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Zwei Tage
Seltsam, dachte Georg. Jetzt wo sie mich so traurig ansieht, hätte ich Lust noch einmal mit ihr zu schlafen. Er rauchte einige Zigaretten aus dem Fenster und sagte nichts. Er hatte ihr gesagt, dass er gehe. Daraufhin hatte sie die Kissen am Sofa neu geordnet, sich gesetzt und die Arme über die Knie gekreuzt. Sie sah ihm einfach nur beim Rauchen zu. Es drängte ihn zu sagen, dass er nicht für immer gehe, dass sie das nur falsch verstehe – doch er überlegte. Es war eine Gelegenheit: Er hatte jetzt die Möglichkeit einfach Lebewohl zu sagen, aus der Tür zu gehen und das war’s! Die Frage stand im Raum wie ein kalter, nasser Sack. Er hatte die Wahl, er hatte ja immer die Wahl.
Klaras Wohnung war nicht groß, sah aber aus wie aus dem Katalog. Kamen Gäste, bat Klara sie die Schuhe auszuziehen und ließ daraufhin einige Sekunden vergehen, um die Einrichtung auf die Gäste wirken zu lassen – bis diese sich umsahen und höflich sagten, wie schön es hier doch sei. Es gab den Esstisch, einen Raumteiler und sogar einen alten Holzschrank. Wenn sie gekocht hatte, rüttelte Georg die verzogenen unteren Schubladen des Schrankes auf und holte entweder die roten oder die weißen Filzunterleger raus. Dann sperrte er mit dem kleinen silbernen Schlüsselchen die Schranktür auf, um an die Teller ranzukommen, sperrte dann wieder ab, usw.
Er war gern in ihrer Wohnung. Sie lag in einem Stadtteil, in dem sonst keiner wohnte, den er kannte – er fühlte sich hier irgendwie unbeobachtet. In der kleinen Küche kochte sie Gemüseauflauf – Zucchini mit Käse überbacken. Es war nicht schlecht hier. Nur die Teller wären besser in einem normalen Fach in der Küche aufgehoben gewesen.
Ohne ihn anzusehen sagte sie nur: „Wenigstens war es ein schöner Sommer“.
Fünf Wochen, dachte er. Doch ja, es war ein schöner Sommer.
„Ich gehe ja nur …– ich muss halt“, sagte er schließlich.
Sie blickte ihn jetzt nicht mehr an, sah nur nach oben an die Zimmerdecke; die Schwerkraft sollte dabei helfen, die Tränen zurückzuhalten. Er lehnte am Fensterbrett anstatt sich zu ihr zu bewegen. Zu viele Sekunden vergingen. Er überlegte immer noch, ob er die Chance ergreifen sollte – doch etwas hielt ihn zurück. Schließlich ging er auf sie zu und umarmte sie. Sie umarmte ihn auch.
„Hast Du jetzt gedacht ich mache Schluss?“, sagte er spöttisch, während er sich neben sie setzte.
Ihr Körper war warm und erregt. Fast so wie vorhin, dachte er, als er sich - naja, wie ein einsamer Matrose in ihr entladen hatte. Er schämte sich für seine Gedanken, schließlich war sie jetzt traurig - vielleicht auch verletzt?
Plötzlich stand sie mit einem Ruck auf und ging nun selbst zum Fenster, um sich eine Zigarette anzuzünden. Sonst musste immer er ihr das Feuer hinhalten – diesmal tat sie es selbst.
„Ich kann das so nicht mehr“, begann sie, der Rauch drängte beim Sprechen aus ihrem Mund.
„Ich merke einfach, dass Du Dir nicht sicher bist. Die ganze letzte Zeit warst Du mal gut drauf, richtig überschwänglich – und dann wieder so in Gedanken und auch so abweisend."
Ihre Stimme beruhigte sich – jetzt wo sie es endlich gesagt hatte. Sie schnippte die Asche aus dem Fenster und sah hinaus. Draußen summte die Straßenbahn heran. Georg widersprach nicht. Sein schweigender Blick schien sie zu bestärken in einem Entschluss, den sie gefasst hatte. Sie drückte die Zigarette aus und setzte sich wieder neben ihn.
