Zugsfahrten
Zugsfahrten
Erster Anlauf. Man kommt und geht, sehnt sich und erinnert sich, ruht und schafft, sucht und findet, eilt über die Erde hinweg, huscht durch das Leben. Auch ich kaufe ich mir eine Fahrkarte, sitze im Bus, benutze die Strassenbahn, erreiche den Hauptbahnhof, steige in den Zug, dieser fährt ab und ich blicke aus dem Wagenfenster.
Es wird gesucht und gefunden und wieder gesucht und so findet man Leute die man gar nicht aufgesucht hatte.
Zweiter Anlauf. Den gleichen Weg ging ich später nochmals. Diesmal an einem Sommermorgen. Ich war in Eile denn nur noch wenige Minuten verblieben um jenen Zug zu erreichen der mich aus der Stadt transportieren sollte. Mit dem Auslassen von zwei, drei Stufen auf der Rolltreppe kam ich recht in Schwung, doch wurde meinen athletischen Übungen bald Einhalt geboten durch eine schmale, figurenlose Frau mit hauchdünnen ungebügelten Sommerhosen, verziert mit Zebrastreifenmuster. Sie versperrte mir den Weg, ausserdem hing an dieser Person eine voluminöse Sporttasche. Zudem standen weiter oben zwei ältere Herren nebeneinander, die sich sehr wohl als die Einzigen auf dieser öffentlichen Einrichtung fühlten. So stand ich mich geduldig hintenan.
In der mir nun zur Verfügung stehenden Zeit, den Zug hatte ich selbstverständlich verpasst, schlenderte ich durch die Bahnhoftrasse. Es war viertelnach Neun, die Strasse einigermassen leer. Wie klein Zürich doch ist, auch wenn es sich gerne als Großstadt bezeichnet ! Pulsierendes Leben ausserhalb der Ladenöffnungs- und Vergnügungszeiten findet nicht statt. Fast ein wenig Einsamkeit, hier in der teuren Geschäfts- und Bankenstrasse. Denn man ist schon bei der Arbeit beziehungsweise noch nicht beim Einkaufen. Abgesehen von quitschenden Strassenbahnen und daherpolternden Lieferwagen war es weithin ruhig und alles in allem konnte man von kleinstädtischer Gemütlichkeit sprechen. Hingegen wurde bereits Ordnung und Sauberkeit hergestellt: Schaufenster, Trottoirs und die Ladeneingänge wurden geschruppt, da und dort gar etwas eingeschäumt, das Strassencafé-Personal rückte Stühle, Tischchen und Sonnenschirme in Position. Hier ein Briefträger, da ein Lieferant, dort ein Palett mit gehäufter Ware. Von Zeit zu Zeit ein frühaufgestandenes Touristengrüppchen oder ein paar Abgestürzte die da draussen die Nacht durchgebracht hatten. Erst ein rennendes, buntgemischtes, schlechtgelauntes Getümmel wird in etwa einer halben Stunde dieser Idylle jähes ein Ende bereiten.
Dann wurde gefunden und gesucht. Wieder gefunden und ich fuhr doch nicht ab.
Dritter Anlauf. Inzwischen ist es Herbst geworden, da befand ich mich im Eisenbahnwagen und dies geschah:
Es hatte nicht viele Fahrgäste und ich sass fast alleine im Wagen. Solche Stille während Bahnausflügen mag ich. Doch dann der grosse Knall: Ein Grüppchen junger Leute stieg hinzu. So im Berufsschul-Alter. Schon von weitem auf dem Perron liess sich etwas höhren. Nun aber, mit einem Donner wurde die Türe aufgerissen und in Sekundenbruchteilen gehörte die Stille die ich mag der Vergangenheit an. Albernes Gelächter und Gegrunze, äffisches Gezetter und viel Geschrei. Taschen und Mappen wurden so laut es eben nur geht hingeworfen, breitspurig wurden die Plätze eingenommen. So auffallend wie möglich wurden Aschenbecher und die Schiebklappen der Abfallbehälter hin und her gezerrt, ganz cool werden die Zigaretten angezündet, genau so wie man es im Fernsehen gesehen hat. Hui ! Wie richtige Schauspieler ! (Doch sie irren. Sich darstellen ist sich verstellen und sich verstellen ist nicht Darstellen.) Und sie begannen eine Art Unterhaltung mit entsetzlicher Niveaulosigkeit und mikroskopisch kleinem, recht undifferenziertem Wortschatz: „Huere, geil, hueregeil, **** , extrem, Stress, Megastress, Huerestress, **** , saumässig, verreckt, **** , **** “. Je lauter desto inhaltsloser. Manchmal brachten sie eine Art Sprache hervor, doch bald versiegten die Möglichkeiten ihres Ausdrucks und es wurde wieder beim obgenannten Wortschatz Zuflucht gesucht. Die haben aber ein leicht überschaubares Gehirn, dachte ich mir und fand im nächstvorderen Wagen einen ruhigen Platz.
Die Eisenbahn fährt. Regen, Nebel, Langeweile. Grauer Spätherbst. Nasskaltes, garstiges Wetter. Alles was aus dieser vorbeiziehenden Landschaft emporragte war volkommen durchnässt. Sechzig Meter, mehr nicht, darüber Nebel. Er verschluckte das Licht und das wenige das da noch durchkam wurde gestreut und so der ohnehin nichtssagenden Landschaft auch noch die letzten Konturen genommen. Die tiefliegende Nebeldecke nahm den landschaftlichen Dimensionen die Höhe und presste mein Blickfeld auf sechzig Meter zusammen. In wahrhaft unrühmlicher Weise präsentierte sich die sonst so schöne Erde, mit dieser Nässe, mit diesen erdrückend niedrig schwebenden, lichtfressenden und kalte Feuchte pissenden Wolken. Ein vertikal auf sechzig Meter beschränktes Weltbild. Und horizontale Abwechslung ? Viel wurde auch da nicht geboten, denn es war eine Bahnreise im Schweizer Mittelland auf der Linie Zürich - Bern. Einmal fuhr man einige Sekunden einem Bächlein entlang. Es waren dem Gewässer ein paar Kurven hingebaggert und ihm beidseitig ein paar Quadratmeter Schilf zugestanden worden. Das nennt man 'Renaturalisierung'. Hinter dem Schilfgürtel stand ein Graureiher im niedrigen Gras. In starrer Haltung und scheinbar teilnahmslos irgendwo hinblickend. Schnabel, Kopf und Hals zu einem unregelmässigen S gebogen. Etwas breitspurig hatte er seine bräunlichen Stelzen ins Gras gestellt. Nur sein Schnabel hob sich farblich ab vom sonst aschgrauen Körper. Der Nackenschopf war durchnässt und hing auf einer Seite des Halses traurig herunter und so stand er lustlos und offenbar nicht auf Beute lauernd da. Dieses gefiederte Geschöpf konnte zum Mitleid rühren, denn es stand dort als wüsste es nichts rechtes mit diesem verregneten, renaturalisierten Biotop anzufangen.
Ich liess mich in den Sessel zurückfallen, dachte noch eine Weile über diesen Stelzenvogel nach, und begann zu dösen. Der Drang meiner Augen sich schliessen zu wollen ist eine Antwort auf die Monotonie. Vorerst möchte ich nicht. Doch ich gab nach, schlief ein, und liess das Mittelland Mittelland sein. Dafür träumte ich. Da geschah eigentlich auch nichts - trotzdem - es soll der...
...vierte Anlauf sein: Wo war ich ? Draussen, auf der Strasse, irgendwo im Mittelalter. Ich marschierte los und gelangte in ein enges, kaltes, schmutziges Quartier. Da waren keine Bakterien und keine gefährliche Strahlung, keine Grenz- und Mittel- und Sollwerte. Es fehlten die optimale Vekehrsführung und städtebauliche Akzente und vergebens suchte man die Fussgänger- und Fahrradzone. Dafür westen überall Teufel, Geister und Dämonen. Die Gassen füllten sich nach und nach mit Menschen. Schweine, Ziegen, Hunde, Gänse und Hühner mischten sich darunter. Die Leute benahmen sich in diesem Gewirr recht ungeniert und ich erblickte zwielichtiges Gesindel, allerlei loses Volk und unnütze Kreaturen. Dubios, senil, burlesk und grotesk. Obskure kleine Knaben, kopftuchtragende Frauen mit Rossgebiss, herumlungernde Weiber von zweifelhaftem Ruf, dickhäutige Haudegen, schreiende Marktfrauen, barfüssige Bettelmönche und andere undisziplinierte Gestalten von mittelmässig bis dürftig. Ich gelangte in eine Bibliothek und las die Titel der Bücher. Eins nach dem anderen, dann plötzlich den Titel ‘Orpheus im Butterfass’, ich atmete süsslicher Duft, und polterte dahin, mir wurde es blau, dann rot und schwarz. Ein ätzendes Gift lief über meinen Rücken. Betonierte Schwärze windete sich an mir vorüber. Vernebelung der Gegenwart, meine Sinne wurden zerstückelt, ein dumpfes Brausen und als der Zug an die Oberfläche gelangte, blendete mich das Sonnenlicht und ich wachte auf.
Letzter Anlauf. Langsam nähert die Eisenbahn sich dem Hauptbahnhof Berns. An Wänden von Gebäuden und Stützmauern und auf speziell dafür vorgesehenen Flächen erblickte ich Werbeplakate, war nun ganz wach, und las: Es waren erdrückende und für selbstständiges Denken keinen Freiraum lassende ‘Texte’, Figuren, Symbole und Farben. Kurze, schrille, arrogante und aufdringliche Zurufe die zum Kaufen auffordern. Verstümmelte Sprache und Satz-Torsos in mächtigen Buchstaben, die uns einprägsam über die Notwendigkeit allerlei Unnützlichkeiten aufklären. Reklame, die die letzten Reste des Geistes und der Freiheit aus uns heraus saugt. Attentate auf die Denkfreiheit. Viele kleine bunte Sächelchen über welche man glauben muss sie haben zu müssen. Gelbe Autöchen, grüne Aufputschsprudelwässerchen, rosarote Kondömchen. Schnickschnack, Krimskrams und Alfanzereien. Firlefanz und Flitter, Tand und Plunder.