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Zwänge
Zwänge
Der heißeste Tag des Jahres. Ein digitales Thermometer, irgendwo in den Weiten der Stadt, zeigt 36 Grad Celsius an.
Auf den Straße ein einsamer Radfahrer. Ich. Tom. Alle paar hundert Meter drehe ich mich nach hinten, um zu kontrollieren, dass ich niemanden überfahren habe. Jedes Mal, wenn ich auf dem Fahrrad sitze überkommt mich dieser quälende Zwang. Es begann vor einem Jahr. Ich habe Angst davor, einen Menschen zu übersehen. Und diese Angst hat in meinem Körper ein Nest gebaut. Ich versuche mich dem zu widersetzten. Will einfach weiterfahren. Doch dann kommt diese Blockade in meinem Kopf und in meinen Beinen. Ich muss umkehren zu der Stelle, an der mein imaginärer Unfall stattgefunden hat. Aber dort ist nichts. Kein Mensch, der blutüberströmt am Boden liegt und verzweifelt vor Schmerzen schreit (wenn er überhaupt noch unter den Leben weilt) oder mich mit großen wütenden Augen ansieht, weil ich ihn nur touchiert habe. Fünf Minuten für einen Kilometer. Der Schweiß läuft in Bächen an meinem Gesicht herunter. Ich verlasse die aufgeheizte Innenstadt, die in der Nachmittagshitze vor sich hindöst. Die Luft ist zum Schneiden dick. Dreimal habe ich mich bisher umgedreht. Den Lenker habe ich fest umklammert, damit ich jede Erschütterung sofort spüre. Ich quäle mich dadurch. Ich kann nicht anders. Ich muss es tun.
Vorsichtig biege ich auf eine breite Straße ein, die in Mitte durch einen schmalen, erhöhten Grünstreifen mit Sträuchern und dünnen Ulmen getrennt wird. Am Rand, im Schatten majestätisch gewachsener, in der Sonne sattgrün leuchtender Kastanienbäume, verläuft die Fahrradspur. Sie ist leer. Zwei Autos überholen mich. Keine Toten oder Verletzten. Niemand da, den ich überfahren könnte und trotzdem drehe ich mich immer wieder nach hinten. Eine Bodenwelle sorgt für eine Erschütterung, die mein Kopf sofort als mysteriös einstuft. Ich drehe mich um. Aber es war wieder nur falscher Alarm.
Ich biege in eine kleine Seitenstraße ein, nicht weit von meinem zuhause. Drehe mich wieder um. Mein Nacken tut weh. Gähnende Leere. Diese Straße ist wie ausgestorben. Die Häuser werfen dunklen Schatten auf den Asphalt. Ich halte mich in der Mitte der Fahrbahn, wo das Sonnelicht hinfällt und ich sicher sein kann, alles zu sehen, was vor mir geschieht. Weiter oben kommt eine kleine Kreuzung. Mit gleichmäßigen Beinbewegungen trete ich auf sie zu. Angespannt blicke ich starr geradeaus. Die kleine Kreuzung. Unendlich fern und doch höchstens zweihundert Meter weit weg. Ruhig trete ich in die Pedale. Je näher ich komme, desto langsamer werde ich. Mit zehn Stundenkilometer schleiche ich mich an. Dann bin ich da. Bremse bis zum Stillstand ab und kontrolliere, ob niemand von rechts kommt, dem ich Vorfahrt gewähren müsste. Keiner kommt. Erleichterung. Ich trete wieder in die Pedale. Ein paar hundert Meter, dann habe ich den Weg für heute geschafft, dann ist es für heute überstanden. Feierabend. Noch einmal den Kopf nach hintern drehen. Ein dumpfer Stoß am Vorderrad. Ich spüre, wie ich den Lenker aus den Händen verliere und falle. Von der Seite erklingt ein weiblicher Schrei. Dann der Aufprall auf dem harten Asphalt. Zweimal. Zuerst metallisch, dann dumpf. Am Boden liegend halte ich für ein paar Sekunden inne. Sekunden, in denen ich in den Himmel blinzele und mir den Schweiß aus dem Gesicht wische und ich denke, diesmal ist es also passiert.