„Hör zu Georg: Am besten ist es, wenn wir uns die nächsten zwei Tage nicht sehen. Du solltest mit irgendwem darüber sprechen und dir darüber klar werden, was Du eigentlich willst.“
Sie hatte ihre Fassung wieder und sprach fast mütterlich auf ihn ein. So sprach sie sicher auch mit Ihren Patienten in der Physiotherapie, dachte er. Sie hatte ein Problem erkannt und gab ihm nun noch eine Anleitung an die Hand, mit Übungen, um sein krankes Gemüt wieder in Position zu rücken. Sie war 27 und hatte Erfahrung im bemuttern von Patienten. Bei ihm in der Praxis war das nicht anders. Doch konnte er mit seinen Bohrern und Saugern auch die buchstäbliche Angst vor dem Zahnarzt schüren. Man hört mehr auf Menschen, die einem Angst machen, als auf die, die immer nett zu einem sind. Auch wenn er mit 32 Jahren noch recht jung war, mit einer gezielten Dosis Schmerz respektierten sie ihn alle: „So, das wird jetzt gleich etwas weh tun.“
Er sah ihr ins Gesicht. Ihre Augen sahen verquollen aus, doch ihr Blick war fest und offen für alles. Zwei Tage, dachte er. Die Entscheidung musste noch nicht getroffen werden, er musste sie noch nicht heute, noch nicht jetzt schon treffen. Das gefiel ihm.
*** Tag 1 ***
Am nächsten Tag in der Klinik hatte Georg ein gutes Gespräch mit Oberarzt Dr. Franke über ein paar Eingriffe, die er demnächst mal machen sollte. Es konnte zurzeit nicht besser laufen. Die Studenten, für die er Kurse gab, waren auch froh ihn zu haben und nicht den schmierigen Prof. Kolb oder die alte Hexe Angelika. Bei ihm waren sie gut aufgehoben – er war ihr Kumpel.
Ihr Name war Esther. Esther Xhe. Eine komische Eigenheit der Chinesen ihren Töchtern so unchinesische Vornamen zu geben. Sie war eine Schönheit und er musste immer an dieses ägyptische Zeichen für den Sonnengott Re denken: Durch die Schminke waren ihre Augen wie eine Welle geformt, eher noch rundlich doch sah man deutlich das Asiatische. Diese Augen beherbergten zwei kalte schwarze Perlen, die wie runde Grabsteine ihr Wesen verbargen. Vielleicht war sie nur schüchtern – doch ihre Blicke waren hart und unnachgiebig. Eine Narbe verlief horizontal unter ihrem linken Auge. Was auch passiert war, es musste schon lange her sein, denn die kleine Perforationslinie hatte fast die gleiche blass-weiße Farbe wie ihr Gesicht. Diese Narbe verlieh ihr noch mehr Unbeherrschtheit.
Esther machte in seinem Kurs nie einen Fehler. Sie hatte eine bestechende Intelligenz. Wenn er an sie herantrat und ihre Arbeit begutachtete, kam es ihm so vor, als würde der Dummy, in dessen Mundraum sie Kronen einpflanzte, deutlich mehr Leben in sich tragen als sie selbst. Er wartete nur darauf dass der Dummy sich aufrichtete und so etwas sagte wie: „Hey Kumpel! Die schwarze Witwe hier reißt mir aus reiner Bosheit alle Zähne aus und du stehst nur da!“
Wenn er mit ihr sprach durchbohrte sie Georg mit ihren Augen und nickte dann nur kurz. Üblicherweise hatte er als Kursleiter bei den Studentinnen einen Charme-Vorschuss - oder wie es der schmierige Prof. Kolb immer sagte, der Notenschlüssel könne bei ihm in der Hose eingesehen werden. Doch Esther durchschaute das natürlich und sie übte noch dazu Macht aus. Sie war von niemandem abhängig.
Am Abend aß er das erste Mal an diesem Tag. Der Schwierigkeitsgrad der Zubereitung der gefüllten Ravioli mit Fertigsoße lag irgendwo zwischen aufwärmen und Essen zusammensetzen – obwohl immerhin Wasser gekocht werden musste. Wenn er nicht alleine wäre, hätte er vielleicht gekocht. Wenn Esther heute Abend hier wäre, würde er ihr ein fulminantes Filet servieren, das ihr weißes Blut wieder mit Leben füllen würde. Doch sie war nicht hier. Und auch Klara war nicht hier. Ihm viel sein „Auftrag“ wieder ein. Er dachte jetzt das erste Mal an Klara. Er mampfte das Essen vor dem Fernseher in sich rein ohne den Blick von der Mattscheibe abzuwenden. Er war froh, dass Klara das nicht sah. Wäre sie hier, hätten sie nicht so ein Zeug gegessen, sie hätten am Tisch gegessen, und der Fernseher wäre aus.
