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Zweimal ausgeatmet

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16.03.2013
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Zweimal ausgeatmet

Die Nacht legt sich wie ein kalter Schal um ihren Hals. Ihre Schritte hallen von den beschmierten Wänden der Unterführung zurück. Eine einsame Lichtfunzel lässt ihren langen Schatten wachsen. In ihrem Kopf nur eine Frage: Wie konnte sie nur um diese Zeit an diesen unheilvollen Ort gelangen? Sie beschleunigt ihren Gang. Da war doch ein Rascheln in der Ecke gewesen, vielleicht nur eine Ratte? Oder war es doch ein übler Kerl, der sich gleich auf sie stürzen und zu Boden werfen wird? Ihr Pulsschlag hämmert in den Ohren. Sie rennt, nein, sie rennt um ihr Leben. Nur weg von hier, nur weg!


Er hat den Modellkasten feierlich vor sich aufgestellt. Er mustert jede Einzelheit der Verpackung. Vorsichtig durchtrennt er mit dem Cuttermesser die Klebestreifen an den Kartonseiten. Er lässt den Deckel von der Schachtel gleiten. Seine Augen leuchten beim Anblick der abgepackten Plastikteile.


Sie ist ausgerutscht, liegt nun auf dem Pflaster wie auf einem Präsentierteller. Ihr Knöchel schmerzt. Ist es jetzt so weit, wird er jetzt sein garstiges, grinsendes Gesicht aus dem Schatten heraus offenbaren? Ist er nicht vielleicht schon hinter ihr und streckt seine Arme gierig nach ihr aus? Sie dreht langsam den Kopf. Die feuchte Luft lässt ihren Atem sichtbar werden. Kein Geräusch ist zu hören.


Mit beiden Händen öffnet er die Cellophanhülle. Er atmet den Geruch des Kunststoffes ein. Behutsam lässt er das Gitter mit den Teilen herausgleiten. Er mustert die Details und fährt sie mit dem Finger nach. Bald hat er so sämtliche Modellteile vor sich ausgebreitet. Er beginnt sie im Geiste zusammenzusetzen.


Da steht er am Ende des Tunnels. Ohne Regung blickt er sie an. Jäger und Beute, Aug in Aug. Und allmählich setzt er sich in Bewegung. Ganz sachte wie eine Raubkatze. Sie kann sich nicht regen. Den Körper wie gelähmt, liegt sie da. Was macht es jetzt noch Sinn zu fliehen? Wer hätte ihr beistehen können, gegen so eine Übermacht des Bösen? Ihr angsterfüllter Schrei hallt hinaus in die Nacht.


Er studiert den Plan und sucht die passenden Farben aus einer Kiste. Mit Rot wird er beginnen. Er öffnet das Döschen und taucht den Pinsel tief in die ölige Farbe ein. Strich für Strich bemalt er den ersten Flügel, dann den zweiten und legt die Teile anschließend zum Trocknen auf das Fensterbrett. Vorsichtig pustet er über die Oberfläche. Dann knipst er die Schreibtischlampe aus und verlässt den Hobbyraum, um morgen weiter zu arbeiten.


Sie erwacht schweißgebadet, sitzt aufrecht im Bett. Sie macht das Licht an. Ihr Herz rast. Die Augen weit aufgerissen, blickt sie ins Leere, dort wo vor Sekunden noch seine Fratze war. Sie atmet tief durch, als ihr bewusst wird, dass sie in Sicherheit ist. Der Wecker zeigt 1.30 Uhr mit roten Leuchtziffern an.


Er ist die Treppe hochgegangen, betritt die Küche und öffnet den Kühlschrank, um noch einen Happen zu essen. Danach macht er sich fertig zum Schlafen. Er blickt auf die Uhr, es ist jetzt 1.30 Uhr. Dann schließt er die Augen, atmet tief ein. Ein leises Knacken im Schädel verrät, dass das Aneurysma geplatzt ist. Mit einem Seufzen entweicht die Atemluft das letzte Mal aus seinen Lungen.