Ich liege mitten auf einer Kreuzung im verkehrsberuhigten Bereich. Über mir die pralle Sonne. Links neben mir liegt mein Fahrrad. Meine Hüfte tut weh und mein rechter Ellbogen blutet. Aber ich kann mich noch bewegen. Vorsichtig richte ich mich auf. Das Fahrrad ist, nach einer ersten oberflächlichen Prüfung meiner Augen, von ein paar Kratzern abgesehen in Ordnung. Irgendwo in meiner Näher höre ich ein leises Stöhnen. Der Geruch von Sonnencreme und Chlor steigt mir in die Nase.
Als ich mich nach rechts drehe, blicke ich in zwei sagenhaft tiefblaue Augen, die mich erschrocken ansehen. Zu meiner Erleichterung stahlen sie Leben aus. Sie gehören zu einem Gesicht mit gleichmäßigen Zügen, vollen Wangen, zierlicher Nase und blassroten Lippen. Verschreckt streicht sie sich eine Strähne ihres feuchten, welligen, schwarzen Haares aus dem Gesicht und atmet dabei hörbar aus.
Ich betrachte mir fasziniert den Rest dieses leicht verwundeten, sonst aber makellosen, zierlichen Körper. Ihr knielanger, luftiger, weißer Rock ist an einer Stelle gerissen. An Armen und Beinen hat sie kleine Schürfwunden, aus denen Blut auf den Asphalt tropft. Auf ihrer feuchten, gebräunten Haut kleben kleine, schwarze Asphaltpartikel. Ihr rosafarbenes Spaghetti-Top ist bis zum Bauchnabel hoch gerutscht. Dort, wo der Stoff ihre kleinen Brüste überspannt, zeichnen sich feuchte, ungleichmäßige Flecken ab. Neben ihr liegt eine rosafarbene Badetasche, aus der ein weißes Tuch herausquillt.
Seufzend betrachtet sie ihren blessierten Körper. „Du spinnst wohl, mich umzufahren“, sagt sie verärgert. Der Klang ihrer Stimme ist angenehm weich. „Tut mir leid, … aber ich habe dich nicht gesehen“, stammele ich.
Ich helfe ihr beim Aufstehen. Sie streicht sich ihren Rock glatt und begutachtet dabei zerknirscht die eingerissene Stelle. Dann sieht sie auf ihre Armbanduhr und sagt: „Scheiße! Ich verpasse meinen Zug.“ Ich erwarte, dass sie losläuft. Doch sie bleibt bei mir stehen.
„Bist du sehr verletzt?“, frage ich sie. Sie schüttelt den Kopf und deutet auf ihre Wunden. „Das ist noch mal gut gegangen. Und wie sieht’s bei dir aus.“ „Alles okay!“, sage ich und wische mir mit einem Taschentuch das Blut vom Ellbogen. „Ich kann noch alles bewegen“, sage ich und schüttele, um dies zu demonstrieren, meinen Körper. Ich frage sie nach ihrem Namen. „Lena“, sagt sie, „und du“ „Tom“, sage ich. Sie fängt an zu lächeln und wischt sich die Asphaltkörner von ihren Armen und Beinen.
„Soll ich dich zum Arzt bringen? Ein paar Straßen weiter ist eine Praxis“, frage ich sie.
Sie schüttelt den Kopf: „Lass mal, dass kostet nur wieder 10 Euro und so schlimm ist es nicht. Ich werde es wohl überleben.“
„Aber du blutest“. Ich schaue mit besorgten Augen hinunter auf ihre Beine, an denen immer noch kleine Blutstropfen hinabrollen. „Ist doch kein Wunder, wenn man über den Haufen gefahren wird.“ „Es tut mir leid“, sage ich. Sie winkt ab.
Aus der Hosentasche ziehe ich ein Papiertaschentuch hervor und gebe es ihr. Sie beseitigt ein paar rötliche Spuren. Mit einem weiteren Taschentuch versucht sie eine Blutung am rechten Bein zu stillen. Ich hebe ihre Badetasche vom Boden auf und überlege, was ich in dieser Situation am Besten tun sollte.
