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Zivilcourage
Wie eine Pyramide aus buntem Plastik stapeln sich die Müllbeutel auf dem Bahnhofsvorplatz. Der Abfallcontainer in ihrer Mitte war nach wenigen Tagen überfüllt, mittlerweile sind seine Umrisse nur noch zu erahnen. Am Fuße des künstlichen Bergs sucht eine Möwe nach Essensresten.
Der Wind wird stärker und treibt kleine Wirbelstürme aus Papier und Zigarettenstummeln vor sich her. Ein Getränkebecher rollt surrend über den Gehweg auf die Straße, wo ihn das rechte Vorderrad des 173er Busses erfasst.
"Eine Sauerei ist das", murmelt Harald und klemmt sich die Tageszeitung unter den Arm.
"Ja, schön ist das nicht mehr", stimmt Martha, die Kioskbesitzerin, ihm zu. "Ich hab schon beim Gesundheitsamt angerufen, ob die nicht was machen können. Wegen der Hygiene und der Ratten und so. Keine Chance."
"Eine ganz große Sauerei ist das", sagt Harald wieder, als er das Wechselgeld einsteckt.
Es ist Montagmorgen. Die Sonne scheint und obwohl es kalt ist, liegt ein Hauch von Frühling in der Luft.
Seit dreizehn Tagen streiken Hamburgs Müllmänner und Harald beschließt, dass es an der Zeit ist, etwas zu unternehmen.
Die verschließbaren Müllsäcke gibt es im Baumarkt, genauso wie die Handschuhe und die Müllzange. Und nachdem Harald seine Stoffhose und den hellen Anorak gegen eine alte Jeans und ein gefüttertes Flanellhemd getauscht hat, steht er wieder auf dem kleinen Bahnhofsvorplatz.
Vor dem Karstadteingang beginnt er zu sammeln, schnell arbeitet er sich zu den Bushaltestellen vor. Er fühlt sich gut, nur sein rechtes Knie schmerzt. Liegt wohl an der Kälte, denkt er und bückt sich, um eine Bierdose aufzuheben, die er mit der Zange einfach nicht zu fassen bekommt.
Im Fünf-Minuten-Takt strömen die Menschenmassen aus dem Bahnhof, umspülen Harald wie einen Brückenpfeiler. Dann ist der Vorplatz wieder leer und Harald sammelt weiter. Zwei prall gefüllte Müllsäcke später erreicht er den Dönerladen und noch einen Müllsack später hat er seine Runde beendet.
Es ist fast Mittag, die ersten Schulkinder haben Unterrichtsschluss und obwohl schon neuer Abfall auf dem Gehweg landet, verspürt Harald so etwas wie Stolz. Martha nickt ihm anerkennend zu und der Mann vom Gemüseladen sagt: "Gut gemacht."
Auf dem Weg nach Hause hat Harald das Gefühl, als würde eine glühende Nadel zwischen Kniescheibe und Schienbein stecken, doch er ignoriert den Schmerz so gut es geht. Kurz vor seiner Haustür macht er eine kleine Verschnaufpause.
Ja, denkt Harald, jetzt riecht es wirklich nach Frühling.
"Vielleicht waren das die Ratten, wegen der Essensreste. Oder Jugendliche haben sich einen Spaß erlaubt und mit den Beuteln Fußball gespielt."
"Einen Spaß?", fragt Harald.
Martha zuckt mit den Schultern.
"Kann ich überhaupt nicht witzig finden", sagt Harald. "Überhaupt nicht."
Letzte Nacht hat es geschneit. Ein Dutzend kleiner, weißer Hügel liegen auf dem Vorplatz. Der Neuschnee schmilzt bereits und die zerrissenen Beutel werden sichtbar.
Auch der Gehweg bei den Bushaltestellen ist wieder von Abfall übersät. Zeitungen, Zigarettenstummel und etwas, dass wie der Rest eines Döners aussieht.
"Und was ist damit?"
"Na Harald, du weißt doch, wie die Leute sind. Die lassen ihren Müll einfach fallen. Und hier kommen schließlich jeden Tag Tausende vorbei."
Harald schüttelt den Kopf. "Nee, nee, das geht doch so nicht."