Die Digitalanzeige seiner Stereoanlage zeigte 23.24 Uhr als er das Fernseh-Programm endgültig satt hatte. Fast eine Stunde hatte er eine Dokumentation über Raben gesehen: In Europa kommen der Kolkrabe, die Aaskrähe, die Saatkrähe und die Dohle vor. Die größeren Vertreter werden als „Raben“, die kleineren als „Krähen“ bezeichnet. Für Angelika in der Arbeit würde Aaskrähe gut passen, dachte er noch.
Er ging ins Bad und bemerkte dort Klaras Zahnbürste. Sie hatte auch Haarbürste, Deo und einige Cremes bei ihm. An der Haarbürste waren blonde Haare zu einem Knäuel verwoben. Plötzlich schnupperte er an der Bürste und sah sich im Spiegel dann selbst in die Augen. Welch schöne Augen ich doch habe, bemerkte er für sich. Er konnte den Blick nicht von sich lassen und sah benommen und träge auf seine Gesichtszüge. Man sah ihm sein Alter genau an. Jedem den er aus Spaß sein Alter schätzen ließ, schätzte ihn genau richtig: Zweiunddreißig. Er fühlte sich plötzlich befreit und leicht. Alles steht mir offen, dachte er. Niemand schränkt mich ein. Ich bin frei. Er rupfte die Haare aus der Bürste und warf sie in den Bad-Mülleimer. Klaras Sachen packte er in eine alte Einkaufs-Tüte.
*** Tag 2 ***
Er hatte eigentlich keine Lust gehabt auf die Party zu gehen. Doch er wollte nicht wieder so einen einsamen Abend verbringen. Er war schon am nach Hause gehen, rauchte nur noch eine mit den Kollegen, da kamen drei Mädchen – offenbar die Organisatorinnen der Party - kichernd auf ihn zu und drückten ihm die Einladung in die Hand. Nur ihm. Der verschmähte Prof. Kolb hatte die Augen verdreht und war wieder in die Klinik zurückgegangen.
Es war eine Semesterabschluss-Feier, wie er sie als Student oft genug erlebt hatte. Er wusste gleich wo der beste Platz an der Bar war. Früher kannte er noch das Bar-Personal und hatte umsonst was zu trinken bekommen. Auch wenn er jetzt Keinen mehr kannte, fühlte er sich nicht unwohl. Irgendwie wirkte nur alles nicht besonders studentisch. Alle waren viel edler gekleidet und viel ernster als noch zu seiner Zeit.
Esther: Er hatte sie erst nicht bemerkt, doch ihm wurde jetzt klar, dass er gehofft hatte sie hier zu sehen. Am anderen Ende der Bar erhaschte er kurz ihr Profil. Mit einem Strohhalm im Mund saugte sie an einem Cocktail. Sie war völlig anders als im Kurs. Sie trug ein sehr eng anliegendes Shirt, das ihre Brüste nicht gerade versteckte. Die Jeans bewusst ausgefranst und so eng anliegend, dass keine Visa-Karte mehr reingepasst hätte. Anders waren vor allem ihre Haare, die sie jetzt offen und nicht als Zopf trug. Sie hingen kerzengerade nach unten, schwarz glänzend und sie hatte ein Ponny, das nach der Art japanischer Schulmädchen die Augen gerade noch erkennen ließ. Sie sah völlig verändert aus.
Er bestellte Wodka-Orange, sein Standardgetränk, bei dem er sich sicher sein konnte, dass jede Bar der Welt die Zutaten dafür haben musste. Jemand sprach ihn plötzlich von der Seite her an:
„Hey, stark, Herr S. Sie sind ja auch hier! Finde ich super!“ Es war ein dicker Kerl mit Base-Cap und Ziegenbart. Er war laut und ordinär. Mit ihm blieben noch ein paar andere Leute stehen, die etwas gelangweilt – oder cool? – in die Gegend staken.
„Ja, klar, das kann ich mir doch nicht entgehen lassen“, antwortete Georg und hob sein Glas. Die Musik dröhnte so laut, dass Georg sich nicht sicher war, ob der andere ihn überhaupt verstanden hatte. Der stieß jedoch mit einer Bierflasche entgegen und grinste. Dann sagte er noch etwas, offenbar seinen Namen, doch Georg hatte nur „Schwabbel“ verstanden - und beließ es auch erstmal dabei.
