Zugriff an der Friedhofsmauer
"Kannst du was erkennen?", fragte Jörg Winterbach seinen Kollegen, der auf seinen Schultern balancierte.
"Da flackert was", antwortete Eberhard Burmeister. Er klammerte sich an der Fensterbank im ersten Stock fest und lugte über den Rahmen in die Wohnung.
"Könnte das ein Fernseher sein?"
"Schon möglich."
"Hah!" Winterbach versuchte vor Freude zu hüpfen, was den ganzen Aufbau instabil werden ließ. Fluchend rutschte Burmeister ab und hing nun mit seinen ganzen 98 Kilo am Fenstersims.
"Was machst du denn da wieder? Komm' da runter!", sagte Winterbach und blickte sich um. Wenn sie jetzt jemand sah, konnte das zu peinlichen Verwechslungen führen. Erst neulich hatten sie vor einem wütenden Mob fliehen müssen, als sie sich bei einer Observierung auf einem Spielplatz versteckten.
Mit dem Geräusch eines Blasebalgs landete sein Kollege auf dem Boden. Er rieb sich die Hände an seiner Hose.
"Aua, ich hab sie mir aufgeschürft."
"Jammer nicht! Schweine jammern auch nicht. Heute kriegen wir den Kerl am Arsch."
Seit Tagen beobachteten die beiden schon die Wohnung in dem Mietregal am Friedhof.
Der Kerl, der hier wohnte, hatte nichts angemeldet. Trotzdem ging er so gut wie nie aus dem Haus. Nachdem er von der Arbeit kam, verließ er den Bau höchstens mal zum Einkaufen.
Dass der keinen Fernseher hatte, glaubte doch kein Mensch.
"Jetzt greifen wir uns den Schmarotzer!", bestimmte Winterbach.
Burmeister sah seinen Kollegen mit jener Bewunderung an, die diesen zum Anführer ihres Teams gemacht hatte.
"Bist du dir sicher mit ihm?"
"Wer zwei Tage nicht aus dem Haus geht, hat auf jeden Fall einen Fernseher."
Die beiden gingen nun um das Haus herum zur Vorderseite des Bunkers. Nach einer kurzen Kletterpartie über einige unorganisierte Kinderfahrräder standen sie vor dem Eingang.
Winterbach überflog die acht Spalten Klingelknöpfe und drückte dann mit beiden Handflächen auf zwei der Knopfreihen.
Als in dem darauf folgenden Geschnatter der Gegensprechanlage der Türsummer schnarrte, legte er sich mit einem "Hah!" gegen die Milchglastür. Der Trick funktionierte schon seit er die Schule abgebrochen hatte.
Im Haus ging das Licht nicht. Ein faustgroßes Loch zierte die Halbkugel der Treppenbeleuchtung. An der Wand hatten sich ein paar Kinderwagen zusammen gerottet, als heckten sie etwas aus.
"Hier möchte ich nicht hausen", sagte Burmeister.
"Tja, so ist das", dozierte Winterbach, "kein Schulabschluss, kein anständiger Job, dann landet man hier."
Im Halbdunkel stiegen sie dem Licht im ersten Stock entgegen. Die Wohnungstür ihres Verdächtigen befand sich ganz am Ende des Korridors.
In der linken hinteren Ecke.
"Das passt", dachte Winterbach.
Mit angehaltenem Atem legten beide ihre Ohren an die grüne Tür.
"Sind das Stimmen?", fragte Winterbach.
"Weiß nicht."
"Ha! Der hat doch keine Freunde.", jauchzte Winterbach. "Das ist der Fernseher!"
"Psst, sonst hört der uns doch."
"Egal." Der Chef richtete sich zu seinen vollen ein Meter siebzig auf und drückte auf die Klingel. "Zugriff!"
Stumm warteten sie darauf, dass ihnen jemand öffnete, doch nichts geschah.
Winterbach drückte noch einmal auf die Klingel. Von drinnen erklang das schrille Scheppern der Türglocke.
"Der wird schon aufmachen. So leicht wird der uns nicht los."
Er nahm seinen Finger von der Taste.
Als sich schließlich ein Schlurfen der Tür näherte, nickte er seinem Kollegen mit hochgezogenen Brauen zu.
"War doch klar, wenn man energisch auftritt, verraucht jeder Widerstand."