Die Sonne knallt mit voller Wucht auf uns drauf. Es ist unerträglich heiß. Unsere Stirnen sind mit Schweißperlen bedeckt. „Ich wohne hier in der Nähe“, sage ich schließlich, „vielleicht willst du mitkommen. Ich habe Verbandszeug und du kannst dir die Wunden auswaschen.“. Sie verzieht ihr Gesicht zu einem gequält aussehendem Grinsen. „Ist das deine Art, Frauen abzuschleppen?“, fragt sie. „Nicht wirklich“, antworte ich und muss lachen. Sie besieht sich wieder ihre Wunde. Der Blutlauf ist fast verebbt. Dann sagt sie, dass es okay wäre, wenn sie mitkommen dürfe. Der Zug sei sowieso weg. Ich spüre, wie mein Herz Sprünge macht. Aus Dankbarkeit für ihre Zusage, ziehe ich noch ein Taschentuch für sie hervor. Dann gehen wir.
Auch beim Gehen drehe ich mich mehrmals um, um zu sehen, ob ich keinen angerempelt habe, was Lena nicht entgeht. „Warum drehst du dich andauernd um?“, fragt sie. Hastig suche ich im Kopf nach einer Antwort. „Ich dachte, … da wäre was“, sage ich verlegen, weil mir nichts Besseres einfällt. Lena lächelt. „Was soll da sein?“, fragt sie und dreht sich um, „ Die Straße ist doch leer.“ „Ja, natürlich!“, sage ich. „Ich dacht nur, dass da was wäre.“ „Du hast dich eben auch umgedreht, als du mit deinem Fahrrad ankamst“, sagt sie und grinst vor sich hin. „Ich wollte noch rufen. Aber es war schon zu spät.“
Ich schmecke den salzigen Schweiß auf meinen Lippen und beschließe das Thema zu wechseln. Mir fällt aber nichts ein, über was ich mit Lena reden könnte, außer vielleicht über das Hitzewetter. Ich entschuldige mich noch einmal dafür, dass ich sie umgenietet habe. „Ist ja noch mal gut gegangen“, sagt sie. Ich frage sie, was sie am diesem Tag auf die Straße treibt. Sie erzählt dass sie vom Freibad kommt, dass sehr voll war. „Man konnte sich da fast nicht bewegen. Ich kam mir vor wie eine Sardine in der Büchse. Und überall diese langen Schlangen. Sogar vor den Umkleidekabinen. Ich hatte keinen Bock zu warten. Deshalb habe ich jetzt immer noch meine nassen Badesachen an.“, erzählt sie. Interessiert höre ich ihr zu und vergesse mich umzudrehen. Schon alleine, weil ich immer wieder zu ihr hin schaue muss, um ihre Schönheit zu bewundern während ich gleichzeitig dieses Gemisch aus Schweiß, Sonnencreme und Chlor einatme. Den Rest des Weges legen wir schweigend zurück.
Ein paar Minuten später stehen wir vor einem weißen Einfamilienhaus. Wir gehen durch den gepflegten Vorgarten auf die dunkle Haustüre zu. Ich stelle mein Fahrrad ab, hole meinen Schlüssel aus der Hosentasche und schließe die Haustür auf. Eine bedrückende Kälte empfängt uns. Niemand ist da. Die Jalousien sind alle halb herunter gelassen, so dass es im Haus dämmrig wirkt. Wie immer ist alles tadellos in Ordnung. Alles hat hier gefälligst sauber und ordentlich zu sein. Nicht einmal die Möbel dürfen einen Millimeter verrückt werden. Der Ordnungsfanatismus meiner Mutter. Sie ist Psychologin. Ich führe Lena ins Dachgeschoss und zeige ihr das Badezimmer. „Hier kannst du dich waschen und umziehen. Und da vorne“, ich deute auf eine Tür am Ende des Flures, „ist mein Zimmer. Du hast doch sicher Durst?“. Sie nickt freundlich und verschwindet mit ihrer Tasche im Badezimmer.