Schwabbel kam nun näher ran und erzählte Georg laut ins Ohr, dass er die Party-Location organisiert habe und auch den DJ aus London usw. Georg wusste nicht, weshalb Schwabbel ihm das alles erzählte. Er plärrte ihm nur ins Ohr und Georg nickte ab und zu, während er sich umsah und den dritten Wodka-Orange in sich hineingoss. Schließlich drehte sich Schwabbel wieder zu den gelangweilten Coolen - nicht ohne nochmal mit der Bierflasche Georg entgegen zu stoßen. Georg sah sich nach Esther um - wo zum Teufel war sie nur hin?
Klara mochte diese Feiern nicht. Sie war mehr für Essen gehen – oder besser noch Käse-Zucchini auf Absperrtellern im winzigen Wohnzimmer serviert. Der Alkohol und der pulsierende Bass der Musik brachten Georg in Stimmung. Ein hübsches junges Mädchen blickte ihn lächelnd an, um über seine Schulter hinweg etwas beim Barkeeper bestellen zu können. Er fühlte sich stark – schließlich konnte er mehr bieten als all die Kerle hier. Ihm war schon gelungen, was die anderen hier noch vor sich hatten. Und wen interessiert schon, ob der DJ aus London kommt – wenn man so fett ist wie Schwabbel, dann muss man sich mit solchen Dingen aus der Masse abheben. Georg wusste, dass die Zukunft noch mehr für ihn bereithielt.
Er bestellte Wodka-Orange und sinnierte weiter. Er hatte sich damals entscheiden können: Jura, Medizin, Zahnmedizin. Er wäre immer erfolgreich gewesen. So erfolgreich wie beim Tennis – wo er kurz vor einer Profikarriere stand. Er bemerkte, dass er zustimmend nickte und sog daraufhin schnell an seinem Cocktail. Er ließ sich lange Zeit bei seinen Entscheidungen, das war ihm klar. Doch wusste er immer, dass er den richtigen Weg ging – er folgte einem geheimen roten Faden.
„Da kommt sie ja, die Königin der Nacht“, Schwabbel drehte sich plötzlich Georg zu und zeigte mit den Augen auf Esther. Georg fixierte sie erst, wollte sich dann aber Schwabbel gegenüber nichts anmerken lassen.
„Die Frau hat es in sich“, fuhr Schwabbel fort und legte viel Bedeutung in seine Mimik.
Sie blieb neben Schwabbel stehen, der sie überschwänglich begrüßte. Georg nahm ihr Parfum wahr.
„Du kennst doch bestimmt Herrn S.“, sagte Schwabbel ganz aufgeregt zu ihr. Sie stand ganz ruhig da und schlürfte an ihrem Cocktail.
„Ich heiße Georg“, sagte er und hoffte, dass sie ihn nicht siezen würde.
„Esther“, sagte sie nur kurz und röntgte ihn wieder mit diesen dunklen Augen.
„Hast Du Lust noch auf eine richtige Party zu gehen?“, fragte sie Georg schließlich.
Schwabbel blickte ihn von der Seite her an und sagte wieder mit so viel Bedeutung im Blick wie vorhin: „Wenn jemand weiß, wo die richtigen Partys laufen, dann Esther!“.
Georg saß mit einem der gelangweilten Freunde von Schwabbel hinten. Esther saß direkt neben ihm. Schwabbel fuhr, obwohl er auch nicht mehr ganz nüchtern sein konnte. In den Kurven drängten Esthers dünne Beinchen gegen Georg, ihr Parfum strickte einen flauschigen Schaal um ihn. Sie war unglaublich hübsch.
Schwabbel sah in den Rückspiegel und sprach Esther an: „Wird das heute wieder so eine Nacht, Schätzchen?“
„Hier Rechts du Idiot“, raunte sie ihn nur an.
Georg hatte Mühe, in der Kurve Esther nicht zu zerquetschen. Sie lächelte ihn jetzt zum ersten Mal etwas an.
„Du bist der Typ aus dem Kurs, stimmt’s?“, sagte Esther zu Georg.
