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Zu spät?

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02.02.2005
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Zu spät?

Die Rathausuhr schlägt zwölf. Ich bin spät dran. Der Schulunterricht von Laura endet in fünfzehn Minuten. Schnell werfe ich die Akten und Stifte in die Schreibtischschublade, schließe sie ab, reiße meinen Sakko vom Kleiderhaken, dass dieser droht umzufallen, und eile aus dem Büro.
Heute habe ich mir extra frei genommen. Es soll Lauras Tag werden. Sie hat sich ein Essen beim Italiener und anschließend einen Nachmittag im Zoo gewünscht.
Während ich die Treppe hinunterlaufe, muss ich daran denken, wie verächtlich ihr Bruder reagiert hat, als sie sich für einen Besuch im Tierpark entschieden hat.
„Mit mir nicht! Das ist doch Kinderkram. Mich seht ihr erst wieder bei der Grillparty am Abend.“

Am Gang versucht mich ein Kollege mit einer Frage aufzuhalten, doch ich kann ihn abwimmeln und haste zu meinem Wagen, der auf dem Parkplatz in der prallen Sonne steht.
Noch zehn Minuten bis Schulschluss. Gerade heute darf ich auf keinen Fall zu spät kommen. Das würde Laura mir nie verzeihen.
Beim Öffnen der Autotür schlägt mir ein Schwall heißer Luft entgegen. Doch es bleibt keine Zeit, um ausgiebig zu lüften. Meine Jacke landet mit Schwung auf dem Beifahrersitz und ich quetsche mich hinter das Lenkrad des Kleinwagens. Seit meiner Scheidung vor fast einem Jahr fresse ich alles in mich hinein, nicht nur den Kummer, sondern auch Schokolade, Chips und andere Dickmacher. Laura neckt mich fast täglich wegen meiner ständig wachsenden Körperfülle.
Laura. Ob ich es noch schaffen werde? Ein Blick auf meine Armbanduhr, noch sieben Minuten. Ich starte das Auto, rangiere hinaus und drücke aufs Gas. Aber wie soll es anders sein? Jede Ampel schaltet auf „Rot“!

Wie schön ist es früher gewesen, als ich zusammen mit Ruth unsere Tochter von der Schule abgeholt habe. Es ist auch immer auf dem letzten Drücker gewesen. Doch jedes Mal haben wir pünktlich zum Unterrichtsschluss vor dem Eingang gestanden.

„Mensch, jetzt fahr endlich.“ Ich hupe meinem Vordermann, der nicht in die Gänge kommt. Warum soll es heute nicht klappen, nur weil ich dieses Jahr Laura allein abholen muss?

Noch drei Minuten. Da vorne sehe ich bereits das Türmchen der Grundschule zwischen den Bäumen der Allee hindurch schimmert. Nur noch einen Parkplatz finden. Natürlich ist vor dem Tor schon alles besetzt. Ich versuche es auf der anderen Straßenseite. Zum Glück fährt ein Geländewagen aus einer Parklücke. Blinker setzen und hinein.
Erleichtert drehe ich den Schlüssel herum und atme auf. Die Glocke zum Schulschluss ertönt. Geschafft!
Ich steige aus und sehe, wie Laura aus dem Eingang herausläuft. Sie blickt sich suchend um. Dann hat sie mich entdeckt und winkt mir fröhlich zu. Ihr Pferdeschwanz, der heute mit einem roten Band umwickelt ist, wippt auf und ab, als sie vom Schulhof rennt.
‚Aber das kann doch nicht sein! Das ist unmöglich! Laura, mein Kleines! Was machst du da!’, möchte ich ihr zurufen.
Ich mache einen Schritt auf meine Tochter zu, will ihr zeigen, dass sie in Gefahr ist.
Noch einen Schritt. Ich öffne den Mund, will rufen, schreien. Doch kein Ton dringt heraus. Meine Augen weiten sich vor Schreck.
‚Laura, bleib stehen!’ Aber ich bleibe stumm.
Meine Tochter läuft weiter, überquert das Trottoir, setzte einen Fuß auf die Straße, winkt mit beiden Armen. Ich kann das Strahlen in ihren Augen erkennen. Die Vorfreude auf den Tag steht ihr im Gesicht geschrieben.
„Nein!“, rufe ich endlich. Zu spät. Das Motorrad rast auf meine Kleine zu. Das Lächeln auf ihren Wangen erlischt und Entsetzen, blanke Angst macht sich breit, als sie die Gefahr erkennt. Sie schafft es nicht mehr, auf den Bürgersteig zurückzulaufen.