"Komm, Harald, lass gut sein. Hat doch keinen Zweck."
Aber Harald will es nicht gut sein lassen.
"Wo der Staat seine Pflichten nicht erfüllt, muss der Bürger halt selbst aktiv werden", sagt er und geht.
Die Müllsäcke sind im Zehnerpack preiswerter und beim Copyshop um die Ecke kostet ein DIN-A4 Ausdruck nur fünf Cent.
Gegen Mittag ist der Vorplatz sauber und an den Bushaltestellen kleben Zettel mit der Aufschrift:
Haltet den Bahnhof sauber! Werft keinen Müll auf den Boden!
"Hättest du das nicht ein bisschen netter ausdrücken können? Hört sich ja an wie 'ne Militärparole."
"Die verstehen das sonst nicht. Denen muss man klipp und klar Grenzen aufzeigen, sonst wird das nichts."
"Wenn du meinst, Harald. Aber schön sauber ist es ja wieder geworden."
Harald nickt zufrieden und klemmt sich die Tageszeitung unter den Arm.
Zu Hause angekommen, stellt er den Wecker und legt sich angezogen aufs Bett. Haralds Brust schmerzt, er atmet stoßweise und einen schrecklichen Augenblick lang hat er das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Schwerfällig dreht er sich auf die Seite und das Gefühl verschwindet. Langsam kommt sein Körper zur Ruhe und auch der pochende Schmerz in seinem Knie kann ihn nicht mehr vom Schlafen abhalten. Man wird halt nicht jünger, denkt Harald, als er die Augen schließt.
Kurz nach Mitternacht ertönt das schrille Piepen des Weckers. Verwirrt starrt Harald in die Finsternis. Er will aufstehen, hat aber Angst hinzufallen. Er ruft den Namen seiner verstorbenen Frau in die Dunkelheit, dann finden seine Hände den Schalter der Nachtischlampe und der Traum verblasst.
Eine Zeit lang bleibt Harald noch im Bett liegen, wartet bis sein Herz sich wieder beruhigt hat.
Die meisten Buslinien fahren nicht mehr um diese Uhrzeit und auch die Bahnen haben bereits Betriebsschluss. Das Rollgitter des Bahnhofs fährt knatternd nach unten, die Haltestellen davor liegen verlassen im Neonlicht.
Eine Stadt wie Hamburg schläft vielleicht nie, aber manchmal schließt sie zumindest für kurze Zeit ihre Augen, denkt Harald und geht mit kleinen Schritten zum Müllberg hinüber. Es hat angefangen zu regnen, der Boden ist rutschig vom aufgeweichten Schnee.
Verstohlen sieht Harald sich um, während er den Berg umrundet und die blauen Kügelchen zwischen die Müllsäcke fallen lässt. Er trägt seine dicken Lederhandschuhe - mit Thallium ist nicht zu spaßen. Irgendwann ist die Packung leer und Harald wischt die Handschuhe im Schnee ab.
Rattengift gibt es auch im Baumarkt, aber das gute, das gibt es nur auf dem Flohmarkt.
Sechs der zehn Zettel an den Bushaltestellen hängen noch. Von einem hat sich der Klebestreifen gelöst. Die Rolle Tapeband hat Harald noch in der Jackentasche und ohne sein Taschenmesser geht er nicht aus dem Haus.
"Haben Sie diese Zettel hier angebracht?", hört er, als er die lose Ecke wieder angeklebt hat.
"Ja, wieso?" Harald dreht sich um.
"Das Plakatieren ist hier verboten", sagt der kahlgeschorene Kerl in der blauen Uniform, während sein Kollege beginnt, die Zettel abzureißen.
"Hey, was machen sie da? Lassen Sie die Zettel dran!"
"Haben Sie mir zugehört?", fragt der Kahlgeschorene.
"Sagen Sie Ihrem Kollegen, dass er die Zettel dran lassen soll!"
"Das Plakatieren ist hier verboten. Beim nächsten Mal gibt 's 'ne Anzeige."
"Aber das sind doch gar keine Plakate, das ..."
"Das ist mir ziemlich scheißegal. Beim nächsten Mal gibt 's 'ne Anzeige, verstanden?"