 

Ab 50 wird jeder Tag im Leben ein Geschenk,

hallo Cybernator,

das Aneurysma liegt als Todesgefahr über diesem Paar. Zwei Bewältigungsmöglichkeiten zeigt Deine Geschichte: Der Mann bastelt sich symbolisch gesund (hofft es vielleicht), die Frau träumt die Gefahr, unter der ihr Leben mit dem Tod des Mannes, dem sie in der Unterführung begegnet, steht.
Eine existenzielle Situation hast Du gut auf den Punkt gebracht. So werden viele Situationen bewältigt, homo faber und „Seherin“.
Warum steht die Geschichte als Experiment da?
Sie ist sprachlich passend gefasst, verständlich erzählt und leicht zu lesen (für mich jedenfalls).

Kleinigkeiten

gierigen Arme
Gibt es nicht.

Sie dreht langsam den Kopf. Die feuchte Luft lässt ihren Atem sichtbar werden. Kein Geräusch ist zu hören. Rasch blickt sie sich um.
Den Ablauf genauer schildern: Langsam - rasch?

Er beginnt KOMMA sie im Geiste zusammen zu setzen.

zusammen zu setzen.
zusammenzusetzen

Jäger und Beute, Aug in Aug.
sehr pathetisch

sitzt sie da
Wieso sitzt sie nun plötzlich? Liegt!

knipst
Wiederholung

Deine Geschichte könnte man beinahe unter Totentanzgeschichten einreihen. Sie macht nachdenklich, insofern gut gelungen.
Der Titel könnte knackiger sein.
Herzlichst
Wilhelm

 
Zuletzt bearbeitet:

Für den einen bedeutet Alter Würde, für den anderen eine Schande.

Guten Morgen Wilhelm!

Warum steht die Geschichte als Experiment da?

Ich habe die Geschichte wegen ihres Aufbaus bei Experimente reingestellt.
Keine Ahnung, ob das für die Rubrik genügt, auch nach dem Lesen einiger Beiträge. Aber die Geschichte hat für mich eben experimentellen Charakter.

Ich wollte der bewegten Unterführungsgeschichte einen stillen, in sich ruhenden Part gegenüberstellen und die beiden miteinander spielen lassen. Das Gefährliche und das Harmlose sollten dann am Ende auf einmal die Rollen tauschen. Nach meiner Interpretation sollte sich der Modellbauer seiner Lebensgefahr auch gar nicht bewusst sein.
So ergibt sich eine paradoxe Situation.
Der eine Atem zieht das Leben ein, der andere lässt es entweichen.
Deshalb der Titel, der wiederum auf den Aufbau deutet, der das Ein- und Ausatmen symbolisieren soll.

Vielen Dank für deine Verbesserungsvorschläge und der Beschäftigung mit dem Text!

Liebe Grüße
Cybernator

 

Servus Cybernator,

der erste Absatz macht hier wirklich Lust auf mehr. Die Parts mit dem Modellbauer sind auch gut gewählt. Auch wenn sie nicht spannend sind, verleihen sie dem eigentlichen Geschehen im Tunnel so eine Art Cliffhanger-Charakter. Anfangs dachte ich, der Typ sei ihr Verfolger, und dort wird beschrieben wie er die Waffe zusammenbastelt, mit der er ihr den Garaus machen will. Doch es kam dann ganz anders. Die gescheiterte Flucht im Tunnel entpuppt sich dann als Traum. Davon bin ich nicht wirklich ein Fan. Mir ist schon klar, was du bezwecken wolltest, nur finde ich, dass Träume eben nie so erlebt werden können. Hier z.B.:

In ihrem Kopf nur eine Frage: Wie konnte sie nur um diese Zeit an diesen unheilvollen Ort gelangen.
Stell ich mir in einem Traum wirklich eine solche Frage? ? statt . außerdem. Besonders zu welcher Zeit. Im Traum spielt Zeit doch gar keine Rolle. Ich kam mir etwas verarscht vor. Da lese ich wirklich so spannende Zeilen und freue mich auf das Zusammentreffen von Katze und Maus, und darauf, wie die beiden Handlungsstränge ineinander verlaufen. Aber dann kommt die typische Ausflucht: Haha, sorry Leute, war nur ein Traum. Na ja. Ich übertreibe. Aber ich fand die Spannung echt gut aufgebaut, deshalb ärgert mich das ein wenig.