„Ja, genau der Typ bin ich.“ Georg musste über die Frage lachen. Was sollte er darauf schon sagen? Findest du es nicht unvernünftig dich nicht anzuschnallen? Ihm viel nichts ein. Stattdessen nahm er einen tiefen Schluck aus der Weinflasche, die ihm Esther rüber gereicht hatte.
„Hey Mojo, was ist mit dem Zeug?“, sprach Schwabbel von vorne den gelangweilten Kumpanen neben Georg an.
„Kohle“, antwortete dieser wie in Trance.
„Hey Georg“, sagte daraufhin Schwabbel zu Georg. „Kannst du Mojo nicht etwas Geld geben?“
„Wie viel braucht er denn, ich habe nur einen Hunderter?“
„Das ist ok, du kriegst das Geld wieder“, versprach Schwabbel.
„Na gut, ok“, sagte Georg achselzuckend und kramte in seinem Geldbeutel herum.
Mojo steckte den 100€ - Schein von Georg kommentarlos ein. Esther grinste über beide Ohren. Georg versuchte seine Verwunderung etwas zu überspielen, was ihm nur schwer gelang. Er fühlte sich irgendwie fehl am Platz. Er begriff da etwas nicht: wollten die ihn verarschen?
„Wohin geht’s denn nun?“, sagte Georg schließlich zu Esther.
Sie musterte ihn eine Weile und erklärte dann ganz sachlich: „Wir fahren jetzt erstmal zu Mojo und trinken dort was. Dann treffen wir noch ein paar Freunde – und später gehen wir noch zu mir und dann ficken wir beide ein bißchen.“
Sie brach in lautes Lachen aus, Schwabbel und der andere grölten. Selbst der in Trance befindliche Mojo musste grinsen. Georg lächelte etwas gequält. Esther legte daraufhin ihre Hände auf seine Wangen und lächelte ihn an, wie um sich für den Scherz zu entschuldigen. „Ooch“ sagte sie, zog ihn dann jedoch an sich und küsste ihn heftig. Dann zog sie ihn nochmal an sich und sie küssten sich ganz sanft. Er befühlte ihre Hüften, sie hatte einen zierlichen Körper. Ihr Mund war weich, ihre Haut glatt. Er schmeckte den bitter-zähen Lippenstift und inhalierte das süßliche Parfüm.
Schwabbel raste und Georg musste sich in den Kurven an Esther festhalten, um sie weiter küssen zu können. Bei jeder Rechtskurve bummerte er mit seinem Kopf gegen das Seitenfenster. An einer Ampel – immerhin stoppte Schwabbel an Ampeln – hielten sie mit dem Küssen inne. Georgs Herz raste. Esther streichelte sein Gesicht und lächelte ihn an. Er lächelte zurück. Gleich, wenn er es wollte, würde er diese herrlichen Lippen noch einmal küssen. Er musste plötzlich an Klara denken. Wenn sie ihn jetzt sehen könnte - würde sie ihn umbringen – ja, das schon. Aber irgendwie würde er ihr das jetzt gerne zeigen: Eine wilde Fahrt durch die Nacht, Alkohol, vielleicht sogar Drogen und die heißeste Braut der Uni in seinem Arm. Er fühlte sich bestätigt, im Recht – glücklich. Er sah Esther an, die sich inzwischen entschlossen hatte, einen weiteren kräftigen Schluck aus der Weinflasche zu nehmen. Georg verspürte einen ganz eigenen Rausch.
Sie erreichten das Ziel, Mojos Wohnung. Esther nahm Georg an die Hand und zog ihn hinter sich her. Es war eine große Wohnung, eine 5er oder 6er WG. Alles war vollgekleistert mit Plakaten und witzigen Sprüchen oder Comics. Es waren viele andere Leute da, die aber kaum Notiz nahmen von den Neuankömmlingen.
„Geh schonmal in die Küche und nimm dir ein Bier“, sagte Esther fast lallend - sie war deutlich betrunkener als noch vorhin im Auto.
„Ich geh mit den Jungs rüber und hol dich dann wieder“, warf sie ihm beim rausgehen noch zu.
Georg nahm sich aus dem Kühlschrank ein Bier und ließ sich auf die Küchen-Eckbank fallen. Das Bier würde ihm guttun, dachte er. Er sollte nicht zu viel trinken - doch ein Bier würde ihm gut tun.