Der Kollege des Kahlgeschorenen kommt zurück.
"Macht der Alte Ärger?"
"Ich weiß nicht", sagt der Kahlgeschorene und sieht Harald an, "macht der Alte Ärger?"
Harald erwidert den Blick, sieht das herausfordernde Funkeln. Seine Hände beginnen zu zittern und er wünscht sich, dreißig Jahre jünger zu sein. Abrupt dreht er sich um und geht, humpelt so schnell, wie sein Knie es zulässt, während ihm Tränen über die Wangen laufen. Er hört das Gelächter und seine Hand umkrallt das Messer in seiner Tasche und er hofft, dass ihm die beiden hinterherkommen. Betet, dass sich die Hand des Kahlgeschorenen auf seine Schulter legt.
Doch es passiert nicht.
"Mein Gott, Harald. Was ist denn mit dir passiert? Hast du die Nacht durchgemacht?"
"Schlecht geschlafen", sagt Harald und gähnt. "Was 'n da los?"
"Vom Bezirksamt", sagt Martha und starrt an ihm vorbei.
Die Frau vom Bezirksamt trägt Handschuhe und eine Atemschutzmaske. In der Rechten hält sie einen schwarzen Plastiksack.
"Und was machen die hier?", fragt Harald und gähnt erneut.
"Harald, siehst du das nicht? Die ganzen toten Tiere?"
Jetzt sieht Harald sie auch: die tote Katze zwischen den Müllsäcken. Und etwas weiter rechts eine zweite und eine dritte. Ein weiß gefleckter Kater hat es bis zu den Telefonzellen geschafft.
"Schrecklich, oder?", fragt Martha, als die Frau vom Bezirksamt eine Katze hochhebt und vorsichtig in den Plastiksack steckt.
"Dann waren das gar nicht die Ratten."
"Ratten liegen auch dazwischen", sagt Martha, deren Augen noch jünger sind.
"Na ja, wenigstens ist alles sauber geblieben."
"Wie kannst du nur? Die armen Katzen." Martha sieht ihn an. "Du hast doch nicht etwa?"
Harald grinst. Er fühlt sich wieder gut. Der Bahnhofsvorplatz ist sauber geblieben. Das ist das Einzige, was zählt.
"Waren doch nur ein paar streunende Katzen ..."
"Nein, Harald, sag nichts. Ich will es gar nicht hören."
Harald blättert in seiner Tageszeitung und beobachtet ab und an die Frau vom Bezirksamt. Fünf Katzen sind es insgesamt und knapp ein Dutzend Ratten. Keine schlechte Ausbeute, denkt Harald und blättert weiter.
"Hast du's schon gelesen?", fragt Martha irgendwann und zeigt auf eine Überschrift. "Anscheinend ist der Streik bald vorbei. Wird auch langsam Zeit."
Harald nickt und überlegt, ob er sich darüber freuen soll.
Am Donnerstag nimmt die Gewerkschaftsversammlung den Kompromissvorschlag der Stadt Hamburg an. Der Streik wird nach sechzehn Tagen für beendet erklärt und die Müllabfuhr nimmt ihre Arbeit wieder auf.
Überall an den Straßen stehen überquellende Abfalltonnen und Berge von Müllbeuteln, die darauf warten, abgeholt zu werden.
Es ist schon fast Mittag, als Harald durch den hohen Neuschnee stapft. Er hat schlecht geschlafen, sich die ganze Nacht von einer Seite auf die andere gewälzt.
Schon von weitem sieht er Martha hinter der Kiosktheke. Und das faustgroße Loch in der Scheibe davor.
Martha winkt ihm zu. Sie sieht genauso aus, wie Harald sich fühlt. Müde und niedergeschlagen.
"Wie ist denn das passiert?", fragt Harald.
"Hör bloß auf."
"Was ist denn passiert?", fragt Harald erneut und zeigt auf das Loch.
"Harald, was wird wohl passiert sein? Die haben mir die Scheibe eingeworfen."
"Wer?"