Ich gehe wieder runter. Gehe in die Küche, wo ich mir mehrmals die Hände sowie den lädierten Ellbogen wasche, bis beide glühen und ich der Meinung bin, sämtliche Bakterien von ihnen verbannt zu haben. Ich schnappe mir ein rundes Tablett, auf das ich Mineralwasser, Apfelsaft aus dem Kühlschrank und zwei Gläser stelle. Versehentlich schmeiße ich eine Rolle Küchekrepp auf der Anrichte um. Ich stelle sie mit auf Tablett, um sie nicht noch mehr zu beleidigen. Mir kommt die Idee, eine Flasche Wein aus dem Keller zu holen. Doch mir fallen die vielen elektrischen Lichtern da unten ein, die ich hinterher doch nur tausendmal kontrollieren muss, ob ich sie ausgeschaltet habe. Das alles würde zuviel Zeit kosten. Wertvolle Zeit, solange Lena da ist. Dank meines Missgeschicks, hat sie den Zug verpasst. Der nächste kommt schon bald und bis zu diesem dreckigen Vorstadtbahnhof sind es immerhin ein paar Schritte. Ich muss rauf zu Lena und darf die Zeit nicht einfach verstreichen lassen. Ich beschließe auf den Wein zu verzichten.
Bevor ich die Küche verlassen, sagt mir ein Gefühl, dass ich mir nochmals die Hände waschen muss. Noch einmal lasse ich den Strahl kalten Leitungswassers auf meine Hände platschen. Dann nehme ich das Tablett und gehe in den Flur, wo mir die geschlossene Haustüre in die Augen fällt. Ich frage mich, ob sie wirklich zu ist. Kontrolle. Zeitverschwendung, aber was nützt es? Ich muss es tun. Auch, wenn ich es nicht will. Mit der einen Hand balanciere ich das Tablett, mit der anderen ziehe ich an der silberfarbenen Türklinke. Ich bin es gewohnt, dass etwa die Hälfte meines Lebens daraus besteht, Tatsachen, die ich klar vor Augen habe, zu überprüfen. Ich habe Angst davor, einen Fehler zu begehen oder jemanden zu enttäuschen oder zu verletzten. Die Haustüre ist verschlossen, wie eben, als ich sie hinter Lena und mir zugemacht habe.
Der nächste Versuch, die Treppe hochzugehen. Ich halte inne, weil mir die Kühlschranktür einfällt, die noch offen stehen könnte. Auch die Küche muss ich kontrollieren, ob ich sie sauber hinterlassen habe. Ich stelle das Tablett auf einer Treppenstufe ab, prüfe, ob es sicher steht schiebe dabei die Gläser und die Getränke näher zueinander, weil es ordentlicher aussieht. Währenddessen höre ich, wie Lena im Badezimmer Wasser laufen lässt. Ich stelle mir vor, wie sie jetzt gerade nackt im Badezimmer herumläuft. Ich merke, wie die Zeit läuft und werde hektisch.
Die Küche blitzt mir tadellos entgegen. Auch die Tür vom Kühlschrank ist zu. Ich kontrolliere auch gleich die Tür vom Vorratsraum. Mehrmals öffne und schließe ich sie. Hole bei dieser Gelegenheit eine Packung Kekse aus dem Vorratsraum und schmeiße dabei fast eine knallrote Vase vom Regal. Zärtlich streichele ich sie und entschuldige ich bei ihr für mein Missgeschick. „Kann ich eines der Handtücher da oben benutzen? Mein eigenes ist ziemlich dreckig“, höre ich plötzlich Lenas samtweiche Stimme aus dem Hintergrund. Erschrocken drehe ich mich zur Küchentür um. Sie steht dort barfuss, mit feuchten Händen und schaut verwundert auf meine rechte Hand, die immer noch die Vase streichelt. „Natürlich“, sage ich verlegen. Ich fühle mich ertappt. Aber Lena sagt außer „Danke“ nichts und geht wieder nach oben.