Ein völlig bekiffter Typ saß ihm auf einem Stuhl gegenüber. Er versuchte immer und immer wieder an einem Joint herum zu bauen. Der Joint schien nie zu passen, er machte den Joint wieder auf, klebte ihn mit Spucke wieder zu, betrachtete ihn und öffnete ihn wieder.
„Sie haben diese schwarzen Plastik-Raben hier aufgehängt“, nuschelte er.
„Hm?“, fragte Georg. Er hatte nichts kapiert.
„Sie wollen damit die Tauben im Hof vertreiben -“, er stockte, da er aufstoßen musste. Dann nuschelte er weiter: „- die Tauben waren mir lieber, auch wenn sie alles vollkacken.“
Georg sah aus dem Fenster. An Schnüren aufgeknüpft hingen dort schwarze Plastikraben.
„Das scheinen mir keine Raben sondern eher Krähen zu sein“, bemerkte Georg mehr für sich, als an den Kiffer gerichtet.
Plötzlich sprang der Typ jedoch auf Georg zu und packte ihn mit seinen gelben Fingern am Kragen. „Kackende Viecher sind besser als tote Viecher!“, sprotzte er Georg ins Gesicht.
„Hey Mann“, wehrte sich Georg. Der Typ sank wieder in seinen Stuhl zurück und lächelte mit seinen schmierig gelben Zähnen Georg an, besann sich dann aber wieder und bastelte an seinem Joint weiter. Diesmal schien ihm der Joint zu gelingen. Trotzdem machte er ihn wieder auf und begann von vorne.
Georg trank den Rest des Biers in einem Zug aus und ging aus der Küche.
Er suchte nach Esther. Die Zimmertüren waren überall offen. In allen Räumen saßen die gleichen „coolen“ Typen. „Esther?“, fragte er in die Räume hinein, doch keiner reagierte auf ihn. Im letzten Zimmer fand er sie schließlich doch. Sie saß auf Schwabbels Schoß und rauchte an einem Joint. Als Georg in das Zimmer trat, dreht sie den Kopf zu ihm und sagte nur: „Ooch Herr S. mein Schätzchen.“ Schwabbel sah Georg nicht an, er blickte einfach immer nur geradeaus. Mojo und der andere lagen in einem ranzigen Sofa umgeben von Qualm und kicherten benommen. Esther drehte sich träge Schwabbel zu und zog nochmal an dem Joint. Georg sah deutlich ihre Narbe im Gesicht. Sie war rötlich und deutlich zu sehen. Ohne Georg anzusehen sagte sie nur: „Du musst jetzt leider gehen, mein Schätzchen – heute ist erstmal mein Mann dran.“ Schwabbel hüstelte kurz, blickte aber weiter stur geradeaus.
Georg stand einfach nur da. Keiner schien ihn mehr wahrzunehmen. Er blickte sich in dem Zimmer noch einmal um, bis ihm plötzlich übel wurde. Er schwankte aus dem Zimmer und verließ die Wohnung – nicht ohne sich vorher auf dem WG-Klo noch zu übergeben. Unterwegs nach Hause brachte der Taxifahrer ihn an einem Geldautomaten vorbei. Er schlief den restlichen Vormittag.
***
Sie hatte einige SMS geschrieben, bis er Klara schließlich anrief und für den späten Nachmittag einen Treffpunkt im Park vereinbarte. Er war zu Fuß gegangen und nicht mit der U-Bahn gefahren, um möglichst viel frische Luft zu bekommen. Stimmen, Bilder und der Geruch von Esthers Parfum blitzen in seiner Erinnerung auf. Was sollte er Klara nur sagen?
Sie hatte sich fein gemacht, sie sah ganz wunderbar aus. Georg und sie umarmten sich, sie war sehr gefasst – aber auch sehr freundlich. Sie gingen ein paar Schritte und sie sagte schließlich: „Und? Worüber hast du die letzten zwei Tage so alles nachgedacht?“, sie lächelte ein wenig über diese schulmäßige Art der Abfrage.
Er lächelte auch. Sie war jetzt stark und selbständig. Und doch spürte er die Hoffnung, die sie in ihre Frage gesetzt hatte – die Hoffnung ihn, Georg an ihre Seite zu holen. Er blickte etwas in die Ferne und sagte schließlich: „Weißt du Klara, ich habe die letzten beiden Tage eigentlich richtig viel Spaß gehabt.“ Er sah sie an und plötzlich bekam er wieder Lust, wenigstens noch ein Mal mit ihr zu schlafen.