"Sag mal, du kannst aber auch echt dumme Fragen stellen. Woher soll ich denn wissen, wer das war? Hat leider niemand seinen Namen auf den Stein geschrieben." Martha schüttelt den Kopf. "Das hat mir echt gerade noch gefehlt. Der Laden läuft sowieso nicht und jetzt darf ich auch noch 'ne neue Scheibe bezahlen."
"Was ist denn mit der Versicherung?"
"Die zahlen nicht bei Vandalismus."
Harald nickt und betrachtet die kaputte Scheibe.
"Das ist natürlich scheiße."
"Das kannst du laut sagen. Und ich kann mir auch ziemlich gut vorstellen, wer das gewesen sein könnte."
Harald sieht sie fragend an.
"Ich denk, du weißt nicht ..."
"Na ja, beweisen kann ich 's natürlich nicht, aber ..." Martha macht eine kurze Pause. "Das war bestimmt einer von den Alkis. Die haben hier schon öfter Ärger gemacht, weil ich keine Pfandflaschen annehme. Am liebsten würde ich zu den Bullen gehen."
Harald schüttelt den Kopf.
"Bringt doch nichts. Oder glaubst du, die eröffnen hier so 'n Ermittlungsverfahren wegen deiner kaputten Scheibe? Nee, das ist vergeudete Zeit."
"Oder ich frage bei der Hochbahn nach, ob die nicht mal für Ordnung sorgen können. Das gehört hier schließlich alles noch zum Bahnhofsgelände."
"Das kannst du erst recht vergessen. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus."
"Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Wer sagt mir denn, dass die mir heute Nacht nicht noch die andere Scheibe einschmeißen?"
"Ich lass mir was einfallen. Keine Sorge, ich kümmere mich schon um dieses Gesocks."
"Harald, bitte. Du kannst da doch auch nichts machen."
Harald lächelt, als er die fünfzig Cent für die Zeitung auf die Theke legt.
"Wart ab", sagt er.
Harald stellt die Gewürzmühle in die Spüle und bindet sich das nasse Geschirrhandtuch vor den Mund. Kurz überlegt er, wie viel Milligramm man für einen Menschen braucht. Er überschlägt die tödliche Dosis für eine fünfundsiebzig Kilogramm schwere Ratte und verdoppelt den benötigten Wert, um sicher zu gehen. Schließlich bekommt er Zweifel an seiner Rechnung und kippt die ganze Packung Rattengift in den Trichter der Gewürzmühle.
Anfangs lässt sich die Kurbel kaum bewegen, erst nachdem die Stahlwalze die ersten Kügelchen zermalmt hat, geht es leichter und immer mehr blauer Staub rieselt in die Auffangschale.
In dieser Nacht kommt der Bahnhof nicht zur Ruhe. Es ist Donnerstag, das Wochenende nicht mehr weit und die Haltestellen voller junger Leute. In kleinen Gruppen stehen sie beisammen und warten auf den Nachtbus. Der Alkohol macht ihre Stimmen laut und schrill.
Wahrscheinlich wollen sie in Richtung Innenstadt oder Reeperbahn, denkt Harald und lauscht weiter den Gesprächsfetzen, die der Wind herüberträgt.
Ein Klappern reißt ihn aus seinen Gedanken und kurz darauf biegt ein völlig überladener Einkaufswagen um die Ecke.
Der Mann in dem fleckigen Mantel ist groß – mindestens einsneunzig, denkt Harald -, trotzdem verschwindet er fast hinter dem Berg aus Kleidungsstücken, Pappkartons und Altglas. Er hält an, um einige Bierflaschen aufzulesen, das Klappern verstummt und Harald löst sich aus dem Schatten des Kaufhauseinganges.
"Was die Leute alles liegen lassen. Haben einfach zu viel Geld", sagt Harald und betrachtet das aufgequollene Gesicht.
"Finde ich sehr lobenswert, dass Sie den Bahnhof sauber halten", fährt er fort. "Während des Streiks habe ich hier auch Müll gesammelt. Irgendjemand muss ja für Ordnung sorgen, oder?"
"Was willst du?", nuschelt der Mann, ohne aufzusehen, und seine Alkoholfahne schwängert die klare Nachtluft.
"Nichts, nichts", sagt Harald. "Ich wollte Ihnen nur dafür danken, dass Sie mich so tatkräftig unterstützen."