Direkt hinter der Tür verstummte das Schlurfen und die beiden Schergen sahen sich an. Burmeister sah auf seine Armbanduhr.
"Also, eigentlich hatte ich Kati versprochen, heute mal vor Mitternacht zu Hause zu sein."
"Natürlich! Geh ruhig! Am besten lassen wir alle Verbrecher frei rumlaufen, weil du mal früh zu deiner Mami willst."
Winterbach schüttelte den Kopf als wollte er ein lästiges Insekt vertreiben.
"Der steht da drinnen hinter der Tür und belauscht uns, wetten?"
Er schlug mit der Faust mehrmals gegen das grüne Holzimitat.
"Aufmachen, Herr Weber! Wir wissen, dass Sie da sind!"
In der Stille konnten sie deutlich hören, dass jemand in der Wohnung kein Geräusch machte.
Gerade als Winterbach erneut die Hand hob, verkündete ein Knacken, dass die Tür entriegelt wurde. Hatte der Schuldige also doch vor der Rechtsmacht kapituliert.
Reflexartig schnellten die beiden Männer in ihre seit Jahren eingeübte Einschüchterungsformation. Winterbach drückte seine Nase an die Tür und Burmeister mit seiner beeindruckenden Statur positionierte sich direkt dahinter.
Als die Tür schließlich aufging, ließ der Anblick Winterbach fast vergessen, seinen Fuß zwischen Tür und Rahmen zu schieben.
Die Gestalt, die ihnen öffnete, sah dem Mann, den sie die vergangenen Tage beschattet hatten nur entfernt ähnlich.
Das Haar klebte in nassen Strähnen an seinem Kopf. Das Gesicht, das sie aus blutunterlaufenen Augen ansah, erinnerte an einen Klumpen alte Butter. Dazu passte auch der Geruch, der ihnen entgegen wehte. Bekleidet war Herr Weber nur mit einem rosa-weiß-gestreiften, nassen Handtuch, dass er sich um die Hüften gewickelt hatte.
"Guten Tag, Herr Weber", sagte Winterbach, der - ganz Profi - seine Fassung schnell wieder gewonnen hatte. "Mein Name ist Winterbach und dies hier", er deutete mit einem Kopfnicken über die Schulter, "ist mein Kollege Burmeister."
Der nickte kurz und schluckte trocken.
"Wir haben fest gestellt, dass sie keinerlei Rundfunkempfänger angemeldet haben." Winterbach zog seine Mundwinkel ein wenig hoch, was ihn wie einen wahnsinnigen Gartenzwerg aussehen ließ. "Ist Ihnen da vielleicht ein Fehler unterlaufen?"
Weber öffnete einen schmalen Spalt in seinem Teiggesicht.
Und schloss ihn wieder.
Die Kontrolleure sahen ihn mit weit offenen Augen an.
Mit einem Schmatzen öffnete sich der Mund erneut.
"Aaaah", sagte Weber.
Winterbach sah sich kurz nach seinem Helfer um.
"Tja, äh, Sie wissen, dass der Besitz von nicht angemeldeten Rundfunkempfängern ein schweres Vergehen ist", stellte er fest.
Der andere drehte seinen Kopf, so dass er nun direkt durch Winterbach hindurch blickte.
"Aaaaahaah."
"Ja?", fragte der kleine Kontrolleur und zupfte an seinem Kragen. "Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn wir uns kurz mal umsehen, oder?"
"Sie können dann auch gleich wieder in die Wanne", sagte Burmeister.
Als Weber seine Unaufmerksamkeit auf den neuen Redner fixierte, schlüpfte Winterbach an ihm vorbei. Im Flur sah er sich kurz um, drehte sich dann nach rechts und verschwand mit den Worten: "Wohnzimmer? Ah, danke, ich seh schon."
"Aaeeh", machte der Anwohner.
Burmeister versuchte, ihn mit einem Gespräch von der Haussuchung abzulenken.
"Schönes Handtuch."
"Eeeh."
"Teuer?"
"Hhh."
Von diesem Dialog überfordert, wandte sich der nasse Mann ab und wankte dem Eindringling in die Wohnung hinterher.
Kaum hatte er sich abgewendet, folgte ihm Burmeister auch schon auf dem Fuße. Dabei bemerkte er, dass der Hinterkopf des Verdächtigen seltsam eingedellt wirkte. Dazu waren seine Haare von etwas verklebt, dass nach eingetrockneter Tomatensoße aussah.