Alles spielt sich in Sekundenschnelle ab, doch mir kommt es wie Minuten vor. Ich bin wie gelähmt und starre auf das unbewegliche Bündel, das wenige Meter vor mir auf der Straße liegt.

 

HI!

Wow, eine echt tragische Geschichte, aber gut gemacht. Erst hetzt du den Leser mit dem prot durch den Verkehr und den blitzschnellen Unfall beschreibst du ausführlich, guter Kontrast.
Länge und Stil stimmen auch, passt also alles.

MFG Steeerie

 

Hallo Bambu,

als erstes musste ich über den Artikel von Sakko stutzen. Wie Wiki erklärt, lagst du aber richtig:

Sakko ist männlich, außer in Bayern, Österreich und fachsprachlich: dort heißt es das Sakko.
Wieso ich (als Westfälin) die Fachsprache drauf habe, weiß ich auch nicht. ;

Als zweites: ich war zunächst auf dem falschen Dampfer. Als Sakko-Trägerin (Das/Der Sakko ... ist ein wichtiges Bekleidungsstück der Herrenoberbekleidung in westlichen Ländern ... Das Obengenannte gilt natürlich auch für die Damenmode und die Jacke des Hosenanzugs.) bin ich zunächst von einer berufstätigen Frau ausgegangen, die sich abmüht, Kinder und Job unter einen Hut zu bringen. Ticke ich nur so, oder war das vllt beabsichtigt? Zweifel kamen auf, weil sie sonst das Kind zusammen mit ihrer Freundin ...:Pfeif: - okay, es macht mehr Sinn, wenn dér Erzähler der Vater und Ruth seine Ex ist.

Diesen Druck, pünktlich sein zu wollen, hast du sehr schön beschrieben. Eigentlich hätte mir die Geschichte ohne den Unfall besser gefallen; z.B. hatte ich damit gerechnet, dass Laura ihn kaum wahrnimmt, weil sie gerade mit ihrer Freundin/ einem Jungen quatscht.

Aber wie soll es anders sein?

Da vorne sehe ich bereits das Türmchen der Grundschule zwischen den Bäumen der Allee hindurch schimmern.
Stimmungsvoll.

Ich mache einen Schritt auf meine Tochter zu, will [ich] zeigen, dass sie in Gefahr ist.

Meine Tochter läuft weiter, überquert das Trottoir, setzte einen Fuß auf die Straße, winkt mit beiden Armen.
Sagt man das bei euch so? Hier ist es ungewöhnlich, Bürgersteig wäre meine Wahl. ;)

Gruß, Elisha

 

Hi bambu,
Deine Geschichte hat mich ziemlich erschüttert. Du schaffst es, mit dem ersten Abschnitt eine Spannung aufzubauen, die sich bei dem Wort "Scheidung" bei mir mit einem "Na klar, typisch" vorerst verflüchtigen wollte, aber aufgrund der Geschwindigkeit gar nicht dazu kam.

Die Sache mit dem Unfall ... da hast Du definitiv einen wunden Punkt getroffen. Welche Eltern haben keine Angst vor so einer Situation? Und wer würde sich hier als Erwachsener nicht hinterher auch noch die Schuld geben ...

Ich sah meine Tochter schon vor mir.

Gratulation, weckt auf alle Fälle Gefühle.
Liebe Grüße
Tamlin

 

Holla Bambu,

einmal andersherum. :) Diese Stelle fand ich persönlich am Wenigsten gelungen:

Sollte ihr Geburtstag auch ihr Todestag werden?

Das klingt wie der Schlusssatz einer Soap. Werden Klara und Klaus das Glück finden? Abgesehen davon halte ich für extrem unrealistisch, dass einem ein solcher Satz durch den Kopf geht, wenn man mitansehen muss, wie die eigene Tochter überfahren wird.

Insgesamt trifft die Geschichte - ehrlich gesagt - nicht ganz meinen Geschmack. Du beschreibst eine Situation, in der ein - geschiedener - Mann versucht, rechtzeitig bei der Schule seiner Tochter zu sein. Das hat du auch gut hinbekomemn. Die Hektik ist spürbar und kommt bei mir an.
Und dann passiert der Unfall - sozusagen als schockierendes Finale. Für mich besteht kein unbedingter Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen und so habe ich den Eindruck, dass du bewusst schockieren möchtest.

Ich persönlich hätte hier anders angesetzt bzw. das Ganze noch weiter ausgeführt. Zum Beispiel wäre es möglich gewesen zu schreiben, wie die Eltern nach dem Unfall (oder sogar Tod) mit der Situation umgehen. Wie sie es aufarbeiten etc. - es gibt viele Möglichkeiten. Deine Geschichte hört aber für meinen Geschmack an der "interessanten" Stelle auf.

