Zugfahrt
Alles zieht vorüber. Ein sich ständig änderndes Bild, ein unendliches langes Panorama-Bild, das am Fenster vorbei gezogen wird. Bäume, Flüsse, Wiesen, Felder, alles bedeckt von glitzerndem Schnee. Die Sonne lächelt herab, lässt den Schnee funkeln, erhellt beides, die Landschaft und meine Gemüt. Ich verliere mich in den vorbeirauschenden Bildern, dem gleichmäßigem Surren des Zuges. Wie eine Raupe, eine sehr große, sehr schwere und überaus schnelle Raupe krabbelt er über die Schienen. Schwer atmend, ächzend, und doch beruhigend.
Ja, alles zieht vorbei. Das Leben. Ehe man sich versieht, ist schon wieder ein Moment verstrichen. Warum nach Glück streben? Es ist doch ein nur Gefühl, und Gefühle währen immer nur für Momente. Wenn man es näher betrachtet, ergibt es eigentlich keinen Sinn, und dennoch, alle Momente ziehen vorüber wie die Schäfchenwolken am Himmel. Welchen Wert hat nun das Glück, wenn es einen doch wieder verlässt, dich aus dem warmen Bett der Geborgenheit reißt, dich unter die kalte Dusche stellt und mahnt: Dies ist die Realität! Oder ist es die Erinnerung an den Moment des Glücks, die Unbeschwertheit, Freiheit? Ist sie es, die das Glück so wertvoll macht? Oder ist Glück ein universelles Prinzip, etwas, das wir gar nicht in seiner ganzen Pracht erfassen sondern nur entfernt erahnen können? Ein großes Fest in einem schillernden Saal, Tanz, die leckersten Speisen und Getränke, Frohsinn, wohin man auch sieht. Und wir, nun, wir dürfen dann und wann für eine Sekunde durchs Schlüsselloch spähen.
„Ihre Fahrkarte, bitte!“, höre ich eine Stimme mit Nachdruck sagen. Sie klingt entnervt, vom Leben enttäuschtt, resigniert...
„Fräulein, es gibt noch mehr Züge, die heute kontrolliert werden wollen. Haben sie keine Fahrkarte, oder was? Hören Sie mich überhaupt?“
Oh, ja, Realität. Der schweinsgesichtige Kontrolleur starrt mich an, mit Augen, aus denen mir die pure Lebensunlust entgegenspringt. Sie sehen aus wie Rosinen, die man ein Stück zu tief in das Gesicht eines Stutenkerls gedrückt hat. Langsam komme ich wieder in der Realität an. Richtig, Zug, im Zug sind Kontrolleure. Kontrolleure wollen Fahrkarten sehen. Welch unnütze Lebensaufgabe. Plötzlich verstehe ich die griesgrämige Haltung des armen Kerls. Nun weiter. Fahrkarte ist in Portemonnaie, ist in Handtasche... arbeitet sich mein Hirn langsam vor. Handtasche... wo ist meine Handtasche?! Wie von der Tarantula gestochen springe ich auf, stoße mir den Kopf an der Taschenablage, welcher Idiot hat das Innenleben dieses Zuges gestaltet, schreie kurz auf und bin nun endgültig wach. Von allen Seiten schauen interessierte Gesichter zu mir herüber, doch ich scheine ihre Sensationsgier nicht ausreichend zu befriedigen und fessele so die allgemeine Aufmerksamkeit nur kurz. Die einzige Quelle der Aufmerksamkeit, derer ich mir nach wie vor sicher bin, stellt der nun nashornähnlich schnaubende Kontrolleur neben mir dar. Okay, Handtasche also. Zwischen meinen Füßen. Ja, da steht sie, unschuldig wie ein Lammfell, das verdammte Ding. Immer noch leicht irritiert fange ich an, im Dschungel meiner Tasche herumzuwühlen. Das Tolle an großen Taschen ist, dass man eine schier unvorstellbare Menge von Dingen, von großer bis kaum existenter Nützlichkeit, in ihren Tiefen verschwinden lassen kann. Das Problem besteht darin, sie wieder an die Oberfläche zu befördern. Gefunden! Mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen halte ich dem Kontrolleur meinen Fahrausweis hin. Er reißt ihn mir ungeduldig aus der Hand, betrachtet missmutig das kleine Plastikkärtchen. Seine Miene verrät, dass er wohl die Hoffnung gehegt hatte, mich als kleinkriminelle Falschfahrerin zu entlarven. Hoffnung enttäuscht. Mit atemberaubender Lieblosigkeit drückt er mir die Fahrkarte in die Hand und stapft ohne ein weiteres Wort davon.
Ich sinke wieder in meinen Sitz. Wie ein Stück Stoff, dass man aufspannt und dann in sich zusammenfallen lässt. Ein Baum zieht am Fenster vorbei.