"Äh, warten Sie doch einen Augenblick", versuchte er ihn in ein Gespräch zu verwickeln, "Sie haben da was am Kopf."
Der Angesprochene ignorierte ihn jedoch weiterhin und schlurfte ins Wohnzimmer, wo Winterbach gerade den 92cm Breitbildfernseher bewunderte. Nie hatten die beiden Ersatzflüssigkeit in derart beeindruckender Größe gesehen.
"Hab ich's mir doch gedacht!", sagte Winterbach. "Wie lange haben sie den denn schon?"
Weber stand nur da und atmete mit offenem Mund.
"Bitte, Sie brauchen gar nichts zu sagen, wir können das ja auch schätzen."
Mit Schwung warf er seine Aktentasche auf den Holzfurniertisch und öffnete sie. Mit der Linken fischte er einen Solartaschenrechner heraus und in der Rechten hielt er plötzlich einen Kuli, mit dem er sogleich auf den Rechner einhämmerte.
"Also, Sie wohnen hier seit dreieinhalb Jahren. Das macht, Moment", der Rechner klapperte, "678 Euro und 30 Cent."
Er zupfte ein Formular aus der Tasche und fing an, darauf herumzukritzeln. Weber stellte sich neben ihn und verfolgte mit den Augen die Bewegungen der Hand auf dem Papier.
Burmeister dachte an seine Katze, die einmal eine Gummiente in der Badewanne genauso betrachtet hatte. Am Ende stürzte sich die Katze auf die Ente und rannte danach wie wahnsinnig klatschnass in der Wohnung herum.
Hier war es ganz ähnlich.
Weber griff, viel schneller als es nach seinem bisherigen Auftreten zu erwarten war, nach dem Stift, riss ihn Winterbach aus der Hand und rammte ihn in dieselbe hinein.
Der Verletzte blickte mit aufgerissenen Augen auf das Ding, das eigentlich auf keinen Fall in seiner Hand stecken sollte. Dann fing er an zu wimmern. Aus dem Wimmern wurde schnell ein Jammern. Daraus entwickelte sich schließlich ein Schrei, der zwar nichts im Vergleich zu einer Luftschutzsirene, für einen Menschen aber recht ordentlich war.
Weber schenkte seine Aufmerksamkeit nun endgültig Winterbach. Mit einer Bewegung, die an ein Marionettentheater erinnerte, hob er seinen rechten Arm und zeigte auf den Schreihals.
"Da!"
Winterbach blickte von seiner Hand auf.
"Da?", fragte er. "Verflucht, dafür wanderst du ein, du kleiner Penner!"
Mit der unversehrten Hand wühlte er in seiner Tasche.
"Pass auf, dass er nicht abhaut!", kommandierte er Burmeister und zog ein Handy hervor.
Der Gewalttäter hatte allerdings gar nicht vor, abzuhauen, denn er packte Winterbach mit beiden Händen am Hals und warf ihn mit seinem Gewicht zu Boden.
Dort verbiss er sich in seine Kehle.
Mit aufgerissenen Augen sah sein Kollege die beiden auf dem Boden herum toben.
"Chef! Was soll ich denn nun machen?"
Winterbach versuchte den Angreifer abzuwerfen, doch wegen des Blutverlustes reichte seine Kraft nur noch für ein Zischen: "Verdammt...".
Burmeister beobachtete fasziniert die letzten Zuckungen seines Kollegen.
Im Fernsehen gab eine Frau mit aufgepumpten Lippen ein Interview. Im Hintergrund steckte jemand seinen Kopf in eine Kloschüssel voller Regenwürmer.
Dazu hörte er Webers Schmatzen.
Er trat einen Schritt zurück, um einem der herumfliegenden Brocken auszuweichen.
Eine Zeit lang beobachtete er noch das bunte Treiben vor dem Wohnzimmertisch, dann schlich er rückwärts zur Tür.
"Ich geh dann jetzt", flüsterte er und drehte sich um.
Nachdem er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss gezogen hatte, ging er, ohne einen Blick zurück zu werfen, davon.
Seine Gedanken kreisten darum, wie er seiner Frau die nasse Hose erklären sollte.
11.11.2004