
Carlo war traurig, doch er sah ein, dass es anders nicht ging. „Und wie oft fordert er diese ehelichen Pflichten so ein?“ „Vielleicht alle drei oder vier Wochen mal, und immer nur, wenn er einen besonders tollen Fang gemacht hat.“
Carlo war entsetzt: „Ihr macht es, nachdem er fischen war? Am Montag, nachdem wir...?“
Aber Silvia lachte nur, als wollte sie sagen, es sei doch nun wirklich einerlei, wann man eine unangenehme Arbeit erledige. Doch nun war Carlos männliche Eitelkeit angekratzt, dieses ewige: Wer kann’s am besten? „Wie ist es denn mit ihm, mal so im Vergleich mit mir?“
Wieder dieses Lächeln.
„Ihr bumst so wie bei Euren Nummern in der Manege. Bei ihm fühle ich mich immer so, als wäre ich auf ein Brett geschnallt, und er dringt mit seinen blöden Messern auf mich ein. Mit Dir zu schlafen ist für mich so, als würde ich durch die Luft fliegen und dabei einen Salto nach dem anderen drehen.“
Carlo war’s zufrieden, und in den nächsten Stunden gab es Besseres zu tun, als über Gianni zu reden.
War danach noch etwas Außergewöhnliches passiert? Carlo hatte immer noch Kopfschmerzen, doch viel schlimmer war das diffuse, aber ganz starke Gefühl, dass irgendetwas sehr Bedrohliches passiert war, etwas, das mit Carlo, Silvia und Gianni zusammenhing. Doch das Grübeln half genau so wenig wie bewußtes Ablenken. Es fiel ihm nicht ein.
Bevor sie gestern im Abstand von zehn Minuten das Stundenhotel verließen, hatte Carlo noch einmal von Silvias Ehemann angefangen. „Ist ja doch interessant, dass ihr es immer noch miteinander treibt. Im Zirkus gibt es nämlich Gerüchte, daß Gianni eigentlich schwul ist.“
Silvia wirkte ehrlich überrascht. „Ich weiß nicht. Ich glaube eher, daß er hetero ist und nur noch selten Lust auf Sex hat. Abgesehen von diesem eklig-süßen Eau de Toilette, das er benutzt, habe ich noch nichts Schwules an Gianni festgestellt. Und schließlich bin ich immer noch seine Ehefrau.“
„Die merken sowas oft als Letzte“, meinte Carlo lachend, „aber wahrscheinlich ist es wirklich nur Zirkus-Klatsch“. Carlo musste grinsen – dieses Eau de Toilette, das Gianni offenbar literweise über sich schüttete, war wirklich furchtbar penetrant. Aber im Zirkus hatte schließlich jeder seine Macken.
Was war danach passiert? Eigentlich nichts Besonderes. Als Carlo zum Zirkus zurückkam, fing ihn gleich der Direktor ab. „Ihr müsst dringend trainieren. Einmal euer Programm durchgehen. Im Zelt war ein Loch, oben unter der Kuppel. Wir haben es geflickt. Aber ihr solltet euch mal anschauen, ob am Trapez noch alles in Ordnung ist.“ Carlo hatte keine Lust, das Zelt war schon hundert mal geflickt worden, und immer war alles in Ordnung gewesen. Aber Lust hin oder her, was der Direktor wollte, war Gesetz im Zirkus. Und sicher war es vernünftig, das ganze Programm einmal im Training mit Netz durchzugehen. Wenn sich wirklich etwas gelockert haben sollte, war es besser, Carlo landete im Netz als auf den Sägespänen in der Manege. Denn in der Vorstellung agierten Enrico und Carlo ohne Netz. Das war der besondere Kitzel bei ihrer Nummer und ein Grund dafür, dass sie in Europa zu den erfolgreichsten Trapez-Teams gehörten. Carlo fand dieses Zugeständnis an die Sensationslust des Publikums eigentlich unnötig, schließlich war die Leistung da oben unter der Kuppel ja die gleiche, ob nun ein Netz drunter gespannt war oder nicht. Aber da er keine Angst kannte und da Enrico und er auch niemals Fehler machten, war es ihm gleich.
