Was ist neu

Zufall im Winter

Mitglied
Beitritt
07.05.2004
Beiträge
3

Zufall im Winter

Zufall im Winter

Es war kalt draußen.
Gelangweilt verfolgte er das Fernsehprogramm und konnte sich wieder nicht aufraffen das Haus zu verlassen und im Fitnessstudio seines Vertrauens ein paar Hanteln zu schwingen.
Wozu? Um ein paar Frauenaugen zu imponieren? Es ist doch Winter, die sehen das doch sowieso jetzt nicht, dachte er so bei sich. Eigentlich habe ich doch ganz andere Sorgen und Sport ist echt das geringste Problem, überlegte er weiter.
Seine Sorgen waren existentieller Natur. Der Vermieter hatte ihn gebeten, schnellstmöglich seinen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, ansonsten sei auch mal Schluss, Ende Gelände, wie der Mann sagte. Man könne nicht jeden Monat seinen Zahlungen hinterher betteln, man habe ja noch andere Sorgen.
Sorgen! Jeder schien sich heutzutage mit irgendwelchen Sorgen zu umplagen. Selbst der wohlhabende Vermieter von unzähligen Immobilien schien kein sorgenfreies Leben zu führen…
Was hatte eigentlich zu der finanziellen Misere geführt? War es der Studienabbruch nach Semester Nummer 16 ohne die Zwischenprüfung bestanden zu haben, somit nichts Zählbares in den Händen zu halten? „Es ist eben nicht jeder für strukturiertes Arbeiten und einem geplanten Tagesablauf gemacht“, so die Mutter. Tja, hatte sie mal wieder recht gehabt.
Nein, der Studienabbruch war es nicht. Das war die richtige Entscheidung. Mit BWL Absolventen konnte man doch sowieso die Straßen pflastern. Im oberen Notenbereich wäre man auch nicht gelandet, also Zeit gespart. Aber Zeit wofür? Jetzt mit knapp 30 noch eine Ausbildung anzufangen macht keinen Sinn mehr. Tagelöhner! Eine zeitlang hatte er sich mit Ahnenforschung abgelenkt und war dabei auf seinen Urgroßvater Egon gestoßen. Tagelöhner stand dort in altdeutschen Lettern als Berufsbezeichnung. Tagelöhner gehen nur sporadisch arbeiten und entsprechend unregelmäßig sind die Einkünfte. Genau sein Metier. Abends mal in der Diskothek den Türsteher für 8 EUR die Stunde mimen oder mal als Thekenkraft im Laden aushelfen. Wenn es mal eine gute Woche war, dann gab es ein Dorffest mit einem großen Zelt. Dort waren so genannte „Securitys“ mit dicken Armen und bösem Blick gefragt. Ein erträgliches Einkommen, welches einem neben der täglichen Mahlzeit noch die Möglichkeit zum Konsum von Luxusgütern ermöglichen würde… auf diese Weise? Ausgeschlossen! Perspektivloses in den Tage hinein leben. Das war es, was ihm in den Sinn kam.
„Das mache ich nicht mehr mit! Es muss sich etwas ändern“, schrie er und trommelte mit den Fäusten auf den hölzernen Wohnzimmertisch. In Gedanken an die Ahnenforschung und möglichen Suchergebnisse seiner Enkel zu seiner Person griff er zum Telefon und überlegte schnell, wen er anrufen könnte. Freunde hatte er kaum. Die wenigen Bekanntschaften, die er in seiner Schulzeit oder Studienzeit aufgebaut hatte, wollten nichts mit ihm zu tun haben. Er war einfach zu launenhaft. Oft war er manisch erregt durch Banalitäten. Ein netter Frauenhintern in einem kurzen Rock oder eine kleine ungewollte Slapstick-Einlage im Tagesgeschehen konnten ihn minutenlang freudig erregen. Er lachte dabei immer so laut auf, dass man nicht mit ihm assoziiert sein wollte. Man hätte meinen können, dass er früh des Tages eine Droge konsumiert hatte. Seine Freunde? Das waren ebenso bemitleidenswerte Kreaturen, die ohne Arbeiten zu gehen in den Tag hineinschlummerten. Er betrachtete sie daher auch mehr als flüchtige Bekanntschaften und entschied für sich, das Telefon wieder zurückzulegen. Stattdessen stand er von seiner Couch auf, lief in die Küche und durchleuchtete den Bestand des Kühlschranks. Nicht viel zu holen, dachte er. Muss ich also doch noch raus, nach draußen, in die Kälte, zwei Kilometer bis zum nächsten Supermarkt. Er besaß selbstverständlich kein Auto, wovon hätte er das auch bezahlen können?