Ich verlasse die Küche. Drehe ich mich nochmals um, damit ich ihren akkuraten Zustand vor Augen habe. Ausatmen. Die Treppe! Der dritte Versuch. Lena! Doch dann wieder umkehren. Noch einmal Küche. Alles okay! Zur Sicherheit wische ich mit einem Papierküchentuch noch einmal über den trockenen Boden an der Spüle, um eventuelle Wasserpfützen, auf denen man ausrutschen könnte, zu beseitigen. Ich atme einmal tief durch, in der Hoffnung und beginne den vierten Versuch die rettende, obere Etage zu erreichen. Diesmal gelingt es mir.
Nun stehe ich erschöpft im Obergeschoss. In den Händen halte ich das Tablett. Die Badezimmertür steht offen. Verstohlen schaue ich hinein in die sterile, geflieste und wie ich feststellen muss lenalose Welt.
„Ich bin hier“, ruft sie. Sie steht in meinem Zimmer. Auf ihren Wunden kleben feuchte Papiertücher, durch die sich langsam das Blut frist. Wassertropfen glänzen auf ihrer Haut. Sie kommt mir noch hübscher vor, als eben auf der Straße.
In meinem Zimmer befindet sich praktischerweise nur das Nötigste. Ich wische einen massigen Weltatlas und mehrere GEO-Hefte von einem kleinen Holztisch, um das Tablett darauf abstellen zu können. Anschließen hebe ich den Weltatlas wieder vom Boden auf und streiche mit meiner Hand darüber, um mich, diesmal still, für meine Grobheit zu entschuldigen. Lena sieht zu. Ich fühle mich ertappt und schmeiße den Atlas auf´s Bett. Genau wie die GEO-Hefte.
„Setz dich“, sage ich und zeige auf einen der beiden Sesseln im Raum Aus einem blauen Metallkasten fördere ich Verband, Mullbinden und Pflaster zu Tage, mit denen sie sorgsam ihre Verletzungen beklebt.
„Das heilt schon wieder“, sagt sie zuversichtlich.
Ich will ihr Wasser einschenken. Drehe den Verschluss der Flasche ab und fahre mehrmals über das Gewinde um zu kontrollieren, dass nichts abgesplittert ist. Appetitlich stecke ich meinen Finger hinein und fahre damit einmal die Innenseite ab. So, wie ich es bei Glasflaschen immer mache. Als ich Lenas Blicke spüre ziehe ich ihn schnell wieder raus. Ich schenke ihr ein, stelle die Flasche ab, muss sie aber noch einmal mit einem Finger berühren, um ihre unzweifelhafte Standfestigkeit zu überprüfen und sie näher zur Apfelsaftpackung zu schieben, damit sich die beiden Getränke wie zwei Menschen näher kommen können. Es soll schön sein, wenn man sich nahe kommt, habe ich einmal gehört. Die Flasche kippt um und reißt die Apfelsaftpackung mit. Die beiden Flüssigkeiten vereinigen sich auf dem Tisch zu einer kalten, sprudelnden, fahlgelben Flüssigkeit, die anfängt an auf den Laminatfußboden zu tropfen. Lena springt erschrocken auf. Ich greife die Küchenrolle und ziehe hastig mehrere Blätter davon ab. „Tut mir Leid“, sage ich. „Kann ja passieren“, sagt Lena. „Wenn du Glück hast gibt’s keinen Fleck.“ Ich sehe in ihre blauen Augen und mir ist es zum ersten Mal seit langem in meinem Leben scheiß egal, ob es einen Fleck gibt oder nicht.
Ich will einen zweiten Versuch uns beiden einzuschenken. Diesmal kommt sie mir zuvor und gießt ein. Sie trinkt einen Schluck, lehnt sich zurück, streicht zufrieden über ihre bepflasterten Wunden und beginnt zu erzählen. Vom extrem heißen Wetter, von ihrer dreizehnjährigen Schwester die auf Tokio Hotel steht und wie besessen ihr Zimmer mir Postern von dieser Band tapeziert. Von ihrem Vater, der als Korrespondent einer Zeitung von einem sinnlosen Krieg zwischen zwei kleinen Küstenstaaten berichtet. „Schrecklich, nicht wahr?“, sagt sie und trinkt. Ich nicke zustimmend und trinke auch einen Schluck. Ich bin froh, dass sie es ist, die redet und nicht ich mich damit abquälen muss, für Gesprächsstoff zu sorgen.