Der Direktor und Carlo waren gemeinsam zu Enricos Wagen gegangen, doch Heinz Kannwald war nicht da. Sie warteten mehr als eine halbe Stunde, und der Direktor wurde nervös. Als Enrico endlich kam, keiner wusste woher, wollte er unbedingt erst duschen. Doch der Direktor bestand darauf, dass sie sofort trainierten. „Die Hochseil-Truppe muss auch noch mal rauf, und es ist schon spät. Außerdem ist es doch sowieso besser, wenn Du nach dem Training duschst.“ Enrico schaute mürrisch, doch er wusste, daß jeder Widerspruch zwecklos war.
Sie waren das ganze Programm durchgegangen, und nichts war passiert. Was kam dann? Carlo war mit ein paar Freunden aus der Zirkustruppe in die Stadt gegangen und hatte bis kurz nach Mitternacht in einer Kneipe gegessen und getrunken. Vielleicht ein oder zwei Bier mehr, als für einen Mann mit seinem Beruf empfehlenswert war. Das mochte die Kopfschmerzen erklären. Doch da war noch dieses dumme Gefühl, das mit einem kleinen Kater nicht zu erklären war.
Egal jetzt. Carlo musste sich konzentrieren. In einer Stunde war die erste Vorstellung, und auch wenn er seine Nummer so sicher beherrschte wie andere Leute das Zähneputzen, war es schließlich doch besser, wenn man sich beim Turnen in mehr als zwölf Meter Höhe ohne Sicherheitsnetz auf seine Arbeit konzentriert.
Doch das unbestimmte Gefühl ließ sich nicht verdrängen. Als Carlo die Leiter zu seinem Arbeitsplatz unter der Kuppel hochkletterte, war er mit dem Grübeln noch keinen Schritt weiter gekommen. Doch während des Hochgehens war er sich plötzlich sicher, dass Gianni von Silvia und Carlo wußte. Zwar hatte er immer noch nicht herausgefunden, welche Kleinigkeit sein Unterbewusstsein alarmiert hatte, doch er war sich jetzt sicher, daß Gianni seiner Frau etwas antun würde. Dieser eifersüchtige Sonderling war in der Lage, ihr vor 500 Zuschauern ein Messer ins Herz zu werfen.
Die Messerwerfer-Nummer kam direkt nach dem Trapez-Auftritt. Wenn Enrico und Carlo, von Beifall begleitet, die Manege verließen, liefen Gianni und Silvia an ihnen vorbei zu ihrem Auftritt. So war es jeden Tag. „Ich muss sie warnen“, dachte Carlo, während er seine ersten, noch leichten Übungen am Trapez absolvierte. „Aber sie wird nicht auf mich hören. Ich werde sie einfach am Arm greifen und mit mir nach draußen ziehen. Dann flüchten wir irgendwohin. Sie darf nicht mit Gianni in die Manege.“ Aber was, wenn Gianni sie schon beim Einwerfen hinter dem Vorhang umbringt? Carlo wollte nur noch eins: Fertigwerden mit seiner Nummer, damit er sich um Silvia kümmern konnte.
„Reiß Dich noch mal eine Minute zusammen“, ermahnte er sich. Jetzt nur noch auf den dreifachen Salto konzentrieren, dann kannst Du Dich um Silvia kümmern. Carlo setzte zu seiner Parade-Übung an, und als er genug Schwung geholt hatte, losließ und mit den drei Überschlägen begann, wusste er plötzlich, was ihn den ganzen Tag irritiert hatte. Es war gestern beim Training, es war etwas mit Enrico. Erster Salto. Es war dieses eklig-süße Eau de Toilette, das er bisher nur von Gianni kannte. Zweiter Salto. Deshalb hatte Enrico also unbedingt vor dem Training noch duschen wollen. Dritter Salto. Carlo streckte seinen Körper und flog auf Enrico zu. Jetzt war ihm alles klar: Sein Partner war Giannis Liebhaber. Nein, nicht Silvia würde das Opfer sein, wusste Carlo jetzt. Enrico würde seinen Freund rächen und zum ersten Mal in vier Jahren danebengreifen.