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Zu spät?
Die Rathausuhr schlägt zwölf. Ich bin spät dran. Der Schulunterricht von Laura endet in fünfzehn Minuten. Schnell werfe ich die Akten und Stifte in die Schreibtischschublade, schließe sie ab, reiße meinen Sakko vom Kleiderhaken, dass dieser droht umzufallen, und eile aus dem Büro.
Heute habe ich mir extra frei genommen. Es soll Lauras Tag werden. Sie hat sich ein Essen beim Italiener und anschließend einen Nachmittag im Zoo gewünscht.
Während ich die Treppe hinunterlaufe, muss ich daran denken, wie verächtlich ihr Bruder reagiert hat, als sie sich für einen Besuch im Tierpark entschieden hat.
„Mit mir nicht! Das ist doch Kinderkram. Mich seht ihr erst wieder bei der Grillparty am Abend.“
Am Gang versucht mich ein Kollege mit einer Frage aufzuhalten, doch ich kann ihn abwimmeln und haste zu meinem Wagen, der auf dem Parkplatz in der prallen Sonne steht.
Noch zehn Minuten bis Schulschluss. Gerade heute darf ich auf keinen Fall zu spät kommen. Das würde Laura mir nie verzeihen.
Beim Öffnen der Autotür schlägt mir ein Schwall heißer Luft entgegen. Doch es bleibt keine Zeit, um ausgiebig zu lüften. Meine Jacke landet mit Schwung auf dem Beifahrersitz und ich quetsche mich hinter das Lenkrad des Kleinwagens. Seit meiner Scheidung vor fast einem Jahr fresse ich alles in mich hinein, nicht nur den Kummer, sondern auch Schokolade, Chips und andere Dickmacher. Laura neckt mich fast täglich wegen meiner ständig wachsenden Körperfülle.
Laura. Ob ich es noch schaffen werde? Ein Blick auf meine Armbanduhr, noch sieben Minuten. Ich starte das Auto, rangiere hinaus und drücke aufs Gas. Aber wie soll es anders sein? Jede Ampel schaltet auf „Rot“!
Wie schön ist es früher gewesen, als ich zusammen mit Ruth unsere Tochter von der Schule abgeholt habe. Es ist auch immer auf dem letzten Drücker gewesen. Doch jedes Mal haben wir pünktlich zum Unterrichtsschluss vor dem Eingang gestanden.
„Mensch, jetzt fahr endlich.“ Ich hupe meinem Vordermann, der nicht in die Gänge kommt. Warum soll es heute nicht klappen, nur weil ich dieses Jahr Laura allein abholen muss?
Noch drei Minuten. Da vorne sehe ich bereits das Türmchen der Grundschule zwischen den Bäumen der Allee hindurch schimmert. Nur noch einen Parkplatz finden. Natürlich ist vor dem Tor schon alles besetzt. Ich versuche es auf der anderen Straßenseite. Zum Glück fährt ein Geländewagen aus einer Parklücke. Blinker setzen und hinein.
Erleichtert drehe ich den Schlüssel herum und atme auf. Die Glocke zum Schulschluss ertönt. Geschafft!
Ich steige aus und sehe, wie Laura aus dem Eingang herausläuft. Sie blickt sich suchend um. Dann hat sie mich entdeckt und winkt mir fröhlich zu. Ihr Pferdeschwanz, der heute mit einem roten Band umwickelt ist, wippt auf und ab, als sie vom Schulhof rennt.
‚Aber das kann doch nicht sein! Das ist unmöglich! Laura, mein Kleines! Was machst du da!’, möchte ich ihr zurufen.
Ich mache einen Schritt auf meine Tochter zu, will ihr zeigen, dass sie in Gefahr ist.
Noch einen Schritt. Ich öffne den Mund, will rufen, schreien. Doch kein Ton dringt heraus. Meine Augen weiten sich vor Schreck.
‚Laura, bleib stehen!’ Aber ich bleibe stumm.
Meine Tochter läuft weiter, überquert das Trottoir, setzte einen Fuß auf die Straße, winkt mit beiden Armen. Ich kann das Strahlen in ihren Augen erkennen. Die Vorfreude auf den Tag steht ihr im Gesicht geschrieben.
„Nein!“, rufe ich endlich. Zu spät. Das Motorrad rast auf meine Kleine zu. Das Lächeln auf ihren Wangen erlischt und Entsetzen, blanke Angst macht sich breit, als sie die Gefahr erkennt. Sie schafft es nicht mehr, auf den Bürgersteig zurückzulaufen.
Alles spielt sich in Sekundenschnelle ab, doch mir kommt es wie Minuten vor. Ich bin wie gelähmt und starre auf das unbewegliche Bündel, das wenige Meter vor mir auf der Straße liegt.