Er holt die Whiskeyflasche aus seiner Innentasche.
"Was willst du?", fragt der Mann wieder und dieses Mal bleibt sein glasiger Blick an der Whiskeyflasche kleben.
"Nur ein bisschen reden und einen Schluck von diesem guten Tropfen genießen. Allein trinken bringt schließlich Unglück."
"Bist so 'n Perverser, ne? Aber ich mach so was nicht."
"Was?" Harald versteht die Frage nicht sofort. "Was glaubst du eigentlich ...?" Er schüttelt den Kopf, schluckt mühsam seine Wut hinunter. "Nein, nein, so was will ich nicht", murmelt er und versucht wieder zu lächeln. "Komm, mein Freund, wir trinken einen zusammen."
Langsam geht Harald zu der Seitenstraße. Kurz bleibt er stehen, wartet und schwenkt die Whiskeyflasche.
Der Penner schaut ihm nach, unschlüssig, dann siegt die Sucht über das Misstrauen.
"Ja, lass den Einkaufswagen ruhig stehen. Den klaut schon keiner", ruft Harald und der Penner trottet ihm hinterher, die blutunterlaufenen Augen starr auf die Flasche gerichtet.
"Komm, da vorne bei der Einfahrt. Da kann man gut sitzen."
Einige unsichere Schritte später stehen die beiden in dem Schatten der Kaufhauseinfahrt.
"Hier mein Freund. Jetzt trink erst einmal einen ordentlichen Schluck. Hast es dir verdient", sagt Harald und sein Blick verfolgt den auf und ab hüpfenden Kehlkopf des Penners. "Ja, trink ruhig. Ist ja genug da."
Harald setzt sich auf einen Treppenabsatz und eine halbe Flasche Whiskey später hockt sich der Penner neben ihn. Apathisch glotzt der Obdachlose in die Dunkelheit. Ab und an nimmt er einen langen Schluck, dazwischen stammelt er Zusammenhangloses.
Die Zeit vergeht und gerade als Harald den Entschluss fasst, zu gehen, zersplittert die Whiskeyflasche auf den Pflastersteinen. Erschrocken schaut er zur Seite. Der Penner krümmt sich, schaukelt grunzend hin und her. Plötzlich fällt er vornüber, rollt durch die Scherben, zappelt mit Armen und Beinen wie ein Marienkäfer, der auf dem Rücken liegt, windet sich in der Whiskeylache, bis irgendwann die Krämpfe wieder aufhören. Und der Körper ganz ruhig wird.
Auf dem Rückweg fragt Harald sich, ob in diesem Winter wohl schon viele Obdachlose erfroren sind.
Zu Hause sitzt er noch lange am Küchentisch und liest die Zeitung vom Vortag. Er ist zu aufgeregt, um schlafen zu gehen.
"Was hast du getan?" Marthas Stimme zittert.
"Was?"
"Ich habe gesehen, wie die Polizei den Mann gefunden hat. Heute Morgen, als ich die Zeitungen reingeholt habe. Erst dachten sie, er sei nur betrunken, aber dann ..." Martha stockt. "Harald, was hast du getan?"
"Aber das war doch nur so 'n Penner", sagt Harald und die gute Laune, mit der er aufgewacht ist, verschwindet in Marthas leerem Blick.
"Du hast einen Menschen umgebracht, Harald. Einen Menschen!"
"Ja, aber ..."
"Du musst zur Polizei gehen."
"Zur Polizei?"
"Du musst dich stellen. Du brauchst Hilfe. Bitte geh jetzt, Harald."
"Martha, ich wollte dir doch nur helfen. Ich dachte ..."
"Du bist krank", sagt Martha, während ihre Tränen auf den Tresen fallen.
Die ersten Tage wartet Harald noch auf die Polizei. Stundenlang sitzt er am Fenster und starrt auf die Straße. Aber die Polizei kommt nicht und am Morgen des fünften Tags gibt Harald die Hoffung auf. Er steht auf, duscht und zieht sich an.