Der Pulsschlag ihres Herzens, er rast schneller als ihre Schritte es tun.
Da passt das Verb nicht. Sie rast vielleicht. Aber ihre Schritte? Das solltest du anders formulieren.

Ganz sachte, wie ein Raubkatze.
Eine Raubkatze. Außerdem würde ich das Komma rausnehmen.

Der Wecker zeigt 1.30 Uhr mit roten Leuchtziffern an.
Finde ich überflüssig.

Ich hab ihn gern gelesen, deinen Text, auch wenn das Ende nicht ganz meinen Erwartungen entsprach. Wenn du mal etwas unter Spannung/Krimi reinstellen würdest, wäre ich sofort dabei, denn es gelingt dir wirklich gut, bei dieser Kürze ordentlich Thrill aufzubauen.

Noch ein schönes Wochenende.

Hacke

 

Hallo Hacke!

Ich lasse deine Einwände voll und ganz gelten. In der Traumebene laufen die Dinge schon ein wenig anders.
Aber dieses Gefühl von:

Wie konnte sie nur um diese Zeit an diesen unheilvollen Ort gelangen?
kann durchaus geträumt werden. Gerade solche Alpträume zeichenen sich doch durch Ausweglosigkeit und Zuspitzung von Gefahrensituationen aus. Wenn man sie jetzt in eine Kurzgeschichtensprache verpacken will, sollte dem Leser das Geschehen genauso real vorkommen, wie dem Träumenden.
Naja, zu doof, dass der Kleinen dann doch nichts passiert.;)
Diese roten Leuchtziffern haben mir es schon als Kind angetan. Sorry, die dürfen bleiben.

Vielen Dank für deine Kritik(en) und ich muss mich jetzt bei dir auch stellvertretend mal ein bisschen dafür entschuldigen, dass ich selbst so wenig Kritik abgebe. Ich tue mich da aus verschiedenen Gründen ein wenig schwer!

Grüße
Cybernator

 

Hallo Cybernator

Also mir gefiels und gemäss deiner Intention darf der Text ruhig in Experimente stehen. Manchmal kommt halt etwas rundes, lesbares dabei heraus und das tut dieser Rubrik ganz gut.
;)

Ich fand die Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Szenarien reizvoll, da am Ende zwar ein gemeinsamer Kontext zu finden ist, allerdings mit völlig konträrem Ausgang.
Gleicher Wermutstropfen wie bei Hacke: Die (Teil-)Auflösung mittels Albtraum, ich fand hier die bewusste Irreführung des Lesers auch schade, das braucht der Text gar nicht. Denn auch mir ging es so, dass ich einen Zusammenhang zwischen angeblichem Opfer und Täter knüpfte, der Twist mich dann aber eben nur halb überraschte. Mir hätte da eine reale Gefahr, die sich "in Luft auflöst" ;) besser gefallen. Vielleicht kannst du dich dafür nocherwärmen?

So oder so, dein Twist-of-Tail-Text hat mich gefangen genommen und das ist immer ein gutes Zeichen.
Gruss dot

 

Hallo dotslash!

Ich finds sie ja auch schade, die billige Alptraumauflösung. Ich geb's zu, ich hab selbst ein bisschen Angst dort unten in der Unterführung bekommen und da wollt ich halt so schnell wie möglich wieder raus. Es war eine Art Notbremse.
Ich hab bei dem Ding nicht so die Kontrolle gehabt, habe mich deshalb wohl selbst unbewusst irregeführt.
Das Ganze dann irgendwie sinnvoll zu verkaufen, mit dem Atmen und so, war auch nicht sehr schwer. Sorry, aber ich üb ja noch.:shy:

Ich werde jedoch so einen Gedanken nicht los: Vielleicht war es ja doch kein Traum gewesen?

Grüße
Cybernator

 

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