„Und, was geht bei dir so ab?“ fragt sie. „Nichts besonderes“, antworte ich. „Ich versuche mein Leben zu leben“, sage ich, während ich aufstehe, die GEO-Hefte vom Bett nehme und sie sorgsam ins Regal, zu den anderen Ausgaben, die ich sonst noch besitze, stelle. „ Was machen deine Eltern so?“ „Meine Eltern gehören zu den Statisten in meinem Leben“, sage ich. „Mein Vater ist nie da und meine Mutter hat die Sorgfalt neu erfunden.“ Ich trinke eine Schluck und fahre fort: „Spätestens nach dem Abi haue ich von hier ab. Rauß in die große weite Welt“, sage ich und sehe dabei verträumt auf mein Neuseelandposter über dem Bett“ „Verstehe“, sagt Lena. Ich setzte mich ihr gegenüber auf einen Pappkarton und fixiere sie. Schweigen. Ich kann ihr nicht sage, wie toll ich es finde, dass sie jetzt hier sitzt, geschweigen denn davon, daß ich etwa in sie verliebt wäre.
Ein Blick auf die Armbanduhr. Sie stellt fest, dass sie gehen muss. Der nächste Zug fährt in einer Viertelstunde. „Ist doch eh immer verspätet. Außerdem sind es von hier aus nur ein paar Schritte bis zum Bahnhof“, lüge ich. Sie schüttelt den Kopf, trinkt ihr Glas leer und zieht sich ihre Sandalen wieder an. „Ich muss jetzt leider wirklich gehen. Du kannst mich zum Bahnhof bringen. Ich kenne nämlich von hier aus den Weg nicht.“
Ich bin ihr unendlich dankbar für dieses Angebot, allen Kontrollen, die mich erwarten werden, zum Trotz. Es kribbelt in meinem Magen. Wir verlassen mein Zimmer. Ich schließe die Tür und rüttelte mehrmals kräftig an ihr. Lena sieht mir zu und sagt „Komm jetzt, Tom! Sie ist zu.“ Lena greift mich am Ärmel und zieht mich zur Treppe, während ich noch einmal einen wehmütigen Blick zurückwerfe.
Draußen am Zaun steht der vornehme Nachbar. „Guten Tag Herr Schneider. Was macht denn so der Ferienjob? Verdient man gut als Fahrradkurier.“ Lena sieht mich an und fängt an zu prusten.
Wir nehmen mein Fahrrad. Lena setzt sich auf den Gepäckträger. Ich spüre, wie sich ihre Hände an meinen Hüften festhalten. Umdrehen geht jetzt nicht. Noch immer diese senge Hitze. Flimmern auf der Straße vor uns. Minuten später stehen wir auf dem Bahnsteig.
Von irgendwoher kommt das Surren eines Rasenmähers. Es riecht nach frisch gemähtem Gras. Vor einem roten Signal steht ein endlos erscheinender Güterzug und wartet auf die Weiterfahrt. Leise summt der Elektromotor in der roten, kastenförmigen Lok.
„Danke für noch mal“, sagt Lena, während auf den blauen Anzeigentafel ihr Zug angekündigt wird. „Es war ja meine Schuld“, sage ich. Während ich in Gedanken noch einmal de Nachmittag durchgehe, presst Lena einen kleinen Schmierzettel an eine Werbetafel und schreibt etwas drauf. Ich kann nicht sehen, was es ist. Als sie damit fertig ist, kündigt eine krächzende Stimme über die Lautsprecher die Regionalbahn an. Bald darauf schiebt sich ein roter Triebzug heulend in den Bahnhof rein. Türen öffnen sich. Menschen steigen ein und aus.
Bevor Lena einsteigt drückt sie mir ihren zusammengefalteten Zettel in die Hand. Sie sagt: „Machs gut!“. Dann zwinkert sie mir zu, winkt und verschwindet im klimatisierten Inneren des Zuges.
Als der Zug den Bahnhof verlassen hat, entfalte ich den Zettel.
Dreh dich nicht um, steht dort säuberlich geschrieben. Darunter eine Handynummer.
SR