Es ist noch früh, die Straßen noch leer. Ziellos schleicht Harald durch den Stadtteil, biegt mal links, mal rechts ab. Gelegentlich glaubt er, verfolgt zu werden, und bleibt stehen. Doch niemand packt ihn und das Gefühl verschwindet.
Immer wieder führen seine Füße ihn am Bahnhofskiosk vorbei. Anfangs wagt Harald nur einen flüchtigen Blick.
Martha steht hinter der Theke wie jeden Tag. Sie sieht müde aus, ihre Wangen sind blass und eingefallen.
Bei der vierten oder fünften Runde nimmt Harald seinen ganzen Mut zusammen und betritt den Laden.
"Wie geht 's dir?", fragt er, weil er nicht weiß, wie er anfangen soll. "Ich habe die letzten Tage viel nachgedacht und ... Vielleicht hast du Recht. Das war wirklich nicht so eine gute Idee mit dem Penner. Tut mir leid, okay? Martha, hörst du mir zu?"
Marthas Schultern verkrampfen sich, sie schluchzt. Ihr Blick irrt umher wie ein gehetztes Tier.
"Martha, was hast du denn?"
"Bitte geh ..." Fast lautlos formen ihre Lippen die Worte.
"Aber ...", beginnt Harald, doch dann sieht Martha ihn an und er erkennt die Angst in ihren Augen. Die Angst vor ihm.
"Entschuldige", murmelt Harald und geht.
Das Blut rauscht in seinen Ohren, als Harald mit der Rolltreppe nach oben fährt.
In der Ferne kommt gerade die S-Bahn aus der Kurve. Langsam wird das rote Rechteck der Lok größer.
Harald stellt sich an die Bahnsteigkante. Stück für Stück schieben sich seine Füße über den Rand. Die Schienen fangen an zu vibrieren. Harald schließt die Augen. Für einen kurzen Augenblick denkt er daran, dass seinetwegen bestimmt viele Menschen zu spät zur Arbeit kommen werden. Er erstarrt, nur für eine Sekunde, dann spürt er die S-Bahn an ihm vorbeirauschen und der Fahrtwind wirft ihn zurück.
Die Türen öffnen sich, Menschen steigen ein und aus. Harald spürt ihre Blicke, hört, wie ihn jemand als verrückten Idioten bezeichnet. Als der Bahnsteig leerer wird, hilft ein junges Mädchen ihm aufzustehen.
"Sie haben was?", fragt der junge Polizist und sieht Harald fassungslos an.
Harald stützt sich auf den Tresen und versucht, wieder zu Luft zu kommen. Er ist den ganzen Weg zum Polizeirevier gelaufen.
"Ich habe drei Menschen umgebracht", wiederholt er nach einer kurzen Pause. "1970 einen jungen Studenten auf einer Protestkundgebung, einen polnischen Schwarzarbeiter mit dem Vornamen Pawel im Jahr zweiundachtzig und vor sechs Tagen einen Obdachlosen vorne beim Bahnhof."
"Soll das ein Witz sein?", fragt der Polizist.
Harald schüttelt den Kopf.
"Dann kommen Sie mal bitte mit."
Harald erzählt seine Geschichte ein zweites und ein drittes Mal. Die Polizisten hören zu und stellen Fragen. Dumme Fragen, aber Harald antwortet, berichtet so detailliert, wie es ihm möglich ist, doch an manches erinnert er sich einfach nicht mehr. Erst nachdem einer der Polizisten mehrere Telefonate geführt hat, glauben sie Harald.
"Die Kollegen von der Kripo kommen gleich. Denen können Sie dann noch mal alles ganz genau erzählen", sagt der eine.
Harald lächelt und nickt. Es tut gut, darüber zu reden.
Eine Zeit lang ist es ruhig in dem kleinen, fensterlosen Raum.
"Warum haben Sie diese Menschen eigentlich umgebracht?", fragt ein anderer schließlich in die Stille.
"Warum?" Harald ist erstaunt. "Das liegt doch auf der Hand: Diese Leute waren schädlich für die Gesellschaft. Sie schadeten dem Allgemeinwohl. Ich denke, dass jeder anständige Bürger die Pflicht hat, gegen solche Leute vorzugehen. Vor allem, wenn dem Staat die Hände gebunden sind."