Die letzten Einnahmen aus seiner Türstehertätigkeit in der Tasche, Fahrrad geschnappt und los ging die wilde Fahrt. Mit seinem massigen Körper auf seinem kleinen BMX-Rad, den wehenden Haaren und dem dunklen Schal um den Hals wirkte er immer ein wenig wie eine Witzfigur aus einem Comic. Schnell fuhr er durch die beißende Kälte, sein Thermometer hatte eine Temperatur von -3 Grad Celsius angegeben. Wer gerne ChickenWings, Nacho Chips und etwas Auflage in seinem Haushalt haben mochte, der müsste auch etwas dafür tun, machte er sich Mut. Plötzlich fuhr ein weiteres Rad aus einer Einfahrt, genau vor seinen Vorderreifen. Die Bremsen an seinem Rad waren nicht sonderlich gut, er konnte dem anderen Radfahrer nicht mehr ausweichen und rappelte daher scheppernd mit diesem Zusammen. Beide Fahrer lagen am Boden und mussten sich zunächst wieder schwerfällig vom leicht vereisten Boden erheben. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er. „Ja, ja, passt schon. Alles heil geblieben…“, erwiderte die andere Person mit einer zarten Stimme während sie sich langsam aufstützte und versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Unter der Stoffmütze hatte er von seiner Sicht aus ein männliches Wesen vermutet, aber die Stimme war so sanft und weich, dass es unmöglich ein Mann sein konnte. Wäre ich mal doch noch in die Muckibude gefahren, dachte er so bei sich. „Kann ich Ihnen helfen?“, sagte er. „Nee, alles gut, mir ist nichts passiert, es tut mir leid, dass ich Sie übersehen habe. Aber ich habe es sehr eilig.“ Sie stellte sich mit einem Handschütteln als Steffi vor. Offensichtlich hatte sie es so eilig dann doch nicht, sonst hätte sie sich nicht weiter mit ihm unterhalten, schloss er. In wenigen Minuten würde der Supermarkt schließen, somit war nun von seiner Seite aus Eile geboten, aber es ergab sich, dass die nette Dame ihn auf einen kleinen Snack einlud. Ihre vorherige Verabredung sagte Sie unter einem Vorwand per SMS ab. Moderne Technik, dachte er sich. Sein Handy war aus dem letzten Jahrtausend und wog soviel wie eine Telefonzelle. Es war immer eine peinliche Nummer, wenn er seinen Apparat aus der Tasche zauberte. Ihr Gerät war mit Touchscreen gesegnet und schien einer anderen Generation anzugehören. Fröhlich gingen die beiden durch die Kälte, das Rad in einer Hand schiebend nebeneinander. Bei ihr angekommen stellte sich heraus, dass Steffi denselben Nachnamen wie sein Vermieter trug. „Wintermann“. Ach Du Schande, da war wieder sein zentrales Problem. Keine Kohle, Disco ist auch erst am Samstag wieder, was tun? Verdrängen. Das konnte er doch so gut, also rein in die gute Stube. Jacke auf den Haken, Hemdchen zurechtgerückt und es sich auf dem Küchenstuhl bequem gemacht.
„Schön hast Du es hier“, murmelte er, während er sich in der Küche umsah. Sehr modern, im IKEA-Stil eingerichtet konnte man es hier wohl aushalten. Seine zwei Zimmer waren mehr im Jugendstil, bzw. im Jungenstil der Spätpubertät eingerichtet. Sie erzählte, dass sie 28 Jahre alt wäre, hier schon länger wohnen würde und ein sehr gutes Verhältnis zu ihren Eltern hatte.
Er fand heraus, dass Ihr Vater tatsächlich sein Vermieter war und berichtete ihr dann von seinen Sorgen.
Manchmal ist der Zufall schuld, dass man wieder in die richtige Spur gerät. Das Mädchen bot ihm eine Stelle im Büro ihres Vaters an, so dass er ein geregeltes Einkommen erzielen könnte. Nichts großes, ein kleiner Posten, aber so dass er sogar noch seine Studienkenntnisse würde nutzen können. Sie war im elterlichen Betrieb die Personalchefin und konnte somit über Einstellungen entscheiden.
Von nun an ging es dem Tagelöhner deutlich besser, er hatte eine Perspektive und konnte wieder einen Sinn in seinem Leben erkennen. Nach sechs Monaten in der neuen Position hatte er gezeigt, dass er ein Händchen für Immobilien hatte und sah seiner ersten Beförderung in den Außendienst bei Verdopplung seines Gehaltes entgegen.

 

Hallo Lagerblom,
Die Beschreibung des Zustandes des Prot finde ich gut. Der Zufall ist vielleicht ein bischen an den Haaren herbeigezogen ( dazu neige ich auch, merke es aber nur bei anderen). Das Ende waere gut fuer ein Maerchen.
Viele Gruesse///Onivido

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom