Zukunft
Da kommen die Boote geflogen, die mit den schwarzen Segeln
und den unsichtbaren Kriegern, deren Pfeile vergiftet sind
Der Kurs ist abgesteckt und so geheim wie ein Plan Gottes
Die Landungsbrücken befinden sich versteckt hinter Ideologien
und Gebräuchen, versteckt unter dem verrotteten Turban
der Erkenntnis unter dem der Wahnsinn quälend juckt
Das Fadenkreuz gut ausgerichtet und die Fassaden im Visier
werden unsere Träume zum Einsturz gebracht und begraben
Klick!
Abrupt hält er inne. Er weiß, was dieses Geräusch bedeutet. Die Nackenhaare stellen sich ihm auf. Er bleibt stehen, wo er steht. Bewegungslos. Erstarrt.
Will es nicht glauben.
Will es nicht gehört haben.
Will nicht da sein, wo er jetzt ist.
Will an jedem Ort der Welt sein, nur nicht hier.
Will nicht der sein, der er ist.
Will nur einen einzigen Schritt seines bisherigen Lebens, den Letzten nämlich, rückgängig machen können. Doch das ist unmöglich.
Die Abenddämmerung, das Singen der Vögel, das Summen der Insekten, der laue Sommerwind und auch das Plätschern des Baches unten am Ende des Feldes verhöhnen ihn. Die Welt verhöhnt ihn. Er fröstelt. Trotz der Temperaturen fröstelt er. Da ist plötzlich ein kleines Stück Eis in der Mitte seines Herzens. Bei solchen Temperaturen fröstelt man normalerweise nicht. Normalerweise.
Klick, hat es gemacht.
Er blickt hinunter auf seinen Schuh. Bloß nicht bewegen. Wie lächerlich. Er hat es eilig und darf sich nicht bewegen. Er kichert vor lauter Verlegenheit.
Er hat schon einmal gekichert vor lauter Verlegenheit. Damals in der Schule, als er die Hausaufgaben vergessen hatte. Die Angst vor der Strenge des Lehrers hatte dazu geführt, dass er sich einnässte. Der Hausmeister drückte ihm eine verschlissene, graue Herrenunterhose in die Hand. Die sollte er anziehen. Doch er ekelte sich vor diesem grauen Ding so sehr, dass er es kurz entschlossen die Toilette hinunterspülte. Woraufhin der Abfluss verstopfte, und die Waschräume unter Wasser gesetzt wurden. Mit einem eisernen Haken fischte der Hausmeister schließlich die eigene Unterhose aus der Kanalisation.
Der Junge hatte sich stundenlang hinter einem Brombeerstrauch versteckt. Als er entdeckt wurde, kicherte er vor lauter Verlegenheit.
Wie damals ist er ist jetzt vor sich selbst verlegen. Er hat einen Fehler gemacht. Einen unverzeihlichen. Dafür schämt er sich. Und er wundert sich darüber, dass er kichern und nicht weinen muss. Kichern passt nicht zu dieser Situation. Weinen wäre angebrachter. Warum weine ich nicht, denkt er. Es sieht und hört mich doch niemand.
Vielleicht weint er gerade deshalb nicht, gerade weil ihn niemand sieht oder hört. Und vielleicht bleibt die aufsteigende Angst auf halbem Wege stecken, weil er das kleine Stück Eis in der Mitte seines Herzens nicht herausweinen kann.
Dabei hatte er eigentlich alles richtig gemacht in seinem Leben. Die Ausbildung bei der Armee. Die Fußballkarriere. Er hatte es, nicht zuletzt wegen seiner Sprungkraft, zum besten Torhüter der Regionalliga gebracht. Fußball. Später der Heiratsantrag, den er Sophie in dem kleinen Restaurant machte, das sie so liebte. Und als die Nachricht kam, dass er Vater werden würde war sein Glück perfekt. Seine Eltern waren stolz auf ihn, seine Geschwister auch, sogar Sophies Eltern waren stolz auf ihn und Sophie natürlich und ein bisschen war er auch stolz auf sich. Und nun das.
Klick!
Noch immer hallte dieses Geräusch in seinem Kopf nach. Er hätte es wissen müssen, hätte nicht die Abkürzung über die Felder nehmen dürfen, hätte auf seine Freunde hören müssen mit denen er bei Stella in der Kneipe seinen vierundzwanzigsten Geburtstag feierte.
Geh nur, hatte Sophie gesagt und gelächelt. Es ist dein Geburtstag, wir warten hier auf dich, hatte sie gesagt und war mit ihren Händen über ihren prallen Bauch gefahren. Sie hatte ihn gehen lassen. Dafür liebte er sie. Dann hatte er mit den Freunden gefeiert. In der Kneipe bei Stella. Sie hatten Bier getrunken und gelacht. Stundenlang. Bis das Telefon klingelte. Das Baby kommt hatte Sophie gesagt. Ist das nicht witzig? Es kommt zu früh. Ausgerechnet an deinem Geburtstag. Ja, das ist witzig, hatte er gesagt, war sofort aufgebrochen und hatte, wider aller Vernunft, die Abkürzung über die Felder genommen. Obwohl alle gesagt hatten, mach keinen Scheiß, lauf bloß nicht über die Felder, war er über die Felder gelaufen. Und obwohl Stella gesagt hatte, pass auf dich auf, hatte er nicht aufgepasst und diesen Fehler begangen. Diesen dummen Fehler. Man läuft nicht über die Felder. Das wissen selbst die Kinder. Die Mütter bläuen es ihnen ein. Wenn es sein muss mit Schlägen. Denn die Nerven liegen blank bei den Müttern, wenn die Kinder aus ihrem Gesichtsfeld verschwinden und sich den Feldern nähern.
Klick!
Jetzt steht er hier auf diesem Feld. Allein. Unter seinem Fuß das Unvermeidliche. Er kichert nicht mehr. Jetzt ist er schlauer. Jetzt ist ja auch hinterher. Und hinterher ist man immer schlauer, nur ist hinterher auch oft zu spät. Das weiß er. Das hat er gelernt als Soldat. Er hatte Kameraden verloren, die unachtsam gewesen waren. Einen Moment nur unachtsam gewesen waren. Und schon war es zu spät gewesen. Schon war hinterher.
Die Zukunft wird klein, denkt er. Sie schrumpft, weil er es eilig gehabt hatte, weil er Bier getrunken hatte, weil er so schnell wie möglich zu Sophie gewollt hatte, die nichts weiß von seiner Dummheit, seinem Unglück. Ihrem Unglück. Ich bin gleich bei dir hatte er gesagt. Und nun steht er hier und denkt, die Zukunft wird klein. Und er spürt, dass das kleine Stück Eis in der Mitte seines Herzens nun zu schmelzen beginnt und den Weg frei macht für die Angst
Wenn er Glück hat, handelt es sich nicht um eine Splittermine. Wenn er Glück hat, befindet sich da unter seinem Fuß nur eine kleine Sprengmine. In dem Fall bliebe er am Leben. Wenn er Glück hat, wird er nur ein Bein verlieren. Wenn er großes Glück hat, werden das Knie und die Genitalien verschont bleiben. Er weiß, dass sich die Stoßwellen der Mine mit einer Geschwindigkeit von 6800 Metern pro Sekunde ausbreiten, weil er sich Zahlen merken kann.
Er schaut an sich herab. Noch ist er ein gesunder kräftiger Mann unversehrt an Leib und Seele. Doch das wird sich ändern, denn er muss handeln. Er muss nach Haus. Zu Sophie und dem Kind. Er wird Glück haben. Sie werden die Explosion hören. Den Müttern wird ein Schreck in die Glieder fahren und sie werden tausend Tode sterben. Aber man wird ihn finden. Er wird es schaffen – irgendwie. Er zieht Jacke und Hemd aus, wickelt den Stoff um die Beine. Noch einmal schaut er sich auf dem Feld um. Die Dämmerung hat inzwischen die Farbe aus der Landschaft radiert und die angrenzenden Baumwipfel in Zuschauerränge verwandelt. Die Angst schnürt ihm die Kehle zu. Er bemerkt nicht dass er sich einnässt, während links und rechts von ihm die Pfosten eines Fußballtores aus dem Boden wachsen. Elfmeter. Wegen der Tränen sieht er den Stürmer verschwommen Anlauf nehmen, ahnt, dass es die linke untere Ecke sein wird und setzt auf seine Sprungkraft. Zum letzten Mal.
Die Zukunft ist klein.