Dass soll aber kein 100%-Verriss sein, den es gibt auch Dinge, die ich loben kann. Wie ich weiter oben schon erwähnte, ist es dir gut gelungen die Hektik dieser Situation einzufangen. Du schaffst es außerdem, die Spannung bis zum Ende aufrecht zu erhalten.

Gruß, Fleur

 

Hallo zusammen,

das ging aber schnell mit eurer Reaktion, zumal ich mich ja in letzter Zeit vor allem in der Rubrik "Alltag" etwas rar gemacht habe.
Freut mich, dass euch die Geschichte gefallen hat. Es war eine Hausaufgabe, die uns unser Dozent im VHS-Kurs "Schreibwerkstatt" gestellt hat. Es sollte eine Situation beschrieben werden, in der die Beziehung zwischen einem geschiedenen Vater zu seinem Kind dargestellt wird.

@Steeerie
Ich bin froh, dass ich den Leser mit dem Verlauf der Geschichte in Atem halten konnte. Das war auch meine Absicht. Auch dass die Proportionen des Textes stimmen freut mich sehr.

@ Elisha
Tut mir Leid, dass dir einige Ausdrücke nicht so bekannt waren. Dass Sakko eine Herrenjacke ist, dachte ich ist jedem klar. Auch der Ausdruck Trottoir ist bei uns gängig. Vielleicht liegt es daran, da sich hier früher die Niederländer-Wallonen niedergelassen haben und somit einige französischen Begriffe hängen geblieben sind.
Schade, dass ich nicht ganz so deinen vermuteten Inhalt betroffen habe.
Die von dir entdeckten Fehlerteufel werde ich noch ausbessern. Vielen Dank fürs Finden.

@ Tamlin
Auch dir herzlichen Dank für dein großes Lob. Ist doch schön, wenn die Geschichte Gefühle weckt und der Leser mitgehen kann.

@ Fleur
Ja, der Schlusssatz, das ist so eine Sache. Ich hatte ihn anfangs weggelassen. Vielleicht sollte ich ihn wirklich wieder streichen. Eigentlich war es mehr meine Absicht, den Leser etwas atemlos zu machen und am Ende durch den offenen Schluss zum Nachdenken zu bringen. Das was du schilderst, wären dann Gedanken, die sich der Leser im Nachhinein selbst machen kann. Das war eigentlich meine Absicht.

Vielen Dank nochmal euch allen fürs Lesen und Kommentieren.

Viele Grüße
bambu

 

Hallo bambu,

habe deine Geschichte jetzt noch mal gelesen und bin froh, dass du den letzten Satz gestrichen hast. :)
Du hast nun die Möglichkeit offen gelassen, dass Laura überleben könnte. Damit fällt mir ein Stein vom Herzen. Bin immer so geschockt, wenn ich so etwas lese oder höre.

Du hast hier eine gute nachvollziehbare Situation beschrieben und das Bestreben des Vaters pünktlich zu sein, kommt sehr gut an, ebenso die Hektik.
Ich würde, im Gegensatz zu Fleur, in diesem Teil nichts verändern, das vermasselt bloß den Kern der Sache und reißt ihn in Stücke. Wie die Eltern reagieren, so könnte die Geschichte weiter gehen, aber nicht mitten hinein.
Wie es ist, ist es gut :)

Liebe Grüße
Goldis

 

Hallo Goldis,

auch dir vielen Dank für dein Lob. Es ist schon einige Zeit her, dass ich eine Alltagsgeschichte geschrieben habe. Daher freue ich mich umso mehr, dass sie so gut angekommen ist.
Ja, durch das Streichen des letzten Satzes lässt die Geschichte dem Leser noch ein bisschen mehr Freiraum für seine Fantasie, die Handlung fortzusetzen.

Viele Grüße
bambu

 

Hallo bambu,

die Hektik hast du gut eingefangen und ich las die letzten Sätze atemlos mit.

Wie schön ist es früher gewesen, als ich zusammen mit Ruth unsere Tochter von der Schule abgeholt habe. Es ist auch immer auf dem letzten Drücker gewesen. Doch jedes Mal haben wir pünktlich zum Unterrichtsschluss vor dem Eingang gestanden.
Da wird nicht klar, wie du das meinst. Immer, wenn sie Geburtstag hatte oder sogar täglich? Beides ist nicht ganz stimmig, denn Laura ist ja noch Grundschülerin, dann kann das ja noch kein großes Ritual sein (immer letzter Drücker, doch jedes Mal), falls sich das auf die Geburtstage bezieht.

Die andere Möglichkeit, dass das Kind jeden Tag abgeholt wird, ist ja auch unrealistisch.

Der letzte Satz gefällt mir nicht so besonders, ich fände noch ein Hoffnungsgedanke passend, zB ein Gedanke/Flehen an ihren Schutzengel. So ist es sehr abrupt. Vom Aufbau und der Struktur her hat sie mir gut gefallen.

Lieber Gruß
bernadette

 

Hallo bernadette,

freut mich, dass ich dich mit der Geschichte bis zum Schluss in Atem gehalten habe.
Ich muss ehrlich sein, dass ich das mit dem Geburtstag eigentlich zunächst offen lassen wollte, denn die Geschichte hat sich erst während des Schreibens entwickelt. Das Ende kam dann einfach so. Daher könnte ich auch jetzt den Hinweis mit dem Geburtstagsritual einfügen. Ich wusste beim Schreiben ja noch nicht, ob ich daraus vielleicht eine Pointe machen könnte.
Vorher hatte ich am Ende noch den Satz angefügt "Sollte ihr Geburtstag auch ihr Todestag werden?". Da war dann die Anmerkung vom Geburtstag drinnen. Doch dieser Satz hat anderen, aber auch mir selbst zum Schluss nicht so richtig gefallen. Daher fiel er dem Rotstift zum Opfer und der Hinweis auf den Geburtstag war auch rausgestrichen.

Das Ende habe ich extra offen gelassen, damit der Leser ein bisschen Fantasie entwickeln kann. Ich habe für mich zwar ein Ende geschrieben, aber es absichtlich weggelassen. Übrigens, wenn es dich interessiert, es ist gut ausgegangen.

Vielen Dank fürs Lesen, dein Lob und deine Anmerkungen.

Viele Grüße
bambu

 

Hallo bambu,

du schreibst:

Übrigens, wenn es dich interessiert, es ist gut ausgegangen.
ups ... jetzt hat es gescheppert und mir ist ein Stein vom Herzen gefallen. :)

Viele Grüße
Goldis

 

Fleur schrieb:
Insgesamt trifft die Geschichte - ehrlich gesagt - nicht ganz meinen Geschmack. Du beschreibst eine Situation, in der ein - geschiedener - Mann versucht, rechtzeitig bei der Schule seiner Tochter zu sein. Das hat du auch gut hinbekomemn. Die Hektik ist spürbar und kommt bei mir an.
Und dann passiert der Unfall - sozusagen als schockierendes Finale. Für mich besteht kein unbedingter Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen und so habe ich den Eindruck, dass du bewusst schockieren möchtest.

Ich verstehe nicht ganz, welchen Zusammenhang du noch suchst.
Gerade weil er sich beeilt hat und pünktlich war, ist seine Tochter gestorben.
Wäre er, wie so oft, zu spät gekommen, wäre sie nicht in diesem Moment über die Straße gerannt.
Ich glaube wenn er bewusst schockieren wollen würde, hätte er keine Hektik aufkommen lassen, sondern die heile schöne Welt beschrieben. Da wäre der Kontrast doch größer.

 

Hi bambu

Auch mir hat die Geschichte wirklich gut gefallen.

Letztens saß ich im Bus und sah die ganzen Autos die so auf den Straßen rasten und ich fragte mich, warum die Menschen immer so hektisch sind und ihr Leben so schnell hinter sich haben wollen. Also warum nicht langsam angehen? Am Ende stirbt jeder von uns. Früher oder später.

Cu J:baddevil:

 

Hallo butterflybutcher,
hallo JoBlack87,

freut mich, dass euch meine Geschichte gefallen hat.

@ Butterflybutcher
Erst durch deine Bemerkung, dass die Tochter den Unfall ja nur erlitten hat, weil der Vater pünktlich war, das ist mir erst jetzt richtig bewusst geworden, nachdem ich es in deinem Kommentar gelesen habe.

@ JoBlack87
Ist da jemand so pessimistisch? Gestorben werde muss immer, der eine früher, der andere später. Ich hoffe aber, dass wir alle noch ein paar Jährchen haben, in denen wir andere Hobby-Autoren mit unseren Geschichten erfreuen oder auch nerven können.*smile*

@ alle
Die Geschichte nimmt in meinen Gedanken übrigens ein gutes Ende. Das Mädchen wird zwar schwer verletzt ins Krankenhaus gefahren, überlebt aber. Nur so eine Bemerkung nebenbei. Aber da ich das Ende ja offen gelassen habe, kann sich das Ende jeder Leser selbst aussuchen.

Viele Grüße
bambu

 

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